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Der vielfältige Faden des Lebens

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen
"Wenn man Kreativität in sich hat, ist es egal, wo man sie auslebt": Johann Schüller.
© Manfred Rebhandl

"Ich wurde nur in die Welt gesetzt, damit ich Schneider werd’", sagt Johann Schüller und erzählt aus seinem Leben. Eine Begegnung.


Seine Eltern stammten aus Purbach im Burgenland, in der Ybbsstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk bezogen sie die Wohnung, in der er heute noch lebt. "Man kann sich nicht vorstellen, wie das damals war." Es waren die Dreißigerjahre, Zwischenkriegszeit. Von seiner Mutter sollen zwei Geschwister verhungert sein.

Johann Schüller selbst kam 1942 zur Welt, der Vater war Damen- und Herrenschneidermeister und betrieb sein Geschäft in der Wohnung. Woran er sich gerne erinnert: "Er hat für die russischen Offiziere gearbeitet, die sich eine Uniform haben machen lassen, da war immer Geselligkeit, immer Wodka." Überhaupt ist all seine Erinnerung an damals "eine schöne, obwohl es eine bescheidene Zeit war. Heute jammert jeder: Energiekrise! Als wir Kinder waren, da hat die Mutter einen Ziegelstein erhitzt, mit Papier umwickelt und ins Bett reingelegt. Ich hab’ kein Problem mit dem einfachen Leben. Die Lebensqualität ist entscheidend, und die ist nicht abhängig vom Geld, sondern von der Einstellung."

Philipp, Farkas, Muliar

Er war ein Praterbua, "damals ist es dort noch wild zugegangen, wirklich wild." Es gab die Platten, die Banden, die sich auf Leben und Tod bekämpften. "Aber durch das, dass ich im Elternhaus eine solide Basis hatte, wurde ich akzeptiert." Er tanzte Rock ’n’ Roll. "Ein Praterbua, der nicht Rock ’n’ Roll getanzt hat, das war nichts." Mit Schwalbenschwanz und Brillantine im Haar und Hühneraugen in den Milanos gingen sie zum Tanzen in die Walddiele nahe der Wallfahrtskirche Maria Grün im Lusthaus. Nebenher begann der Ernst des Lebens.

"Ich wurde nur in die Welt gesetzt, damit ich Schneider werd’", sagt er lachend. Er hatte vier bedeutend ältere Schwestern, die Älteste ein 1924er Jahrgang. "Aber unterm Deutschen Reich hat’s sich gehört, dass ein Bua her muss. Und ich bin dann gar nicht gefragt worden, was ich lernen will, das war eine Selbstverständlichkeit, dass ich ein Schneider werd’!" Also lernte er Herrenschneider bei "Josef Splinar - Feine Herrengarderoben" in der Theobaldgasse 20 im sechsten Bezirk, "das war ein nobler Herr!" Ein anderer nobler Herr arbeitete gleich ums Eck in der Capistrangasse 5, der Film- und Theaterausstatter Lambert Hofer III., der ab Beginn der 1960er Jahre Peter Alexander mit Kostümen für seine Musikkomödien ausstattete. "Der Kommerzialrat hat mich gemocht, dem war ich sympathisch."

Nach der Lehre, deren Theorie ihm in der Michelbeuernschule vermittelt wurde, fing er bei ihm an, zunächst zu Hause in der Ybbsstraße, wo er als Stückschneider zuarbeitete: "Das hat müssen fertig werden; bei dem Anzug fehlte noch was; zack zack zack!" Und auf einmal musste er zur Anprobe zum Gunther Philipp fahren, oder ins Simpl zum Farkas, oder zum Fritz Muliar nach Hause: "Der hat damals im 4. Bezirk in einer Seitengasse gewohnt, die Franziska Kalmar, die Fernsehsprecherin, war seine Frau. So bin ich in das Milieu reingeschlittert, ohne dass ich es wollte." In das Milieu des Theaters, des Films und des Fernsehens.

Zu Hause lebte er aber immer noch unter dem Dach der "dominanten Mutter" - und bald dachte er: "Es wird die Zeit kommen, da wird sie nicht mehr leben, also muss ich mich lösen. Das war ein Theater, als ich ihr gesagt habe, dass ich ins Ausland gehe, das hat sie fast nicht verkraftet." Er blätterte trotzdem in einer deutschen Fachzeitschrift, die "Müller-Münch" hieß und einschlägige Inserate druckte.

Voller Lebensfreude

So fand er einen Job in Basel am Stinengraben 14 bei der Traditionsschneiderei Eugen Lämmlin, und dort tauchte er wieder in eine ganz andere Welt ein: "Die haben hauptsächlich Süditaliener beschäftigt; da sind ungefähr 35 Leute im Türkensitz am Tisch oben gesessen und haben den ganzen Tag gestichelt und gesungen ,O sole mio!‘. Irgendwie erinnere ich mich gerne daran zurück!"

Und mit den Italienern lernte er etwas ganz Neues kennen: "Ich hab’ bei Böhmen gelernt, das waren gute, solide Handwerker, die haben geböhmert, ganz super. Aber der Chic fehlte! Wie ich dann in der Schweiz war mit den Italienern, da hab’ ich gelernt den Blick fürs Elegante. Das Böhmische und das Italienische, das war beim Arbeiten in mir drin. Aber die Mentalität des Italieners, die liegt mir mehr, die Geselligkeit. In der Schweiz hab’ ich einen anderen Zugang zum Menschen gekriegt, gehe offen auf sie zu, sehe grundsätzlich das Positive."

Ein Spaßfoto von seinerzeit: Johann Schüller (l.) mit Sissy Löwinger und Herbert Hisel.
© privat

Lange hielt es ihn dann aber auch in Basel nicht. Er zog weiter in die französische Schweiz nach Lausanne, wo er zunächst wieder als Schneider tätig war, bevor er am Genfer See auf einem Raddampfer namens "Le Bateau Italie" anheuerte - 66 Meter lang und 1908 in Dienst gestellt -, der als Linienschiff zwischen Le Bouveret und Genève verkehrte. Den ersten Einsatz hatte er mit fünf weiteren Stewards in weißem Jackett und Goldlametta während einer geschlossenen Gesellschaft von französischen Juristen. Sie mussten auf einem Silbertableau einen riesigen Fisch - "Einen Wels, glaub ich, so was hab’ ich bis dahin nicht gesehen gehabt!" - in den Salon tragen, aber keiner von ihnen wusste, wie man das Trumm zerlegt. Also packte er mit einer Selbstverständlichkeit an, mit der er auch sein weiteres Leben angepackt hat, und blieb zwei Jahre auf diesem Schiff.

Im "Twen-Shop"

Als er nach Wien zurückkam, "war ich sofort wieder im Geschehen drin." Diesmal aber von seinem eigenen Geschäft aus, das er mit 21 als jüngster Schneidermeister Österreichs in der Kirchengasse in Wien-Neubau eröffnete. Er wollte Geld verdienen und entwickelte sich bald zu einem kleinen PR-Genie in eigener Sache. "Ich war voller Lebensfreude!", sagt er. "Wenn du ein griesgrämiger Patron bist, dann hast du nicht einmal die Ideen zu so was!"

1963 belieferte Lambert Hofer den Film "Charleys Tante" mit Peter Alexander in der Hauptrolle, "und da gab es auch eine Szene mit einer Ritterrüstung, die dann bei mir in der Kirchengasse herumgekugelt ist." Da kam ihm die Idee: "Ich ruf’ die Zeitungen an und sag denen, ich gehe jetzt auf die Mariahilfer Straße protestieren gegen die konservative Herrenmode."

Oder er machte mit der Sissy Löwinger und dem Herbert Hisel, ihrem damaligen Ehemann und bekannten fränkischen Kabarettisten, der sich später erschoss, lustige Fotos bei sich im Geschäft und schickte sie an den damals auflagenstarken "Express". Oder: Für eine Modeschau im "Cercle", dem damaligen Casino in der Kärntner Straße, kreierte er einen Anzug mit sechs Jeton-Taschen - "eine Blödheit!", für die Casino-Direktor Leo Wallner aber sofort empfänglich war. "Er hat organisiert, dass ich den Anzug vorführen konnte, und es kamen sage und schreibe 60 nationale und internationale Reporter." Und einer davon schrieb: "Der Casino-Anzug für den Herrn stammt von einer der kreativsten Persönlichkeiten der Wiener Herrenmode."

Früher, erzählt Schüller, gab es in den Kinos während der Filmvorführungen Pausen, da wurde dann Mode präsentiert. Erst 1969 veranstaltete ausgerechnet die ÖVP-nahe Österreichische Jungarbeiterbewegung zusammen mit dem "Kurier" im Wiener Messepalast, dem heutigen Museumsquartier, den "Twen Shop", eine "Messe für die Jugend", gegen die die Jugendgruppe Spartakus zum Sturm aufrief - "Als Protest gegen die kommerzialisierte Präsentation jugendlicher Hobbys."

Auch am 1969 abgehaltenen "Twen Shop" (einer "Messe für die Jugend") nahm Johann Schüller teil. Ganz rechts im Bild zu sehen: "Fernseh-Kinderonkel" Peter Machac.
© privat

Schüller nahm trotzdem an der Messe teil und war einer der Ersten, die eine tanzende Modeschau präsentiert haben; "Fernseh-Kinderonkel" Peter Machac, der von 1960 bis 1971 die Kinderstunde des ORF moderierte, modellte für ihn. Über sie beide stand später in der Zeitung: "Discjockey Peter Machac hat mit Selbstbeherrschung zwei Anzüge gewonnen: ,Wenn du ein volles Jahr lang keine Zigaretten mehr rauchst, dann bekommst du von mir zwei Anzüge‘, hatte im März 1970 Schneider Johann Schüller seinem Kunden vorgeschlagen. Die Wette galt. Machac, der bis dahin an die 60 Zigaretten geraucht hatte, brachte es fertig, dem Nikotin zu entsagen." Oder man schrieb: "... Dann eilte Peter Weck zu seinem Schneider Johann Schüller in die Kirchengasse, um sich einen graugrünen Jägeranzug mit langer Hose machen zu lassen."

"Es war alles Geselligkeit und Unterhaltung", erinnert sich Schüller. "Und dass man sich fein angezogen hat, war normal, jeder hat auf sich geschaut. Heute fällst du auf, wenn du eine Garderobe hast. Ich bin aber der Meinung, das gehört zur Lebensqualität dazu. Man muss nicht eitel sein. Ein gutes Glaserl Wein ist eine Kultur, und dass man auf sich schaut, ist auch Teil einer Kultur."

Ein Frack für Karl Schranz

Die Schauspieler, mit denen er es damals zu tun hatte, "waren alle mehr oder weniger zugängliche, problemlose Leute. Der Einzige, der mich gequält hat bis aufs Blut, war der Burgschauspieler Fred Liewehr." Dem musste er für irgendeine Produktion einen Morgenmantel aus Nappaleder machen, was ihn viel Zeit und Geld gekostet hat. Als er dann endlich damit fertig war, sagte Liewehr: "Na, jetzt will ich ihn nicht mehr."

Peter Alexander hingegen, erzählt er, "war ein bescheidener Mensch, tüchtig, angenehm, stets ruhig. Nur wenn der Gunther Philipp dazu gekommen ist - da hat er noch die Wohnung im 3. Bezirk am Esteplatz gehabt -, haben sie sich das Hölzel zugeworfen und er hat wie ausgewechselt den Schmäh rennen lassen." Und von wegen Gunther Philipp: Den sah Schüller einmal bei sich im Geschäft vor dem Spiegel stehen, wie er sich anschaut und mit den Ohren wackelt. "Da hat er ein bisserl trainiert!", lacht Schüller. Bis er es richtig gut konnte.

Auf der Kärntner Straße, erzählt er weiter, gab es 1972 noch den Maßschneider Silbernagel, "und der Karl Schranz ist gerade ausgeschlossen worden von den Olympischen Spielen in Sapporo, der Kreisky hat ihn eingeladen zum Opernball, dafür hat er einen Frack gebraucht vom Silbernagel, den ich ihm gemacht habe. Vorm Spiegel hab ich zu ihm gesagt, er soll ein bisserl auf und ab gehen, aber er, der Bergbauer mehr oder weniger, im derben Gang ... weißt, was das für ein komisches Bild war!?"

Gesellschaftlicher Mittelpunkt war der Marchfelderhof, den der schlaue Gerhard Bocek 1969 von seinem Vater übernommen und zum Society-Tempel ausgebaut hat. Einmal hatte Schüller eine Freundin, die bei der CBS, der amerikanischen Plattenfirma, gearbeitet hat, und die bat ihn, Ivan Rebroff abzuholen, der in der Stadthalle auftreten sollte. Er fuhr damals einen viertürigen Alfa Berlina, "eine normale Limousine, aber du hast müssen genau fahren, weil der einen Aluminium-Motorblock gehabt hat, den durftest du nicht überdrehen." Später fuhr er einen Alfa Sprint in Bahamagelb, unlängst wurde ein solcher im Dorotheum um 300.000 versteigert, "leider nicht meiner", lacht er. Schüller traf Rebroff im Intercont an der Bar und kurvte mit ihm im Alfa zum Marchfelderhof, sie sangen und hatten eine Gaudi.

Sturzflug mit Bücker

Das alles war "viel Arbeit, viel Stress, und reich ist man mit denen Schauspielern nicht geworden." Zwar gab es Großzügigere: "Der Pauli Hörbiger, da haben wir in Hainburg unten ,Der alte Richter‘ gedreht, der war ein sehr angenehmer und großzügiger Patron." Der Muliar hingegen war ein Schnorrer, und schuldig geblieben ist ihm immer wieder einer was. Als Ausgleich zum Stress hat er den Flugschein gemacht in Trausdorf bei Eisenstadt, "da gab es noch den Flugplatz zwischen Eisenstadt und St. Margarethen, wo wir sechs Bücker Doppeldecker aus den 1930er Jahren stehen hatten mit Sternmotor, da ist man am Steuer im Freien gesessen mit der Lederhaube am Schädel."

Wenn irgendwo ein Flugtag war, sind sie Programm geflogen, "und da musstest du dein Handwerk beherrschen, sonst warst du ein Kandidat." Durch die Fliegerei am ehemaligen Flugplatz Aspern hat er auch den Niki Lauda öfter gesehen, "der in jungen Jahren mit dem Lambert Hofer jun., dem Buben vom Kommerzialrat, dort immer Auto gefahren ist." Als er für den "Schweijk" die Kostüme machte, kam ihm die Fliegerei zugute. "Weil da haben sie eine Szene in Feldkirchen in Kärnten gedreht, und ich hab mit der Bücker einen Sturzflug gemacht, den sie gedreht haben." Die zusätzliche Gage stellte er dem Flugverein zur Verfügung.

Noch Ende der 70er Jahre hörte er dann aber endgültig auf mit der Schneiderei. "Ich hab so viel Arbeit gehabt, umsonst bist ja nicht im Geschäft. Aber die Hektik! Ich hab’ in Erinnerung, wie ich die ganze Nacht gearbeitet habe und in der Früh endlich fertig war. Und auf einmal geht schon wieder das Telefon, und das Thalia Theater in Hamburg ist am Apparat, sie brauchen schnell noch was. Dabei hängt dir eh schon die Zunge raus!"

Johann Schüller (rechts) und die Ritterrüstung aus dem Film "Charleys Tante" mit Peter Alexander.
© privat

1978, als an österreichischen Originalschauplätzen die US-Serie "Holocaust" gedreht wurde, war er schon gar nicht mehr in der Schneiderei, aber sie traten halt trotzdem an ihn heran, weil er einen guten Namen hatte. Und da sah er die Meryl Streep, die noch einmal eine andere Klasse war. Schon der Josef Meinrad, der im Theater an der Wien im "Mann von La Mancha" spielte, hatte ihn beeindruckt: "Ich hab’ müssen die Kostüme herrichten, und der ist schon am Nachmittag in die Garderobe gekommen, damit er bis zum Abend bereit ist, den konntest du nicht mehr ansprechen." Aber Meryl Streep! "Da war so eine Spannung drin, die war so in der Rolle drin, dass man froh war, wenn die Szene zu Ende war."

"Einmal in Freistadt musste sie sich vom Peter Vogel verabschieden, der wird von der Gestapo abgeholt, hinauf auf den Lastwagen, sie muss ihm nachlaufen und die große Tragödie spielen. Und die kommt aus der Hysterie nicht mehr raus! Geht der Chomsky, der Regisseur, zu ihr hin und haut ihr eine Verkehrte herunter. Sie hat sich umgedreht, ist in die Garderobe gegangen und hat nicht Muh und Mäh gesagt."

Den Rest seiner beruflichen Laufbahn war er u.a. Generalvertreter für Tre Stelle, den italienischen Nähfadenproduzenten, und eröffnete Kleinwarengeschäfte, eines davon in der Taborstraße. "Da ist eines Tages der Gery Keszler zu mir hereingekommen", erzählt er, es war 1992 und am Abend sollte er den ersten "Life Ball" eröffnen. "Der hat irgendsowas wie ein Zeichen gebraucht. ‚Fällt dir nichts ein?‘", hat er ihn gefragt. Schüller hatte ein paar Satinbänder herumliegen, und eines in Rot formte er zu einer Schleife. "Was hältst davon?", fragte er Keszler und der sagte: "Passt!" Irgendwann hießen die Dinger dann Red Ribbon.

Kochen und malen

Wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, ging Schüller meist in seine Küche in der Ybbsstraße und kochte. "Wenn man Kreativität in sich hat, ist es egal, wo man sie auslebt. Egal ob im Beruf oder zu Hause beim Kochen." Wenn er heute seine Ruhe haben und in sich kehren möchte, "dann geh ich in mein Kammerl, wo ich immer noch die alte PFAFF stehen habe, und nähe." Oder er baut die Staffelei auf und malt ein bissl. "Und dann tu ich wieder zwei Jahre lang gar nichts", lacht er. Warum sollte er auch? Erlebt hat er ja genug, "und nichts davon möchte ich missen."

Manfred Rebhandl, geboren 1966 im oberösterreichischen Roßleithen, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub, die am Wiener Brunnenmarkt spielen, und Reportagen für Zeitungen.