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Horror für Millionen

Von Alexander Kluy

Reflexionen
Seine schaurigen Bestseller speist Stephen King aus den Ängsten seines Publikums.
© getty images / Ulf Andersen

Der Autor aus Maine ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. Am 21. September feiert er seinen 75. Geburtstag.


"Der Schrecken, der weitere achtundzwanzig Jahre kein Ende nehmen sollte - wenn er überhaupt je ein Ende nahm -, begann, soviel ich weiß und sagen kann, mit einem Boot aus Zeitungspapier, das einen vom Regen überfluteten Rinnstein entlangtrieb."

So beginnt eines der bekanntesten Werke der Horrorliteratur, "It" ("Es"). 1986 erschien dieser Roman, binnen zwölf Jahren das 19. Buch eines 39-jährigen außerordentlichen Autors namens Stephen King. Allein die drei Titel, die er 1984 herausbrachte, kamen auf 1.288 Seiten. Da hatte er bereits eine außergewöhnliche Aufstiegsgeschichte hinter sich.

1949 war sein Vater, Seemann bei der Handelsmarine, "Zigaretten holen" gegangen und spurlos verschwunden. Die Mutter zog mit Stephen und dessen älterem Bruder kreuz und quer durch die USA. Oft kamen sie wegen Geldmangels bei Verwandten unter. So wuchs er teils im Mittleren Westen auf, in Indiana, teils im Nordosten der Vereinigten Staaten.

Früh mauserte sich Stephen zu einem leidenschaftlichen Leser. Ebenso zeitig zog ihn das Kino an. Einer seiner nachhaltigsten Leinwand-Eindrücke war der 3D-Monsterstreifen "Der Schrecken vom Amazonas". 1961 zog die dreiköpfige Familie bei Stephens Großeltern in Durham, Maine, ein. Da verschlang er phantastische Literatur. Und schrieb selbst. Angefangen hatte er im Alter von acht Jahren, einige Jahre später hatte er seine ersten Geschichten an Zeitschriften gesandt. Ohne Erfolg.

Nerv der Zeit

© Lübbe

Geschickt griff King an Motiven auf, was in der Luft lag - in seinem allerersten, nie gedruckten postapokalyptischen Roman "The Aftermath" von 1965 gab es einen Menschen mordenden Supercomputer. Auch während des Studiums schrieb er, viel und ausdauernd. Und wurde 1967, mit 19 Jahren, erstmals gedruckt. Für die Kurzgeschichte "The Glass Floor" erhielt er 40 Dollar. Erst auf Umwegen wurde er Lehrer für Englisch in Hampden, Maine, verdiente wenig, konnte seine bereits vierköpfige, später fünfköpfige Familie nur kärglich durchbringen. Die Kings lebten in einem Wohnwagen.

Er schrieb weiter, kramte 1972 aus einer Schublade eine verworfene Kurzgeschichte heraus. Arbeitete weiter an dem Text, wollte ihn entsorgen, woran ihn seine Frau, so die Legende, hinderte. Der New Yorker Doubleday Verlag nahm den Roman an und brachte "Carrie" im April 1974 heraus. Die Erstauflage: 30.000 Exemplare. Den finanziellen Durchbruch erlebte er mit der Taschenbuchausgabe. Der Verlag New American Library zahlte für die Rechte an der gleichzeitig publizierten Paperback-Ausgabe von "Carrie" 400.000 Dollar. Startauflage: 700.000 Stück. Bis Ende Dezember 1974 hatten sich 1,4 Millionen Exemplare verkauft.

Horror lag in der Luft. William Blattys Roman "Der Exorzist" war 1971 ein großer Erfolg gewesen, die Verfilmung zwei Jahre später ein Blockbuster. Kings erste Romane erschienen in einer das Horrorgenre begünstigenden Zeitkonstellation: Am Ende des Vietnamkriegs traf es das Nervenkostüm einer tief verunsicherten, erschrockenen Nation. Prächtigkamen Erzählungen an, die Übersinnliches und Übernatürliches beschrieben, die die moderne, technisierte Welt überwältigen. In denen Grauenhaftes geschieht, dem die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Albtraum-Geschichten, in denen Dinge morden und in den Köpfen der Wahnsinn schlummert, der nur auf seine Eruption wartet.

© Lübbe

Wobei King manchmal nur eigene Träume notieren musste. Zum Beispiel im Herbst 1974 bei einem Kurzaufenthalt mit Familie in einem großen alten Hotel in Colorado. In einer Nacht dort, so King, "träumte ich, mein drei Jahre alter Sohn liefe schreiend und mit weit aufgerissenen Augen durch die Gänge und sähe über die Schulter zurück. Er wurde vom Schlauch eines Feuerlöschers verfolgt. Ich wachte mit einem schrecklichen Zittern und schweißgebadet auf". Und: "Ich stand auf, zündete mir eine Zigarette an, setzte mich auf den Stuhl neben dem Fenster, schaute auf die Rockies hinaus, und als ich die Zigarette geraucht hatte, hatte ich das Gerüst des Romans im Kopf." Das Resultat war "Shining". Und Kings auch ob Stanley Kubricks kunstvoll freier Verfilmung vielleicht bekanntestes Werk.

Seither entwickelte sich eine von astronomischen Vorschüssen, die sich ab Ende der Siebziger Jahre im siebenstelligen Bereich bewegten und von Buch zu Buch höher wurden, garnierte Erfolgsgeschichte. Die Bestsellerkarriere Kings, der seit 1978 wieder in Maine lebt, verlief höchst produktiv: In 49 Jahren hat er 65 Romane geschrieben - der 66. ist angekündigt - und mit "Das Leben und das Schreiben" einen höchst erhellenden Band über das Erzählhandwerk; mehr als 200 Kurzgeschichten wurden gedruckt und weltweit 400 Millionen Bücher verkauft.

Wieso aber ist King so viel bekannter geworden als Autorenkollegen, die wie Clive Barker blutiger, wie Ramsey Campbell gruseliger, wie Thomas Ligotti literarisch bizarrer sind? Weil Stephen King erzählerisch eine epische Urgewalt ist. Zum anderen ist er deshalb so erfolgreich, weil er sich mit großer Klugheit ungustiöser Extremausformungen stets entschlagen hat, stattdessen mit Kindercharakteren empathische Identifikationsfiguren kreierte.

Werkdeutungen

Im Vorwort zur Kurzgeschichtensammlung "Nachtschicht" (1978) schrieb King, zwar ein in der Wolle gefärbte Schilderer von nightmares and dreamscapes, stilistisch aber ein solider Realist: "Mein ganzes Leben als Schriftsteller bin ich immer von einem überzeugt gewesen: In der Fiktion muss die Geschichte selbst so gut sein, dass sie alle anderen Qualitäten des Autors in den Schatten stellt; Charakterisierung, Stil, Thema, Stimmung, das alles bedeutet nichts, wenn die Geschichte langweilig ist. Und wenn die Geschichte fesselt, kann der Leser alles andere verzeihen."

© Reclam

Kings immense Breitenwirkung und seine popkulturelle Ausstrahlung riefen auch die Literaturwissenschaft auf den Plan. Eine Vielzahl von Ausdeutungen ist in mehr als dreißig Jahren zu Papier gebracht worden. So gibt es tatsächlich einen Band mit dem Titel "Stephen King and Philosophy". Es ist nachgedacht worden, mal mehr, mal weniger tiefsinnig - auf Deutsch zuletzt vom King-Fan Dietmar Dath ("Stephen King. 100 Seiten", Reclam 2022) - über Gut und Böse in Kings Büchern, über den Tod Gottes und des Menschen Verzweiflung.

Auch über die weibliche Subjektivität seiner Protagonistinnen. Über seine Verbindungen zur Philosophie Nietzsches, über den Einfluss hinduistischer Philosophie auf seine Großzyklen, über aristotelische Freundschaftskonzepte, über Macht und Gewalt in seinem Œuvre. Und darüber, dass King in "Shining", so wie die philosophischen Pariser Meisterdenker des Strukturalismus der Siebziger Jahre, den Autor (fast) verschwinden ließ. Es gibt Studien über Zeitreisen und die Natur der Zeit bei ihm, über die Trias von Vorsehung, Wahrheit und Fiktion, ja selbst über anthropologische Verbindungen zum Werk Arthur Schopenhauers.

© Heyne

Dabei ist King formal ein eher konservativer Genre-Autor, selbst wenn er Ausflüge in andere Metiers unternimmt. Wenn er einen Vampirroman ("Brennen muss Salem") schreibt, einen Kriminalroman ("Später") oder eine Serial-Killer-Trilogie ("Mr. Mercedes", "Finderlohn", "Mind Control"), einen Zeitreiseroman ("Der Anschlag") oder mit dem gerade auf Deutsch erschienenem "Fairy Tale" einen magischen Roman. Wenn er mit "Puls" Apokalyptisches serviert oder autobiografische Erinnerungsprosa verfasst ("Joyland") und sich erfolgreich am Spiel mit Autofiktion versucht ("Sie - Misery").

Letztere bekam zwölf Jahre nach Erscheinen und neun Jahre nach der kraftvollen Verfilmung eine zusätzliche autobiografische Dimension eingezogen. Verunglückt im Buch der betrunkene Erfolgsschriftsteller Paul Sheldon - er wird von der ehemaligen Krankenschwester Annie gesund gepflegt, bis sie herausfindet, dass er ihre Lieblingsromanfigur sterben lässt, woraufhin sie beginnt, ihn immer psychotischer und fanatischer zu quälen -, so wurde King 1999 von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und schwer verletzt.

Literarische Echos

Dass King auch als Leser Horrorliteratur gut kennt, ist bekannt. Ebenso, dass er dies an keiner Stelle arrogant ausstellt. In "Carrie" tritt ein Journalist von der Westküste auf, der, liest man da, physiognomisch mehr H. P. Lovecraft, dem exzentrischen Autor außergewöhnlicher Horrorgeschichten, ähnele denn Jack Kerouac, dem Beat-Autor. In "Brennen muss Salem" (1975) - die Verfilmung wird im Frühjahr 2023 in die Kinos kommen - unterlegte King den Schrecken von Marsten House mit einem Auszug aus Shirley Jacksons "Spuk in Hill House". Und natürlich durchziehen Echos aus Erzählungen Edgar Allan Poes seine Prosa, "Shining" etwa ist inspiriert von dessen "Die Maske des Roten Todes". "Dead Zone - Das Attentat" schließlich ist eine Hommage an den verehrten Ray Bradbury.

1985 bekannte King: "Ich begann als Schriftsteller und sonst nichts. Ich wurde zu einem beliebten Schriftsteller und habe herausgefunden, dass ich zumindest in der Modellbaulandschaft des Buchgeschäfts zu einem Bestsellersaurus Rex gewachsen bin - zu einem großen, schwankenden Buchungetüm, das man liebt, wenn es Geld scheißt, und hasst, wenn es Häuser zertrampelt." Und fügte hinzu: "Ich begann als Geschichtenerzähler, irgendwann unterwegs bin ich auch zu einer Wirtschaftsmacht geworden."

Fünfzehn Jahre später meinte er: "Ich schreibe so lange, wie der Leser davon überzeugt ist, in den Händen eines erstklassigen Wahnsinnigen zu sein." Das macht Stephen King bis heute beängstigend - beängstigend effektiv.

Alexander Kluy ist Journalist, Kritiker, Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literatur-, kunst- und kulturhistorischen Themen.