"Wiener Zeitung": "Es gelingt offensichtlich immer weniger, den Nachpubertären den Zauber, die Heiterkeit und die Erfahrungsfülle der Literatur zu vermitteln oder gar schmackhaft zu machen", schrieb der Verleger Jochen Jung 2018 in einem Zeitungsartikel. Wie ist Ihre Erfahrung als Germanistikprofessor: Können die Studenten mit anspruchsvoller Literatur noch gleich viel anfangen wie vor 25 Jahren?
Klaus Kastberger: Ja, die Studentinnen und Studenten können sehr wohl etwas mit anspruchsvoller Literatur anfangen. Sie verlangen geradezu nach einer Art Literatur, die mehrschichtiger und komplexer ist, wenn sie Seminarthemen benötigen. Ich lasse die Studenten mitbestimmen, welche Bücher wir in den Seminaren behandeln wollen, und da werden meistens Bücher vorgeschlagen, die gegenteilige Meinungen und Interpretationen provozieren. Ich halte es für eine typische Umkehrung der Älteren, die Jungen für ein vermeintliches Desinteresse an Literatur verantwortlich zu machen. Es gibt ja jenseits der klassischen Formungen von Verlagen ganz neue Foren von Literatur - zum Beispiel inspiriert von Social Media, wo etwa Puneh Ansari, eine Wiener Facebook-Autorin im Umfeld von Stefanie Sargnagel, aktiv ist - oder Verlage wie Mikrotext. Das sind Dinge, die der "gesettelte" Literaturbetrieb viel zu wenig wahrnimmt.
Brauchen wir einen "diverseren" Literatur-Kanon, damit junge Menschen wieder mehr lesen, wie es die Autorin und Germanistin Teresa Reichl in ihrem jüngst erschienenen Buch "Muss ich das gelesen haben?" (Haymon) nahelegt?
Ich finde den Ansatz schon spannend und werde dieses Buch auch in meinem jetzigen Seminar zur Gegenwartsliteratur diskutieren. In den letzten Jahrzehnten ist man Diskussionen um Kanon-Fragen ja eher aus dem Weg gegangen. Früher war es üblich, an allen Germanistik-Instituten Leselisten aufzulegen. Die sind dann nach und nach von den Websites verschwunden. An der Germanistik in Graz hat man erst 2021 wieder neue Leselisten gemacht. Es gibt da einerseits fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn man jemandem vorschreiben will, was zum Bildungskanon gehört. Umgekehrt gibt es aber auch ein Bedürfnis, diese Lücke zu füllen. In diesem Zusammenhang finde ich es toll, wenn auch von anderer Seite die Forderung kommt: Das sollt ihr lesen! Man müsste nur am Ende dann auch wirklich eine Diskussion über den Kanon führen.

Der deutsche Germanist Moritz Baßler wendet sich in seinem jüngsten Buch, "Populärer Realismus" (C.H. Beck), gegen jene Verkaufsregale füllende Literatur, die leicht konsumierbar ist und ihre Bedeutungsansprüche vor allem daraus bezieht, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Wie beurteilen Sie die Lage? Ist die literarische Mehrdeutigkeit am Abstellgleis?
Baßler versucht, innerhalb eines Umfelds, in dem zusehends identitätspolitische Debatten eine Rolle spielen, nämlich in der Kultur, gleichsam "noch einmal" mit Wertungskriterien zu arbeiten, aber er windet sich dabei an den entscheidenden Punkten vorbei. Der von ihm verwendete Begriff "Midcult", den er als populären Realismus beschreibt, ist ja nur ein anderes Wort für Kitsch. Baßler aber nimmt eine Position ein, wo er dieses "Midcult" vermeintlich wertfrei sagt, dabei aber doch Kitsch meint und nur so tut, als wäre es nicht wertend. Das geht irgendwie nicht zusammen, denn er fühlt sich umgeben von lauter Midcult. Hätte er aber mehr österreichische Literatur gelesen, würde er sehen, dass es auch noch etwas anderes gibt: bessere und interessantere Literatur als diesen faden Realismus.
Sie haben heuer ein neues Buch vorgelegt: "Alle Neune. Zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur". Der Schwerpunkt liegt auf formal anspruchsvoller Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Werke ist für Sie die germanistische Archivarbeit. Was ist für Sie das Spannende an literarischen Archiven?

Von Adorno gibt es den Satz: "Literatur und Kunst zu verstehen, heißt, die Logik des Produziert-Seins zu verstehen." An Archiven, in denen ich mich jetzt seit fast 40 Jahren bewege, fasziniert mich, dass die Sprache dort materiell wird. Am Material sieht man, wie sich der literarische Eigensinn kristallisiert. Ich fand es immer faszinierend, dass mir vor allem bei unzugänglicherer Literatur der Blick in die Werkstätten Vorgänge eröffnet hat, die sich im Werk selbst dann in anderer Form manifestieren. Ödön von Horváth etwa ist bekannt dafür, dass er großartige Dialoge geschrieben hat. Karoline in "Kasimir und Karoline" sagt vor dem Karussell, als der reiche Kommerzialrat neben ihr steht: "Wenn ich jetzt einmal reite, reite ich gleich zwei Mal." Da sind sexuelle Konnotationen und gesellschaftliche Realitäten zusammengefasst. Wenn man sich das werkgenetische Material anschaut, sieht man, wie Horváth herumprobiert hat. "Wenn ich jetzt fünf Mal reite, reite ich gleich sechs Mal"... Lauter so Sachen, die im Vergleich zum Dialog der Endfassung eher lächerlich wirken. Bei Horváths Stücken meint man oft, dass seine Sätze ihm als Autor unmittelbar spontan eingefallen sind. Aber nein, gerade was am unmittelbarsten wirkt, sind jene Stellen, in die er am meisten Arbeit hineingesteckt hat. Anhand der schlechten Folie sieht man dann, warum die Endfassung so gut ist. Für mich hat die Arbeit mit den Materialien im Archiv den Respekt vor dem fertigen Werk und den Potenzen, die sich darin befinden, wesentlich gesteigert.
Sie stellen Ihr Buch Ende April auf der Buchmesse Leipzig vor und sind beim Österreich-Schwerpunkt als Moderator mehrerer Lesungen sowie als Co-Host der Literaturshow "Roboter mit Senf" im Großeinsatz. Was kann der Auftritt als Gastland auf der Buchmesse Leipzig dem österreichischen Literaturmarkt bringen?
In der "Neuen Zürcher Zeitung" hat im März ein großer Artikel die Frage behandelt, warum die österreichische Literatur im Vergleich zur Schweiz so viel präsenter am deutschen Buchmarkt ist. Seit Beginn der 1970er Jahre, als mit Kreisky eine Liberalisierung der Kulturpolitik stattgefunden hat und plötzlich eine Masse an österreichischen Autorinnen und Autoren präsent war, ist diese österreichische Literatur ja ein absolutes Erfolgsprodukt. Es gibt kaum ein anderes Produkt, das Österreich so erfolgreich an den bundesdeutschen Markt verkauft hat wie die österreichische Literatur. Leipzig wird das noch einmal verstärken. Es wird ein Fest der österreichischen Literatur, das in der ganzen Breite zeigt, dass die Österreicher da sind. Und die Deutschen werden bemerken, dass das eigentlich schon seit Jahrzehnten so war.

"Es gibt kaum ein anderes Produkt, das Österreich so erfolgreich an den bundesdeutschen Markt verkauft hat wie die österreichische Literatur. Leipzig wird das noch einmal verstärken."
- © Werner SchandorSie haben - ebenso wie Daniela Strigl, Bernhard Fetz und weitere Germanisten, die Schlüsselstellen besetzen - bei Wendelin Schmidt-Dengler an der Universität Wien studiert. Was hat er bewirkt?
Schmidt-Dengler hat a) Anfang der 1970er Jahre Gegenwartsliteratur als Hochschulstoff etabliert, und b) hatte er ein unglaubliches Talent, fesselnd von eigenen Lektüreerlebnissen zu erzählen. Das hat uns fasziniert. Es herrschte eine sehr kreative Atmosphäre in diesem Umfeld, und es war auch eine glückliche Fügung, dass in den 80er und 90er Jahren in seinen Dissertantenseminaren viele Leute zusammengekommen sind, die einen starken Drang zur österreichischen Gegenwartsliteratur hatten. Es war auch noch sehr attraktiv, sich vorzustellen, im Hochschulbereich Karriere zu machen. Ich hatte damals das Gefühl, die Hochschule braucht uns. Ich fürchte, dass unsere Unis im Augenblick dieses Gefühl nicht unbedingt vermitteln. Es ist eher das Gefühl, wir wurschteln uns irgendwie durch, gerade auch in geisteswissenschaftlichen Bereichen.
Ihnen wurde kürzlich der Staatspreis für Literaturkritik 2023 zugesprochen. Die Jury würdigt Ihre Gabe, "profundes Wissen mit niederschwelliger Vermittlung zu verknüpfen". Was fasziniert Sie nach all den Jahrzehnten nach wie vor an der Literatur, mit der Sie sich befassen?
Dass immer wieder Autoren und Autorinnen nachkommen, die mich vom Hocker reißen. Weil sie so einen emotionalen Drive haben, weil sie in mir etwas auslösen, weil sie meine Welten zum Einsturz bringen und mir neue eröffnen. Und weil sie wo herumschüren, wo ich bislang nicht hingeschaut habe. Ich finde es übrigens gut, dass es auch für Kritik Preise gibt und dass die Kritik dadurch einen Stellenwert bekommt, denn Kritik findet heute ja kaum mehr statt. Eher eine Art von Würdigung, wie ein purer Durchlauferhitzer: Literatur wird himmelhoch hinaufgehoben oder kategorial abgelehnt, wichtig aber wäre das Gespräch darüber.