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Der Zauberer von Os

Von Franz Zauner und Gerald Schmickl

Reflexionen
Ein umsichtiger Steuermann seines Lebens: Willy Puchner, der am 15. März 70 Jahre alt wird, mit seinem Kater Tiger.
© Puchner

Zum 70. Geburtstag des Fotografen, Zeichners, Autors und Lebenskünstlers Willy Puchner.


Wenn einer sein siebzigstes Jahr vollendet, sollte man nicht gleich aufhören, ihn jung zu nennen. Willy Puchner wird 70, aber er hat es nie unterlassen, mit seinem inneren Kind zu spielen. Er lässt es schon ein Leben lang zu, schickt es in ferne Länder, auf Phantasiereisen und in die Wunderkammern seiner Kreativität. Und seit einiger Zeit zieht es ihn öfter in ein kleines Zimmer seines geräumigen Bauernhauses.

Dort steht eine digitale Nähmaschine wie ein zierliches Tierchen in seinem Stall. Der kluge Apparat ist mit einem automatischen Komfort-Nadeleinfädler ausgestattet, wie Willy - wir dürfen ihn so nennen, er begleitete die "Wiener Zeitung" jahrzehntelang als multipler Foto- und Galerieseiten-Mitarbeiter und dient ihr immer noch als Kolumnist - freudig ausführt. Denn so ein Zwirn ist reichlich dünn, und die Augen werden nicht besser. Willy Puchner schätzt es, dass sich das Gerät quasi von selbst scharf macht und dem Künstler das lästige Einfädeln abnimmt.

Nähen als neue Leidenschaft...
© Willy Puchner

Er näht also seit Neuestem. Es geht ihm dabei vor allem darum, Stoffe und Ideen miteinander zu verbinden. Er bestickt die Phantasiegestalten seiner Bilder, und die freuen sich sichtlich über ihren textilen Schmuck. Der neue Zugang und ein kürzlich absolvierter Nähkurs bescherte dem Foto-, Bild-, Mal- und Objektkünstler seinen x-ten Frühling.

Neugier ist eines seiner Prinzipien, einer der roten Fäden, die sein Leben durchziehen: "Ich möchte nicht bei dem bleiben, was ich schon kann. Es passiert mir immer wieder, dass ich etwas nicht kann, aber dazulernen möchte. Ob das jetzt die Arbeit mit Holz ist oder mit Textilien, das Schreiben oder Malen oder Zeichnen, ich habe mir immer gedacht: Was ich nicht kann, interessiert mich."

Das klingt nach Sprunghaftigkeit, aber Puchners Werk ist eher von ruhigen Verläufen gekennzeichnet. Es entfaltete sich konsequent entlang visueller Achsen, deren Ausgangspunkte im elterlichen Fotogeschäft in Mistelbach zu finden sind. Als 14-Jähriger kam er nach Wien, besuchte die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt. Dort widerfuhr ihm "das Glück, zweimal durchzufallen, ich durfte also lange in dieser Schule bleiben". Und das hat, wie er fand, seiner künstlerischen Entwicklung gutgetan, denn der kreative Prozess braucht Zeit.

Und diese Entwicklung war dann doch mäandernd genug, um eine Definition von Puchners Künsten schwer zu machen. Er begann als Fotograf mit Hang zum Seriellen und entwickelte sich zu einem malenden und zeichnenden Buchhalter der Phantasie. Beweglich und stets in Bewegung, ausgestattet mit einem kaleidoskopischen Blick, der alle Aspekte dessen, was es für ihn in der Realität und in der Imagination zu schauen gibt, in Wunderkammern einfängt, in Materialbüchern sortiert, in Bildern verewigt, in "Briefwelten" bündelt und verschickt - und in Texten feiert. Künstliche Räume und Refugien, bevölkert von Lebewesen aller Art (von Prinzessinnen und Prinzen bis zu seinem geliebten Kater, mit dem er das Bauernhaus und seine umliegenden Höfe und Gärten teilt und dem er sein jüngstes Buch, "Mein Kater Tiger", gewidmet hat), sind Konstanten in seiner künstlerischen Entwicklung. Er betreibt Selbsterkundung und Weltdarstellung in einer untrennbaren Mischung.

"Mein Kater Tiger"
© Denise Love

Willy Puchner ist ein ruhiger Mensch, der behutsam spricht und sich bedächtig bewegt, wie man es sonst nur bei Piloten am Boden oder Seeleuten an Land beobachten kann. Man ist geneigt, ihm ein sanftes Zitat von Alfred Polgar anzuheften: Wo er hintritt, wächst Gras. Puchner ist ein umsichtiger Steuermann seines Lebens, das zeigte sich schon früh. Auf die Nöte der Pubertät reagierte er mit der Suche nach einem virtuellen Panic Room.

Er fand ihn zunächst in einem Garten. Eines seiner ersten Bücher, "Zum Abschied. Zur Wiederkehr" (1981), war diesem Garten gewidmet. Und das Buch im Jahr davor, "Bäume", rückte die Weisheit des Naturphilosophen und Grün-Eremiten Henry David Thoreau eindrucksvoll bebildert ins 20. Jahrhundert.

"Natur ist aber nicht das Einzige, worum es mir geht, ich suche immer auch den Zugang zu Menschen. Ich bin in einem Frauenhaus aufgewachsen, mit einem Kindermädchen, drei Schwestern, meiner Mutter und meiner Großmutter, zu der ich ein inniges Verhältnis hatte. Daher kommt mein Interesse an alten Menschen, woraus später Fotoprojekte entstanden sind - über die Neunzig- und die Hundertjährigen. Ich bin ja selbst auf dem Weg dorthin", sagt Puchner.

Prinzip Kaufmannsladen

Von seinem ersten Buch, jenem über "Bäume", wurden gleich 30.000 Exemplare verkauft, und er dachte sich, die Welt sei einfach. Das war sie natürlich nicht. Aber zu Hause, im Fotogeschäft im Mistelbach, wo seine Mutter nach dem frühen Tod ihres Mannes, Willys Vater, auf sich allein gestellt war, hat er seine Freude am Prinzip Kaufmannsladen entdeckt. Sich verkaufen, das ist für ihn keine lästige Verpflichtung, sondern gewissermaßen Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit. Und so hat er von seinem ersten Buch selbst auch gleich 1.800 Exemplare verkauft. Und er ist dem Prinzip der Selbstvermarktung seitdem treu geblieben, einer weiteren Art seiner vielfältigen Künste, geprägt von menschlichem Interesse, beständiger Geduld und hingebungsvoller Kommunikation.

Doch auch eine ruhige Art bewahrt nicht vor Krisen. Nach erfolgreicher Mitarbeit bei Zeitschriften wie "Stern" und "Geo" ereilte ihn eine "Auslöserkrise". Er konnte einige Jahre lang nicht mehr fotografieren. "Über Fotografie", die Essaysammlung Susan Sontags, brachte seine Nöte auf den Punkt: "Genau genommen lässt sich aus einem Foto nie etwas verstehen... Es ist eine Erkenntnis zu Ausverkaufspreisen - ein Abklatsch der Erkenntnis, ein Abklatsch der Weisheit."

Ein Philosophiestudium später, das er mit einer Arbeit über private Fotografie abschloss, fand Puchner einen Ausweg, den man wieder mit einer Erkenntnis von Susan Sontag einleiten könnte: Die Fotografie entwickelt sich, schreibt die (2004 verstorbene) US-amerikanische Essayistin, "zum Zwillingsbruder der kennzeichnendsten aller modernen Aktivitäten: des Tourismus."

"Wohnung auf Reisen": Aus dem "Materialbuch Japan"
© Willy Puchner

Puchner enthüllte die Zwillingsbrüder charmant zur Kenntlichkeit. Er ironisierte die anschwellende private Bilderflut mit zwei Polyesterharz-Geschöpfen, den Pinguinen Joe und Sally. Irgendwie schaffte er es, den Traum jedes Massentouristen zu verwirklichen und die Pinguine mit umgehängtem Fotoapparat für einen Sekundenbruchteil allein, frei und ungestört an zentralen Sehnsuchtsorten auftauchen zu lassen, vor dem Eiffelturm, der Seufzerbrücke oder auf dem Empire State Building. Heute sieht er den Welterfolg, den er damals - 1992, also vor heuer exakt 30 Jahren - damit hatte, nur noch als biographische Station auf seinem Weg.

Malfarben und Buntstifte wurden als Reisebegleiter wichtiger als Fotoapparate. Er veredelte damit simple Schreibhefte zu "Materialbüchern". Sie machten die folgenden Projekte, egal ob auf Reisen oder daheim, zu schillernden Fundgruben der Puchner’schen Bilder- und Grafiklust: Stempel, Zitate, Listen, Skizzen, Betrachtungen, Karten wurden zum Interieur seiner "Wohnung auf Reisen", wie er seine Materialbücher nennt. So schlug er buchstäblich neue Seiten auf. Einmal saß er im Hauptbahnhof von Mumbai, durch den täglich abertausende Menschen hasten. Mitten in diesem Menschenstrom zeichnete er eine Materialbuchseite. Er mag solche Experimente, mit ihm selbst als Versuchsperson: "Die Freude am sogenannten Kreativen ist bei mir, dass ich in meinen Bildern, Texten und Objekten selber enthalten bin. Ich versuche, in meinen Bildern anwesend zu sein, und dafür muss ich auch aufrichtig sein. Geglückt ist eine Arbeit für mich dann, wenn ich sehe: Da bin ich drin, das bin ich. Natürlich codiert und transformiert, in Licht, Farbe, Worte."

"Die Freude am sogenannten Kreativen ist bei mir, dass ich in meinen Bildern, Texten und Objekten selber enthalten bin . . .": Selbstporträt des Vielseitigen.
© Willy Puchner

Der Geist der Materialbücher hat sich dann auch in seinem Bauernhaus materialisiert, das mit kleinen Oasen ausgestattet ist: einer Sonnenecke im Innenhof, einem Hochstand zum Vor- und Nachdenken und einem kleinen "Tempel der Verehrung", der von wechselnden figuralen Ensembles besetzt wird und aus dem derzeit ein kleines blassrosa Schweinchen freundlich herausschaut. Aus dem Panoramafenster des Bauernhauses hat man einen schönen Blick darauf.

"Tempel der Verehrung" mit vorübergehendem Bewohner ...
© Schmickl

An diesem Ort im Burgenland verbrachte Willy Puchner fast lückenlos die Zeit der Pandemie, mehr als 600 Tage. Und er hat darüber, wie über nahezu alles in seinem Leben, Buch und vor allem Listen geführt: die Anzahl der Tage, der Schritte, der Kontakte. Ob es da einem chronisch Reisenden nicht zu eng wird? In der Corona-Einsamkeit unterwarf er sich einer strikten Übung: Täglich holte er sich mindestens drei Menschen ans Ohr, und alle zehn Tage redete er mit jemanden, mit dem er noch nie oder sehr, sehr lange nicht mehr geredet hatte.

Auch wenn das Virus verschwinden sollte, möchte er gegenwärtig nicht anders leben als so: "Ich lebe ein Glückskind-Dasein. Ich bin zufrieden, und wenn ich eine Vorstellung von etwas habe, dann erfüllt sie sich in zwei, drei Wochen. Das bezieht sich natürlich nur auf Winzigkeiten, auf kleine Wünsche, einen Schüleratlas etwa, der mir dann zufällig auf einem Müllplatz in die Hände fiel, oder einen Vogel, den ich wieder einmal sehen wollte. Es ist wie Zauberei, ich fühle mich wie der Zauber von Os - das steht für Oberschützen, der Ort, in dem ich wohne."

"Ich lebe ein Glückskind-Dasein": Willy Puchner auf seinem Hochstand.
© Puchner

Auf dem Land begegnet er Leuten, spricht sie an, geht mit ihnen ein Stück. "Das interessiert mich an Menschen, und danach frage ich immer wieder: Wer bist du, wo gehst du hin, wie geht es dir?" In Oberschützen wurde er von einem Makro- zu einem Mikroreisenden. "Das Gefühl der Erneuerung lässt sich auch in einem engen Koordinatensystem erfahren." Dennoch fehlt ihm etwas: "Reisen beinhaltet auch den Aspekt des Sich-fremd-Fühlens. Das vermisse ich manchmal. Du kommst wo hin und kennst dich einfach nicht aus. Die Menschen denken anders und reden anders. Das Sich-zurechtfinden ist eine Erfahrung, die ich vermisse." Ein kleines Gefühl von Fremde erlebt er natürlich immer wieder auch auf dem Land.

Und dann ist da noch die "Briefwelt", in der Willy Puchner seine Lust am Kommunizieren auf dem Postweg auslebt. Er verschickt und verschenkt selbstgemalte, neuerdings auch bestickte visuelle Glanzlichter. Die Adressaten erleben diese Handreichungen als elektrisierende Grüße aus der Ferne, inspirierende Meisterwerke einer Menschlichkeit, die einen Kunst als Wohltat erfahren lassen.

"Die Farben des Dorfes" aus der Serie "Puchners Farbenlehre" - mit seinem Bauernhaus . . .

Die Ruhephase in Oberschützen geht langsam zu Ende. Schon im letzten Jahr hat Puchner zahlreiche Workshops gehalten, er hält Vorträge und tritt auch in Schulen auf. Auch sonst hat er viel zu tun. Für unser "extra" schreibt er, wie gesagt, alternierend mit vier anderen Autorinnen und Autoren die Glosse "schwarz/weiß", in der er neue Verbindungen von Bildern und Texten ausprobiert. Das Publikum der "Frankfurter Allgemeinen" erfreute er in deren Reiseteil mit hundert Zeitungsseiten von "Puchners Farbenlehre". Nun folgen "Puchners Ansichten der Natur". Und so machte er das deutsche Lesepublikum unter anderem mit "Hansiburli" bekannt, einem Wellensittich aus seiner Kindheit. Der flog eines Tages zum Fenster hinaus und für immer fort. Willy und seine Schwestern waren darob sehr traurig. ",Weint nicht, Kinder‘, sagte seine Mutter, ,der Hansiburli ist sicher schon am Meer.‘"

Oase mit Karawanen

Seitdem, sagt er, liebe er das Meer. Und schon taucht im Gefolge von Hansiburli ein Materialbuch über Sittiche mit dem Titel "Melopsittacus undulatus" am Horizont auf. In der realen Welt verschwinden die Vögel, die Bestände gehen zurück. Willy Puchners Arbeit kann man also auch als Therapie gegen Gegenwartsverzweiflung verstehen. Der Blues, den er musikalisch liebt, senkt sich also keineswegs als dunkle Gemütsverfassung in seine Brust - da mögen die globalen Krisen in noch so aberwitzigem Tempo einander ablösen und überlappen, wie das derzeit ja erschreckend der Fall ist.

Auch dagegen hat Willy Puchner eine probate Immunisierungsstrategie entwickelt: "Ich schaue höchstens einmal im Monat Nachrichten. Ich habe aber ein Netzwerk von Informanten, die mich aus zweiter Hand aufklären. Oft sind allerdings auch sogenannte wirkliche Nachrichten nicht aus erster Hand, das soll ihre Wertigkeit aber nicht schmälern. Ich lebe in einer Oase, durch die Karawanen ziehen. Die Menschen, mit denen ich telefoniere, erzählen mir die wichtigsten Neuigkeiten. Sie haben unterschiedliche emotionale Grade, daraus ergibt sich eine Palette an Betrachtungen zwischen ängstlich und optimistisch."

Und aus dieser Palette schöpft Puchner seinen eigenen emotionalen Farbton, mit dem er der Welt gegenübertritt, die manche Tage aus nicht mehr zu bestehen braucht als aus dem Revier seines Katers Tiger.

Weitere Informationen:

https://www.willypuchner.com