"Wiener Zeitung": Frau Wodak, Sie haben sich für dieses Interview Ihre beste Freundin, die Bildungsexpertin Heidi Schrodt, gewünscht. Das hat sicher gute Gründe ...
Ruth Wodak: Wir kennen einander seit dem Jahr 1985. Es ist nicht nur die Länge der Zeit, die unsere Freundschaft oder Seelenverwandtschaft ausmacht, sondern es ist vor allem die große Vertrautheit. Wir können einander alles erzählen und wissen, dass dies bei der anderen gut aufgehoben ist. Ich brauche Heidi auch nur anzusehen, um zu wissen, wie es ihr geht.
Heidi Schrodt: Am Telefon hören wir ebenfalls sofort, wie es der anderen geht.
Wodak: Außerdem haben wir eine Bandbreite von Interessen, die uns beide verbinden und die ein Fundament darstellen, dass uns nie langweilig wird. Es gibt immer so viel zu besprechen.
Sie sind auch beide fast am selben Tag geboren.
Schrodt:Ruth ist drei Tage älter als ich, und es ist ein schönes Ritual, dass wir immer rund um unsere Geburtstage einen Tag auswählen und dann gemeinsam feiern.

Wie haben Sie einander kennengelernt?
Schrodt: Der erste Kontakt erfolgte über meinen Mann, der bereits seit 1972 mit Ruth am Institut für Indogermanistik zusammengearbeitet hatte. Ich kannte zwar ihren Namen, aber persönlich kennengelernt haben wir einander erst im Rahmen eines Lehrganges für politische Bildung, den Ruth für Lehrerinnen und Lehrer 1985 gehalten hatte und an dem ich teilgenommen habe. Es war vom ersten Moment ein gegenseitiges Grundverständnis da.
Wodak: Ein verbindendes Moment war sicherlich auch die Tatsache, dass wir zu diesem Zeitpunkt beide einen kleinen Sohn hatten und genau wussten, was es heißt, wenn man einem fordernden Beruf nachgeht und versuchen muss, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Unsere Söhne waren auch sehr eng befreundet.
Schrodt: Wir haben uns oft beim Hietzinger Tor getroffen und sind dann gemeinsam mit den Kindern in Schönbrunn spazieren gegangen.

"Ruth ist drei Tage älter als ich, und es ist ein schönes Ritual, dass wir immer rund um unsere Geburtstage einen Tag auswählen und dann gemeinsam feiern."
- © Franz SvobodaWodak: Eine Gemeinsamkeit war sicherlich auch, dass wir beide in Folge der noch jungen Frauenbewegung feministisch eingestellt waren - und noch sind.
Schrodt: Ich habe 1977/78 in Köln gelebt und kam dort durch Zufall in Kontakt mit der Frauenbewegung. Das hat mich sehr geprägt - und du warst in Wien ja sehr aktiv.
Wodak: Ich war in der ersten UniWien-Frauengruppe, die 1975 aus dem Bedürfnis heraus entstand, dass Assistentinnen aus diversen Instituten nicht zum Kaffeemachen herangezogen werden, sondern genauso behandelt werden sollten wie ihre männlichen Kollegen. Wir wollten alle habilitieren, und es war unser Ziel, uns dabei gegenseitig zu unterstützen, gegen das offensichtliche Patriarchat, das damals an den Universitäten vorherrschte. Als ich 1983 meine außerordentliche Professur (§ 31) erlangte, konnte man die Zahl von Professorinnen an der Philosophischen Fakultät an einer Hand abzählen. Damals wurde man als exotische Pflanze betrachtet. Ohne die Firnbergschen Reformen wäre eine größere Öffnung höchst wahrscheinlich nie passiert.
Hatte Ihre Freundschaft auch Auswirkungen auf Ihr berufliches Schaffen?
Wodak: In manchen Punkten sicher. Da ich auch in der Lehrerfortbildung tätig war, lernte ich von Heidi viel über Zusammenhänge und Herausforderungen im Schulsystem und Bildungsbereich.
Schrodt: Das bringt uns zur nächsten großen Gemeinsamkeit - unserem Interesse für Politik.
Wodak: Wir sind beide politisch sehr wachsam und interessiert.
Schrodt: Ich war schulpolitisch sehr engagiert, und du warst hochschulpolitisch sehr aktiv. Viele unserer Arbeiten und Artikel für Zeitungen haben wir uns vorab gegenseitig zum Lesen gegeben.
Wodak: Das ist tatsächlich eine wichtige und immer konstruktive gegenseitige Unterstützung. Wir müssen keine Angst haben, dass die Kritik verletzend ausfällt. Wenn Heidi mir etwas sagt, dann weiß ich, das ist wichtig und ernst zu nehmen. Abgesehen von tages- und bildungspolitischen Themen verbindet uns übrigens auch eine große Liebe für die Oper, insgesamt für Musik, aber auch für schöne Literatur, Film und Sport.
Schrodt: Eine weitere Gemeinsamkeit ist unser Bezug zu England.
Wodak: Ich war ab 2004 zwölf Jahre Distinguished Professor for Discourse Studies an der Lancaster University. Heidi hat mich jedes Jahr besucht. Von wissenschaftlicher Seite profitierte ich enorm von dieser Zeit. Im Vergleich zur Uni Wien war es eine kleine Universität, sehr forschungsorientiert und interdisziplinär organisiert. Es herrschte ein reger Diskurs, und diese Offenheit spiegelte sich sogar räumlich - die Türen standen immer offen.
Sie sind ja auch in London geboren.
Wodak: Für mich ist England dasjenige Land, das meine Eltern 1938 gerettet hat. Sie waren Flüchtlinge aus Wien und lernten einander erst in England kennen. Meine Mutter war die Tochter eines Rabbiners, die Synagoge am Humboldtplatz im 10. Bezirk wurde, wie alle anderen, im Novemberpogrom zerstört. Mein Vater war ein sehr politischer Mensch, er war Jurist und damals im Untergrund tätig, weil er Sozialdemokrat war, was nach 1934 ja verboten war. Er ist am 12. März 1938 sofort geflüchtet, weil sein Name bereits auf einer Liste stand, auf der jene Menschen vermerkt waren, die umgehend von den Nationalsozialisten festgenommen werden sollten. Meine Mutter ist erst später im Herbst 1938 geflüchtet und hat dann in London bei verschiedenen Familien als Putzfrau gearbeitet.
Vor ihrer Flucht hatte Ihre Mutter in Wien Chemie studiert.
Wodak: Ja, sie wurde am 13. März 1938 sofort nach dem sogenannten Anschluss von den Nazis aus der Uni rausgeworfen. Wenn man die heutige Flüchtlingspolitik in England betrachtet, kann man es sich kaum vorstellen, aber zur damaligen Zeit wurden einige wenige Doktoranden-Stipendien für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, die ihr Studium abbrechen mussten. Meine Mutter hatte sich beworben, erhielt tatsächlich ein Stipendium und konnte an der University Manchester ihre Dissertation fertig schreiben. Meine Mutter wäre sehr gerne in England geblieben, aber mein Vater wollte unmittelbar nach 1945 als britischer Soldat wieder zurück nach Wien und hat sofort Kontakt zur sozialdemokratischen Partei aufgenommen, die damals bekanntlich nicht unbedingt begeistert war, die geflüchteten Menschen zurückzuholen. Mein Vater arbeitete dann im diplomatischen Dienst - zuletzt war er Generalsekretär im Außenministerium.

"Mit London verbindet mich eine Dankbarkeit, eine tiefe Verbundenheit, aber zu Hause fühle ich mich in Wien."
- © Franz SvobodaAufgrund des Berufes Ihres Vaters sind Sie u.a. in Belgrad aufgewachsen und erst ab der vierten Klasse Volksschule nach Wien übersiedelt. Würden Sie Wien als Ihren Lebensmittelpunkt, Ihre Heimat bezeichnen?
Wodak: Mit London verbindet mich eine Dankbarkeit, eine tiefe Verbundenheit, aber zu Hause fühle ich mich in Wien. So eine tiefe Bindung habe ich zu keiner anderen Stadt.
Das Bedürfnis nach Bildung und wissenschaftlicher Arbeit dürfe ebenfalls eine Gemeinsamkeit sein.
Schrodt: Zu erkennen, wie wichtig Bildung ist, hat sicherlich mit meinem Elternhaus zu tun. Ich bin in Niederösterreich aufgewachsen, meine Großmutter war Nebenerwerbsbäuerin, hat aber viel Wert auf Bildung gelegt. Mein Vater war Handwerker und hat dann die Arbeitermatura nachgeholt. Meine Mutter war Pharmazeutin und muss als Kind sehr begabt gewesen sein, dass sie zur damaligen Zeit aufs Gymnasium gehen durfte. Bei uns zu Hause gab es eine große Bibliothek und meine Mutter hat mir nach der Arbeit immer vorgelesen.
War es von jeher ein Wunsch von Ihnen, dass Sie selbst einmal Wissen vermitteln und Lehrerin werden?
Schrodt: Das war Zufall. Ich schwankte zwischen einem Medizinstudium, Archäologie und Englisch und Deutsch. Die Wahl fiel dann auf Letzteres, ich hatte aber nicht die Absicht, Lehrerin zu werden. Erst am Ende des Studiums, als ich bereits ein Dissertationsthema hatte, meinte meine Mutter: "Ich finanziere dir die Dissertation, aber zuerst machst du das Probejahr", also die Befähigungsprüfung für das Lehramt, um eine Berufsausbildung zu haben. So kam ich an die Schule, und es gefiel mir so gut, dass ich Lehrerin wurde.
Frau Wodak, wie kamen Sie auf die Idee, Sprachwissenschaften zu studieren?
Wodak: Das war ebenfalls eher ein Zufall. Ich wusste zwar, ich möchte unbedingt studieren, war aber unschlüssig, welches Fach. Letztlich entschied ich mich, osteuropäische Geschichte und Slawistik zu studieren. Ich konnte schon Russisch, zumal mein Vater von 1964 bis 1970 Botschafter in Moskau war und ich dort eine Zeit lang zur Schule ging. 1971 wurde dann - nach zweijährigem Auslandsaufenthalt in den USA - Prof. Dressler an die Uni Wien zurückberufen und gründete das Institut für Sprachwissenschaften. Er brachte viele neue Ideen und Impulse mit. Ich ging in seine Sprechstunde und fragte, ob ich bei ihm dissertieren könnte. Die Slawistik wollte ich hinter mir lassen. Zu Beginn war es ein kleines Institut, und ich war tatsächlich seine erste Dissertantin.
Diese Studienwahl war somit eine klare Entscheidung für eine wissenschaftliche Laufbahn.
Wodak:Ja, mein Doktorat erwarb ich mit einer Promotion "sub auspiciis praesidentis", was damals bedeutete, dass man eine unbefristete Assistentenstelle an einem Institut der eigenen Wahl bekam. Ich wurde dann schließlich 1991 als Ordentliche Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft ans Institut für Sprachwissenschaften berufen und schlug eine gleichzeitige Berufung in die USA, nach Ann Arbor, Michigan, aus.

Sie zählen zu den Pionierinnen der kritischen Diskursforschung. Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte sind Diskursstu-dien rechtspopulistischer Bewegungen. Ihr Buch "Politik mit der Angst" wurde 2017 zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt. Was hat Sie bewogen, dieses Werk neu zu überarbeiten und nun mit dem Untertitel "Die schamlose Normalisierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Diskurse" herauszubringen?
Wodak: Die erste Auflage stellte ich 2014 fertig, damals lag der Fokus auf der ersten Welle des Rechtspopulismus und stand u.a. im Zusammenhang mit dem Aufstieg von Haider, Strache, Le Pen und Berlusconi. 2020, bei der zweiten Auflage, stellte ich signifikante Unterschiede in der Manifestation der rechtsradikalen Ideologien fest. Vor allem Brexit und Trump (beides 2016) bedeuteten eine Zeitenwende. Lügen wurde plötzlich akzeptabel. Die "New York Times" und die "Washington Post" konnten faktisch belegen, dass Trump in seinen Tweets bis zu 30 Mal pro Tag offenkundige Lügen verbreitet hatte. Es hat ihm bei seiner Gefolgschaft trotzdem nicht geschadet. Derart haben sich die Grenzen des Sagbaren verschoben. All das bewog mich dazu, auf den Begriff der Schamlosigkeit zurückzugreifen: Man kann lügen, man kann Leute beleidigen, man kann falsche Umfragen veröffentlichen, was in Österreich ja passiert ist - letztlich scheint alles möglich zu sein und wird akzeptiert, ja normalisiert.
Schrodt: Rote Linien werden laufend überschritten, und es gibt auch keine Entschuldigungskultur mehr.
Wodak: Und das Schlimmste: Man gewöhnt sich daran; das war die wichtigste rezente Veränderung, die nicht nur in Österreich zu beobachten ist, auch in Schweden oder in den USA, wo die Polarisierung noch viel größer ist als bei uns. Denn irgendwann wird man müde und regt sich nur noch über neue Eskalationen auf - diese Gewöhnungseffekte sind sichtbar. So wie man sich jetzt möglicherweise daran gewöhnen wird, dass sogar die niederösterreichische FPÖ salonfähig wird, trotz der sogenannten Liederbuchaffäre, trotz massiver Desinformationen über Covid-Medikamente. Das meine ich mit der Schamlosigkeit, dass bestimmte Tabus, von denen ich nie erwartet hätte, dass sie fallen würden, einfach durchbrochen werden. Wenn man sich lange mit Rechtspopulismus beschäftigt, ist es nicht schwierig vorherzusagen, wie es weitergehen wird. Es wird immer noch ein Schäuflein draufgelegt, um Aufmerksamkeit zu erlangen, einen neuen Skandal zu provozieren. Kurzzeitig wird die Aufregung wieder groß sein, die Medien werden sofort darüber berichten, und die wichtigen Themen unserer Zeit, die eigentlich diskutiert werden sollten, wo man immer noch auf Entscheidungen wartet, werden beiseitegeschoben.
Wie könnte man Ihrer Meinung dieser Dynamik entgegensteuern?
Wodak: Man muss nicht jeden Skandal auf Seite 1 bringen. Man weiß, dass es eine enge Verbindung gibt zwischen Rechtspopulismus und Medienberichterstattung - häufig verstärken sie einander. Nur wenige Medien machen bei dieser Dynamik nicht mit. Die "Wiener Zeitung" ist eine davon. Es wäre schon viel gewonnen, wenn rechtspopulistische Provokationen statt auf der Titelseite auf Seite 10 thematisiert und kommentiert oder ab und zu ignoriert würden.
Weitere Folgen aus der Reihe "Seelenverwandte":
Seelenverwandte 2: Christl Lieben und Nadja Maleh
Seelenverwandte 3: Christian und Wolfgang Muthspiel
Seelenverwandte 4: Adele Neuhauser und Miriam Stein
Seelenverwandte 5: Erika Pluhar und Anna Dangel
Seelenverwandte 6: Carolin Pienkos und Cornelius Obonya
Seelenverwandte 7: Otto Schenk und Rudolf Buchbinder
Seelenverwandte 8: Peter Kampits und Manfred Bockelmann
Seelenverwandte 9: Alfried Längle und Martin Schwab
Seelenverwandte 10: Ernst Molden und Ursula Strauss
Seelenverwandte 11: Alfred Komarek und Erwin Steinhauer
Seelenverwandte 12: Ina Regen und Violetta Parisini
Seelenverwandte 13: Mari Lang und Didi Drobna
Seelenverwandte 14: Klaus Eckel und Thomas Mraz
Seelenverwandte 16: Josh. und Bernhard Speer
Seelenverwandte 17: Dietrich Siegl und Gregor Seberg
Seelenverwandte 18: Daniel Glattauer und Manuel Rubey