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Reisende durch Grauzonen

Von Barbara von Machui

Reflexionen
Cécile Wajsbrot erforscht in ihren Romanen die Schattenbereiche der Erinnerung.
© imago images / Christian Thiel

Ein Porträt von Cécile Wajsbrot, deren Roman "Nevermore" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.


Seit einigen Monaten hört man im deutschsprachigen Raum wieder die Stimme von Cécile Wajsbrot, dieser klugen, leisen französischen Schriftstellerin und Übersetzerin mit polnisch-jüdischen Wurzeln, die so häufig hinter dem Medienwirbel der Houellebecqs und Nothombs verschwindet. Für ihre grandiose Übersetzung von Wajsbrots jüngstem Roman "Nevermore" (2021) wurde nun Anne Weber, die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2020, mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie "Übersetzungen" ausgezeichnet. Damit könnte "Nevermore", trotz seiner Vielschichtigkeit und Komplexität, im deutschsprachigen Raum endlich den Durchbruch für diese so sympathische wie eigenwillige Autorin bringen.

Wajsbrot schreibt vor allem Nocturnes, so auch der Titel eines schmalen Erzählbandes (deutsch 2008) - Geschichten über Verlorene, Schiffbrüchige, Umherirrende. Der Kontrabassist eines Quartetts, das nachts auf Fähren spielt, überlebt als Einziger den Untergang des Schiffes und rührt nie mehr ein Instrument an: Er erkennt, dass alles nur geliehen war, die Instrumente, das Leben, die Musik. Ein schweigsamer Sohn, den der Atlantik verschlungen hat, wird seinen Eltern erst zehn Jahre nach seinem Verschwinden durch eine Flaschenpost begreiflich. Ein Leuchtturmwärter sieht ein Geisterschiff und findet sich im Leben nicht mehr zurecht. Es gibt viele Leuchttürme in Wajsbrots Werk, deren Lichtkegel das Dunkel kurz erhellen, Rettungsinseln, die versinken, Strandgut, Schiffbrüche, und manchmal gleicht das Meer dem "Atmen eines Monsters".

Erinnerungsarbeit

Wajsbrots meist namenlose Figuren sind Reisende mit wenig äußerem, aber niederdrückendem inneren Gepäck. Sie fühlen sich fremd und heimatlos, suchen gleichermaßen die Erinnerung wie das Vergessen. Solitude, Einsamkeit, ist ein Schlüsselwort bei Cécile Wajsbrot. Das Schreiben wird ihr zum Medium der Erinnerungsarbeit, hilft ihr "den Anteil der Vergangenheit an der Gegenwart zu bestimmen".

Und sie wiegt schwer, diese Vergangenheit: Obwohl in Frankreich geboren (1954), hat sie der Schatten des Krieges nie verlassen. "Ich war von weit her gekommen", schreibt sie in ihrem autobiografischen Text "Le Tour du lac" (2004). Nach Pogromen aus Polen ins Land von Liberté, Égalité und Fraternité geflüchtet, musste ihre Familie wiederum Vertreibung und Deportation durch die Polizei der Vichy-Regierung erleben. Der Großvater wird in Auschwitz ermordet, die Mutter überlebt in einem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat, der Vater kann sich in der Auvergne verstecken.

Cécile Wajsbrot weist immer wieder darauf hin, dass es Franzosen waren, die die Deportationen durchgeführt haben, lange, bevor die Nazis das verlangten, und dass die Franzosen sich dieser Schuld erst sehr spät und sehr zögerlich gestellt haben. Für Wajsbrot ist Vichy die "Ursünde, die wie jede Ursünde im Halbdunkel eines Unbewussten schlummert und nur Vergessen fordert". Diese Wunde heilt nicht, sie wird im Gegenteil Jahr für Jahr größer.

In Berlin, wo sie immer wieder lebt, fühlt sie sich freier, weil dort die Vergangenheit nicht totgeschwiegen wird und sie eine Fremde unter Fremden ist, was sich besser ertragen lässt, als im eigenen Land fremd zu sein. Dieses Gefühl der Nichtzugehörigkeit begleitet sie bis heute. Denn man kann im vornehmsten Pariser Stadtteil Neuilly gelebt und sieben Jahre ein Gymnasium besucht haben und trotzdem die Codes nicht kennen, wenn man in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist.

"Während die anderen zusammen ausgingen, tanzen gingen oder in Ferien fuhren, las ich, schrieb ich, ich lebte in einem Wald aus Blättern und Tinte." Das Leben erschien wie ein "Theatersaal, in dem alle Sitze, selbst die Klappsitze, besetzt sind". Die Isolation, in der die Eltern als Angehörige einer bedrohten Minderheit leben, prägt Kindheit und Jugend. Oft fühlt sie sich den Schattenlosen nahe, die wieder aus dem Totenreich aufsteigen. Dieses Grundgefühl verändert sich auch mit den ersten Erfolgen nicht, die mondänen Einladungen erschrecken sie, ebenso wie das flüchtige Interesse an Literatur im Literaturbetrieb. Dieses Leben, immer durch eine Glasscheibe getrennt, versucht sie durch ihr Schreiben ertragbar zu machen.

Schreiben wird ihr zur dreifachen Verpflichtung: Das Wort ergreifen, das Schweigen durchbrechen und Zeugnis ablegen. So gleichen ihre Bücher der Flaschenpost aus "Nocturnes". Trotz aller thematischen Differenziertheit sind ihre Romane im Grunde ein einziger innerer Monolog, Versuche, verloren geglaubte Spuren wiederzufinden, das Rätselhaft-Geheimnisvolle der eigenen Existenz aufzudecken.

Leben und Schreiben zwischen Erinnern und Vergessen: In "Aus der Nacht" (2008) will die Ich-Erzählerin die Grauzonen ihrer schmerzlichen Familiengeschichte ausleuchten. Während der Reise nach Polen tauchen die Schatten aus dem Zwischenreich auf, führt sie einen fiktiven Dialog mit den Mitgliedern ihrer Familie, versucht das Schweigen zu durchbrechen.

Gelöschte Spuren

© Liebeskind

Aber vergebens, die Spuren sind verwischt, der namenlose Fluss, in den man die 42 Opfer des Massakers geworfen hat, gibt sein Geheimnis nicht preis, der Friedhof ist verwildert, die wenigen hebräischen Inschriften kann sie nicht lesen, ein Gebet weiß sie nicht. Auch den Vater kann sie nur noch auf dem Weg ins endgültige Vergessen begleiten: Er ist an Alzheimer erkrankt, die Fragen kommen zu spät, es wird keine Antworten mehr geben.

Dieses Thema des Erinnerungsverlustes wird die Autorin 2011 in ihrem Roman "Die Köpfe der Hydra" noch einmal ausführlich behandeln. Die Nachfolgegeneration bleibt an das Familienschicksal, die Integrationsträume der Eltern gebunden und findet, gefangen in deren Erwartungen, kein eigenes Leben.

Neben der literarischen Erinnerungsarbeit wird Wajsbrot die Stadt Berlin zum neuen Erfahrungshintergrund. "Als die Mauer fiel, war es, als ob auch in mir eine Mauer einriss." Seither spürt sie Erinnerungsfragmente wie Strandgut auf und hat den Stadtroman für sich als neues Genre entdeckt. "Fugue" (2005), ein sehr persönliches Erinnerungsbuch, und "Berliner Ensemble" (2015) zeugen davon. Aber auch "Mann und Frau den Mond betrachtend", der 2004 als erster ihrer Romane auf Deutsch erschien und der die Wunden und Verletzungen der einst geteilten Stadt und ihrer Bewohner aufzeigt; die Kritik würdigte ihn als großen Wurf.

Ihr vorletztes Buch "Zerstörung" (2020) beschreibt eine Welt, in der das individuelle und kollektive Gedächtnis ausgelöscht werden soll. Bücher und Fotoalben werden vernichtet, Museen und Theater geschlossen. Die Welt ist an ihr Ende gekommen in diesem beklemmenden Roman, der zwischen "Fahrenheit 451" und Michel Houellebecqs "Unterwerfung" changiert, und wie bei Ray Bradbury sind es Stimmen der Literatur und Musik, die wie Barken "gegen die Strömung schwimmen". Wir sind also gewarnt.

Virginia Woolf (1882-1941).
© Public Domain / via Wikimedia Commons

Ihr jüngster Roman nun, "Nevermore", der voriges Jahr auf Deutsch erschien, lässt uns erfahren, welche Abgründe sich auftun können bei dem Versuch, Virginia Woolfs ästhetisch anspruchsvollen Text "To the Lighthouse" ins Französische zu übertragen. Dank der grandiosen Übersetzung von Anne Weber können wir dieses Vexierspiel auch in der deutschen Sprache nachvollziehen. Cécile Wajsbrot sieht Virginia Woolf als literarisches Vorbild, hat schon deren Roman "Die Wellen" ins Französische übersetzt und in ihrem ersten Roman 1982 - der in Analogie zu "Ein Zimmer für sich allein" den Titel "Ein Leben für mich" trägt - eine Journalistin den Spuren der großen englischen Dichterin folgen lassen.

"To the Lighthouse" ist Woolfs Elegie an ihre Kindheit, ein literarisches Denkmal für ihre früh verstorbenen Eltern und Befreiungsschlag zugleich. Den poetischen Mittelteil "Time Passes", in dem die Natur das familiäre Sommerhaus überwuchert, will die Erzählfigur in Wajsbrots Roman nun übertragen. Sie hat gerade ihre geliebte Freundin verloren und diese Geschichte animiert sie, Zwiesprache mit der Toten zu halten. Für dieses Unterfangen wählt sie ausgerechnet die wiederaufgeblühte Stadt Dresden als realen Ort wie als Metapher. Aber dieses neue Dresden erscheint ebenso unbewohnt wie Virginias Insel, erweist sich als Geisterstadt, eine Art Zwischenreich. Auch die Erzählfigur ist nur eine flüchtige Bewohnerin auf der Suche nach der Erinnerung an ihre verstorbene Freundin: "Ich bin gekommen, jemanden zu beweinen."

War das Schreiben für Virginia Woolf eine Art Psychotherapie, so erhofft sich die Erzählfigur eine ähnliche Erlösung vom Schmerz. Hörte Woolf ständig die Stimme ihrer Mutter, so wird sie die ihrer Freundin hören, bis sie endlich das Nevermore annehmen kann, dieses eine Wort, das der Rabe in Edgar Allan Poes Gedicht "The Raven" immer wieder spricht. Das Ich bei Poe stellt die falschen Fragen, aus denen immer größeres Grauen erwächst. Sicher ist nur, sie wird nimmermehr zurückkehren, die verstorbene Geliebte.

Wajsbrot spielt virtuos mit literarischen Formen, lotet die unbestimmten Ängste des Unterbewusstseins aus, entwirft beklemmende Bilder aus dem Grenzgebiet von Leben und Tod, in realen Grenzgebieten wie der verbotenen Zone um Tschernobyl bis zu dem Geisterdorf Fleury, das im Ersten Weltkrieg völlig zerstört wurde und heute nur noch ein Waldweg voller Gedenktafeln ist; alles Verweise auf das verlassene, von der Natur langsam überwucherte Haus in Virginia Woolfs Roman.

Klangreiche Prosa

© Wallstein

Aber neben dem sprachlichen Assoziationsteppich gibt es noch einen Klangteppich von Debussy über Britten zu Rachmaninows Glockenkonzert, mit Vorspiel, Zwischenspielen, nummerierten Kapiteln und einer Coda. Der Glockenklang hat Leitmotivfunktion, die betörende Musik macht die Einsamkeit zum Echoraum. Wajsbrots lyrische, rhythmisierte Prosa, die mitunter an Charles Baudelaires Poèmes en prose erinnert, ist literarische Trauerarbeit, von dunklen Melodien durchzogen, ein Sprachkunstwerk, das ein soghaftes Leseerlebnis auslöst.

Auf die Frage, welches literarische Werk sie gerne selbst geschrieben hätte, nennt Wajsbrot, ohne zu zögern, Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". So löst sie ihre Interpretation in dem schönen Proust-Bild der japanischen Papierblüten auf, die "sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, Umriss gewinnen, Farbe annehmen und zu Blumen, Häusern, echten, erkennbaren Personen werden". Wenn wir uns auf ihre Bücher einlassen, nimmt uns Cécile Wajsbrot mit auf Reisen an die Ränder des Bewusstseins, deckt Unterströmungen der Wahrnehmung auf, verknüpft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und lädt uns immer wieder zu Spielen mit japanischen Papierblüten ein, in Sepia zwar und mit einer leichten Bitternote im Lindenblütentee, aber doch mit einer eingetauchten kleinen Madeleine.

Cécile Wajsbrot: "Nevermore".
Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Anne Weber. Göttingen, Wallstein 2021, 229 Seiten, 22,70 Euro.

Barbara von Machui ist Romanistin und Germanistin und engagiert sich in Heidelberg im Deutsch-Französischen Kulturkreis.