"Wiener Zeitung": Herr Politycki, Sie haben sich vor knapp einem Jahr von der norddeutschen Nüchternheit in Hamburg verabschiedet, um sich fortan dem Wiener Schmäh auszusetzen. Wie groß war der Schock? Und wie nachhaltig ist die Freude?
Matthias Politycki: Das Maß war im Norden für mich voll, als man mir in einem Newsletter von der Rückkehr der "Störchinnen und Störche" aus dem Winterquartier berichtete. Als ich in Wien ankam, musste ich feststellen, dass man hier - jedenfalls in den Broschüren der Stadt für ihre Mitarbeiter - die Schafe auf der Donauinsel als "tierische MitarbeiterInnen" gendert. Dennoch, die Freude hielt an, den Wiener Schmäh habe ich schon während meiner Studienzeit in Wien geliebt.
Vor bald vierzig Jahren wurde Lucky Luke das Rauchen abgewöhnt. Seither hat er einen Strohhalm im Mund. War das der Anfang von dem, was heute "Wokeness" meint? Das Ende der Unschuld?
Schon die Kampagnen gegen das Rauchen sind tüchtig übers Ziel hinausgeschossen, spätestens dann, wenn man dem Zeitgeist zuliebe die Kunst in die Pflicht genommen hat. Freilich forderte damals ein erheblicher Teil der Bevölkerung ein Umdenken, während es heutzutage nur eine Minderheit ist, die uns ihre Weltsicht aufnötigen will. Wenn es dabei um Tabuisierung einzelner Wörter, um politisch korrekte Umbenennung von Gemälden oder Verbannung gewisser Autoren aus dem abendländischen Kanon geht, geht es in Wirklichkeit immer auch um unsere Freiheit: die Freiheit der Sprache, die Freiheit der Kunst und nicht zuletzt auch die Gedankenfreiheit.

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer koppelte das Verstehen von Sprache direkt an ihre Wirkungsgeschichte. Eine nachträgliche Korrektur von klassischen Texten möchte nun diese Wirkung ungeschehen machen, die Geschichte umschreiben. Welche Verluste befürchten Sie?
Wer den Menschen seiner geschichtlichen Wurzeln beraubt - das gilt auch für gewisse historisch gewachsene Begriffe oder grammatikalische Strukturen der Sprache -, nimmt ihm einen zentralen Teil seiner (Vor-)Geschichte und damit seines Selbstverständnisses. Ohne diese Verwurzelung ist er viel leichter ideologisch zu beeinflussen und letztlich zu steuern. Wer historische Fakten korrigiert und eine organisch gewachsene Sprache manipuliert, kann kein überzeugter Demokrat sein.
Was steckt hinter Ihrer Einladung zum "wilden Denken": Ist es eine Aufforderung zum kritischen Denken?
Ich wünsche mir in unseren Debatten mehr Mut zur Wahrhaftigkeit und weniger Vermeidungssprache. Mehr Mut zu unkonventionellem Probedenken, wie man es früher nannte, und weniger Lagerdenken. Wer sich den Themen unserer Zeit jenseits wohlfeiler Denkvorgaben von Links oder Rechts stellt, ist Selbstdenker; gerade weil er zwischen den weltanschaulichen Lagern steht, ist er zum wilden Denken befähigt: einem Denken, das sich seiner Ergebnisse nie schon im Vorhinein sicher ist, aus einer Haltung heraus, die jeden Tag neu und womöglich anders erworben werden muss - und nicht selten zu unkonventionellen Erkenntnissen führt. Nur so erstarren wir nicht im Haltungsdogmatismus, den ich für ein Grundübel unserer Zeit halte.
Sie reden von Freiheit, weil Freiheit wesentlich mit Reden zu tun hat. Wer aber will Ihnen den Mund verbieten? Fürchten Sie tatsächlich die "Gedankenpolizei", von der einst George Orwell in "1984" berichtete?
Machen wir uns nichts vor: Sie ist längst unterwegs. Vor allem hinter den Kulissen; etwa als "Sensitivity Reader", der das Manuskript eines Schriftstellers vor Drucklegung weltanschaulich auf Kurs bringt; etwa als Gleichstellungsbeauftragte, die Studenten gewisser Universitäten - auch derjenigen in Wien - oder Mitarbeiter gewisser Stadtverwaltungen - zum Beispiel in Hannover, Bremen, München - dazu verpflichtet, falsches Deutsch zu schreiben, um damit die richtige Gesinnung zu bekunden. Ich selbst kann glücklicherweise schreiben, was und wie ich will; wenn ich es tue, dann ganz maßgeblich auch immer für all die, die es nicht mehr können.
Orwells Dystopie schnellte bereits nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten in den Bestsellerlisten wieder nach oben. Mit der Invasion Putins in der Ukraine hat dieser Stoff noch einmal in größeren Dimensionen Aktualität erlangt. Was macht dieser Krieg mit Ihnen?
Ganz abgesehen von den emotionalen Erschütterungen, die wir alle aufgrund der täglichen Meldungen erleben, gibt der Realitätsschock, den wir durch diesen Krieg versetzt bekommen haben, auch Anlass zu einer gewissen Hoffnung - Hoffnung, dass wir uns in unseren Debatten aufs Wesentliche zurückbesinnen. Wo es ganz konkret gilt, Not zu mildern oder Gefahren abzuwehren, wird keiner mehr darüber debattieren wollen, ob wir es mit Refugees, Schutzsuchenden, Flüchtenden, Geflüchteten oder doch mit Flüchtlingen zu tun haben.

"Ich wünsche mir mehr österreichische Lösungen!"
- © Alexander Tempel, CC BY 4.0, via Wikimedia CommonsIn seinem Vortrag zur Verleihung des Paul Watzlawick Ehrenringes 2020 äußerte der Wiener Philosoph Robert Pfaller die Befürchtung, dass er aus lauter Rücksichtnahme auf die unterschiedlichen Empfindlichkeiten bald nichts mehr sagen könne, was wiederum dazu führe, den Anderen nicht mehr ernst zu nehmen, letztlich als Kind oder Trottel zu behandeln. Gesetzt den Fall aber, wir wollten Disput und Kritik nicht preisgeben, wie finden wir zurück in ein offenes Gespräch auf Augenhöhe?
Auch innerhalb der Linken brauchen wir wieder eine Dialogbereitschaft ohne Vorbedingungen, etwa derjenigen, dass sich alle der von uns propagierten Diktion befleißigen. Seitdem ich in Wien wohne und die Nachrichten verfolge, höre ich gelegentlich die Wendung, dieses oder jenes sei "wieder mal eine typisch österreichische Lösung". Wenn ich daran denke, dass die derzeitigen Debatten in Deutschland vornehmlich von den Rändern befeuert werden, von Fundis, die bei jeder Gelegenheit "klare Kante" zeigen wollen, wünsche ich mir, im Gegenteil, mehr "österreichische Lösungen" auch außerhalb Österreichs. Was sind diese anderes als Kompromisse, mit denen man in einer Demokratie nun einmal leben muss - und mit denen am Ende auch alle leben können. Ausnahmslos alle, nicht nur die, die am lautesten ihre Rechte einklagen. Ja, wir brauchen weniger "klare Kante" und mehr "österreichische Lösungen"!
Hand aufs Herz: War der tiefere Grund für Ihren Umzug nicht der, ideale Trainingsbedingungen vorzufinden? Sie sind auch Marathonläufer, und werden in Wien am 24. April sicher an den Start gehen, oder?
In der Tat wollte ich den Wien-Marathon schon seit Jahren laufen. Aber viel wichtiger als ein Straßenrennen sind mir die langen Trainingsläufe am Wochenende. Ich fahre mit den Öffis etwa bis Groß-Enzersdorf, Laab im Walde oder auf den Kahlenberg, und von dort laufe ich heim - 20 bis 30 km, auf denen man die Stadt jenseits ihrer touristischen Highlights erst so richtig kennenlernt.

Im Buch "42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken" (2015) halten Sie fest: "Auch ein Roman ist eine lange Strecke, für die man vor allem eines haben muss - Mut, um überhaupt anzutreten." Folgt nun also ein Wien-Roman?
Genau genommen hab ich ja schon einen geschrieben, denn der "Weiberroman" spielt zu wesentlichen Teilen im Wien der späten Siebziger. Im Übrigen werde ich weniger durch meine Wohnorte inspiriert als - ehrlich gesagt - durch den Zufall. Gerade auf Reisen in Afrika oder Asien passieren oft solch unglaubliche, mitunter erschütternde Dinge, dass meine Phantasie ganz von alleine anfängt zu arbeiten. Als Schriftsteller wählt man seine Stoffe nicht selber, man ist ein Getriebener und froh um jeden Stoff, den man durch Niederschrift wieder losbekommen hat.
"Wien für Helden" wäre aber schon ein Titel à la Politycki. Es muss ja nicht gleich ein "Ale Trail" sein, wie Sie ihn 2011 in lyrischer Diktion auf die Stadt an der Themse verfassten: "London für Helden. Expeditionen ins Bierreich". Vielleicht ist Wien - entgegen dem Klischee - nicht fünfzig Jahre im Rückstand, sondern vielmehr der Zeit um ein halbes Jahrhundert voraus?
Ob fünfzig Jahre voraus oder hinterher, das ergibt bestenfalls ein schönes Bonmot. Tatsächlich hat Wien seinen eigenen Takt, seine ganz eigene Perspektive auf die Welt, und das genieße ich sehr. Ganz zu schweigen von der Sprache! Als Münchner habe ich ein unbändiges Bedürfnis nach Konjunktiven, das im Norden Deutschlands kaum befriedigt wird. In Wien gibts dafür den doppelten Tagesbedarf. Dazu kommt an jeder Ecke eine Eloquenz, die eine These im Verlauf der Darlegungen am Ende ganz charmant in ihr Gegenteil verkehrt hat. Auch als der sprachverliebte Schriftsteller, der ich immer war, kann ich hier noch einiges lernen.