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Margarete Mitscherlich

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen
Margarete Mitscherlich hat das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut mitbegründet. Foto: S. Fischer Verlag/Breitinger

Die fast 94-jährige deutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich über das Lebensgefühl im hohen Alter, die Angst vor dem Tod, die Treue zu ihrem Mann, die Fähigkeit zur Liebe - und über die Radikalität eines wahrhaftigen, ungeschönten Blicks auf sich selbst.


"Wiener Zeitung": Frau Mitscherlich, Sie leben heute, obwohl Sie bald Ihren 94. Geburtstag feiern, noch in Ihren eigenen vier Wänden. Wie wichtig ist Ihnen Selbständigkeit? Margarete Mitscherlich: Ich habe bereits mit meinem Mann, der 1982 gestorben ist, in dieser Wohnung gelebt, also lebe ich hier schon sehr lange. Selbständig will ich auf jeden Fall sein und in meinen vier Wänden bin ich das auch. Ich kann gut alleine sein, habe meine Bücher, meinen Rollator und bezahlte Haushaltshilfe. Es gibt außerdem vieles, was mich noch interessiert. Lust am Wissen habe ich immer noch.

Von der Autorin Silvia Bovenschen stammt das Zitat: "Ich überlege, ob die Abwägung zwischen dem Altersgemäßen und dem Zeitgemäßen nicht die wahre Artistik des Alterns ist." Älter zu werden, ohne sich der Welt zu entfremden - wie gelingt Ihnen das?

Ich habe einen Sohn, Enkelkinder und inzwischen auch bereits eine Urenkelin . . .

. . . mit denen sie sich gut verstehen?

Ja, wir sehen uns oft. Ich weiß zudem auch, wie sie leben. Wissen Sie zum Beispiel, was Lap Dance ist?

Keine Ahnung!

Ha! Sehen Sie . . . Möglicherweise sind auch Sie schon der Jugend entfremdet!

Ertappt! Aber nun bin ich neugierig. Verraten Sie mir bitte, was Lap-Dance ist?

Wörtlich übersetzt bedeutet es Schoßtanz. Es ist ein erotischer Tanz, wenn Sie so wollen, der offenbar in vielen Bars in London praktiziert wird. Ich habe das in einem Buch über Jugendsexualität gelesen. Als ich meine Enkel nach Lap-Dance gefragt habe, wussten die sofort, wovon ich rede.

Viele ältere Menschen sagen, dass sie sich jünger fühlen, als sie tatsächlich sind. Wie ist das bei Ihnen?

Einerseits kann ich mich durchaus erinnern, wie ich mit dreißig oder mit fünf Jahren war. Etwas in mir ist noch 5-jährig, 30-jährig und so weiter. Aber nun bin ich fast 94 Jahre alt und habe gleichzeitig sehr das Gefühl, am Ende des Lebens zu stehen. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe kein Bedürfnis, noch sehr viel länger zu leben. Ich bin also durchaus so alt, wie ich bin.

Wie würden Sie dieses Lebensgefühl beschreiben?

Ich erlebe es als immer selbstverständlicher, dass das menschliche Leben nicht mehr als ein Abschnitt ist. Wenn ich mich zurück erinnere, hatte ich mit 30 Jahren nicht das Gefühl, dass der Mensch kurz auf der Erde weilt. Doch wenn ich mir vor Augen halte, dass die Erde bereits Milliarden Jahre alt ist, die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen aber lediglich 80 Jahre beträgt, ist das nur eine sehr, sehr kurze Zeitspanne. Das macht mir bewusst, welch geringe Rolle im Grunde der Einzelne spielt.

Wie verändert das Ihren Blick auf das Leben?

Sehr. Mein Blick ist auf das Ende gerichtet, und auf die Gewissheit, dass ich nicht mehr allzu lange leben werde. Im Grunde leben wir ja seit unserer Geburt mit dem Todesurteil, was wir natürlich häufig verdrängen.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Nicht, während ich jetzt hier mit Ihnen sitze. Und wissen Sie: Ich habe meinen Mann sterben sehen. Er ist friedlich gestorben, hat zunächst noch schwer geatmet, dann plötzlich nicht mehr, und seine Züge haben sich sehr entspannt.

Hat Sie das verblüfft?

Überrascht hat mich diese generelle Entspannung im Augenblick des Todes. Endlich muss ich nicht mehr anständig aussehen, meine Haare waschen oder zum Beispiel Interviews geben!

Wie wichtig ist es Ihnen denn, "anständig" auszusehen? Sind Sie eitel?

Ich halte mich nicht für besonders eitel, aber ich bemühe mich, einigermaßen gepflegt und ordentlich auszusehen. Und ich gebe zu, dass ich eine gewisse Vorliebe für teure Cremes habe. Früher war die Körperpflege allerdings mehr mit Lust verbunden. Nicht zu verwahrlosen ist im Lauf der Zeit anstrengender geworden. Früher war es mir immer wichtig, eine gepflegte Frau zu sein . . .

. . . welche Sie ja heute immer noch sind.

Aber glauben Sie mir: Es ist mühsam, wie das Alter insgesamt.

Sie sagen das recht milde. Hat sich Ihre Haltung gegenüber Ihrer eigenen Person verändert?

Ich bin viel netter und milder zu mir geworden. Ich verzeihe mir vieles, das ich mir früher nicht vergeben hätte. Früher hatte ich außerdem viel mehr mit Eifersucht und Neid zu kämpfen.

Hatten Sie denn in Ihrer Ehe Grund dazu? Immerhin hat Ihre Beziehung zu Ihrem Mann gewissermaßen als Seitensprung begonnen. Denn er war ja ein verheirateter Familienvater.

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982), mit dem Margarete 27 Jahre verheiratet war.

Seine Frau, meine Familie und meine Freunde wussten Bescheid. Dass mein Mann durchaus auch andere Frauen attraktiv fand, habe ich immer gewusst. Genauso war mir auch klar, dass es Frauen gab, die ihn gern verführt hätten. Das war schwer für mich zu ertragen, weil ich es unwürdig fand, eifersüchtig zu sein. Gegen Männerfreundschaften hatte ich nichts. Ich wollte nur nicht, dass er mit anderen Frauen flirtet.

Und Sie selbst: Waren Sie treu?

Natürlich gab es Männer, die mir gefallen haben. Und wenn ich wirklich gewollt hätte, hätte sich sicherlich die eine oder andere Gelegenheit zum Seitensprung ergeben. Aber letztlich war ich treu und fand, dass mein Mann dann also auch verzichten konnte. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob er das immer getan hat . . . ( lacht )

Wie muss ein Mann sein, den Sie mögen?

Weder zynisch noch widerlich!

Was macht einen Mann für Sie widerlich?

Die Unfähigkeit, eine Verbindung zwischen Liebe und Sexualität zu sehen. Freud sagte einmal, dass der Sexualität der göttliche Funke soweit genommen worden sei, dass man ihn tatsächlich nicht mehr zu finden vermag. Ohne Sexualität wären Sie und ich nicht auf der Welt, gäbe es die Menschheit nicht. Doch der sexuelle Akt ist regelrecht verschandelt worden. Wenn es nur noch um Zynismus oder reine Technik geht, dann . . .

. . . hat das mit Liebe nichts mehr zu tun?

Genau! Bei allem Wissen darum, dass manche Ehen katastrophal sind und Familien ein fürchterliches Gefängnis darstellen können: Wenn man nicht zu einem Menschen eine tiefere Bindung entwickelt, also so etwas wie Liebe verspürt und das Gefühl hat, dass diese Person einem wichtiger ist als alles andere auf der Welt, ist das Leben doch trostlos!

Wenn man nun aber keinen Partner mehr hat oder Single ist?

Dann kann es auch ein Enkelkind oder ein Freund beziehungsweise eine Freundin sein, für die man tiefe Zuneigung empfindet. Das Wesentliche ist, Beziehung zueinander aufzunehmen.

Was bedeutet für Sie in diesem Zusammenhang Emanzipation?

Emanzipation bedeutet auch Befreiung vom steten Kreisen um sich selbst. Ich habe es bei einer Enkelin erlebt, die ein Kind bekommen hat und nun zum ersten Mal jemanden mehr liebt als sich selbst. Die Liebesfähigkeit macht einen Menschen doch erst zum Menschen. Die Fähigkeit, jemanden lieben zu können, egal ob er schön, hässlich oder was auch immer ist, macht merkwürdigerweise glücklich. Und nicht die Tatsache, geliebt oder bewundert zu werden. Lieben zu können, befreit uns von einem übergroßen Ich-Gefühl und auch davon, uns selbst allzu wichtig zu nehmen. Ich persönlich habe zwar Angst davor, zu verwahrlosen, aber wichtiger ist es mir, mich von Herzen um einen Menschen zu sorgen und dafür, dass es ihm oder ihr gut geht.

Und wie steht es mit der Emanzipation in der Berufswelt?

Emanzipation bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Befreiung von Unterdrückung. Einerseits geht es in diesem Zusammenhang also darum, dass wir uns selbst nicht zu wichtig nehmen, andererseits müssen wir uns aber auch selbst achten, uns im Berufsleben durchsetzen, Achtung erringen und anderen Menschen Respekt entgegenbringen. Wenn ich den kurzen Lebensabschnitt bedenke, der dem Menschen gegeben ist, bedeutet dies nur eine kurze Zeitspanne, in der er die Kraft hat, sich auch in der Berufswelt durchzusetzen. In der Jugend ist man abhängig und im Alter hat man nicht mehr genug Energie. Es bleibt also nicht viel Zeit, um unsere Fähigkeiten und Begabungen an den Mann oder an die Frau zu bringen. Und Sie müssen danach trachten, nicht unterdrückt und misshandelt zu werden.

Die Journalistin Bascha Mika ist wütend auf die Frauen und wirft ihnen in dem Buch "Die Feigheit der Frauen" vor, zu bequem zu sein. Hat sie Ihrer Meinung nach Recht?

Mein Gott! Wir wurden doch über Jahrhunderte hinweg in Rollen hineingezwungen. Wir sind dazu erzogen worden, es als weiblich anzusehen, zu Hause zu bleiben, für die Kinder und den Ehemann zu sorgen, also im familiären Umfeld die Liebende zu sein. Dagegen galt es als männlich, sich draußen in der Welt zu behaupten. Und wenn sich nun heutzutage die Frauen in der Welt behaupten, gelten sie schnell als vermännlicht. Es geht also nicht um Feigheit und Bequemlichkeit, sondern um Traditionen. Die jahrhundertealten Rollenzuweisungen können sich doch nicht von heute auf morgen ändern.

Ist es also Zeit für eine Frauenquote? Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist bekanntlich dagegen.

Da muss ich Frau Merkel vehement widersprechen. Was über Jahrhunderte hinweg Rollentradition war, ändert sich nicht von heute auf morgen. Die Männer müssen sozusagen "geschubst" werden, um anzuerkennen, dass Frauen andere Rollen übernehmen. Die Männer denken doch gar nicht daran, ihre Rollen aufzugeben, an die sie sich so gewöhnt haben. Richtig ist natürlich, dass mit der Gewöhnung auch eine Einengung der Möglichkeiten einhergeht. Das mögen manche bequem nennen. Aber eine Rolle zu übernehmen, die bisher keine traditionell weibliche war, kostet sehr viel mehr Kraft, als eine traditionell männliche Rolle weiterzuführen.

Beruflicher Erfolg hat ja auch damit zu tun, dass man gelegentlich die Ellbogen ausfährt und Konkurrenten aus dem Feld drängt. Sind Frauen generell weniger aggressiv als Männer?

Nein, aber anders. Rein körperliche Aggression findet sich bei Frauen weniger, allein schon deshalb, weil sie nicht über die gleiche Muskelkraft wie Männer verfügen. Frauen treten eher hilflos um sich. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke und an Streitsituationen mit meinem Bruder, dann erinnere ich mich noch sehr gut daran, dass ich in meiner Wut wild um mich geschlagen habe, aber dabei nicht gezielt vorgegangen bin.

Frauen werden, wenn sie aggressiv sind, häufig als zickig empfunden.

Frauen sind eher verbal aggressiv, sie können mit Worten vergiften. Frauen wird auch eine gewisse Hinterhältigkeit zugeschrieben.

Können Sie selbst giftig werden?

Ich war eigentlich nie besonders aggressiv. Ich konnte furchtbar wütend werden, wenn man mich angegriffen hat. Ich habe mir wenig gefallen lassen.

Sie haben das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut mitbegründet und dort auch Analytiker ausgebildet. Selbst mit 90 Jahren haben Sie noch Patienten betreut. Fehlt Ihnen Ihre Arbeit heute?

Ich vermisse meine Patienten. Manche rufen immer noch an und wollen beraten werden.

Sie haben die Psychoanalyse als Weg ins Glück bezeichnet. Warum?

Die Psychoanalyse hat mich in das Glück der Befreiung von mir selbst und von vielen Abwehrmechanismen eingeführt: Befreiung von Schuld, von Gefühlen, die man in sich nicht dulden möchte. Auch von der Abwehr Menschen gegenüber, die man ablehnt. Ein wenig Freiheit von Vorurteilen sich selbst und anderen gegenüber - das ist für mich ganz klar der Weg ins Glück.

In ihrem Buch "Die Radikalität des Alters" schreiben Sie über Sex zwischen Therapeuten und Patienten. An sich ist das ja ein offenes Geheimnis. Warum war es Ihnen wichtig, das noch einmal so ausführlich zu thematisieren?

Es kommt einfach so oft vor. Da sitzen nun Mann und Frau zusammen und sprechen über alles, unter anderem auch viel über Sex. Liebesbeziehungen in der Analyse entstehen häufiger zwischen einem Therapeuten und einer Patientin als umgekehrt. Aber das Ziel ist es, mit Worten zu heilen, was an Konflikten zwischen Trieben und Gewissen herrscht. Der verliebte Therapeut ist nicht mehr derjenige, der Konflikte bewusst machen kann. Es besteht dann keine Behandlungssituation mehr, sondern eben eine Liebesbeziehung.

Sprechen Männer in der Therapie leichter über Sex?

Ganz klar. Frauen sind bisher ja nicht gerade dazu erzogen worden, zu sagen, wie der Akt der Sexualität, der ja ein lustvoller sein soll, stattfinden möge. Also fällt ihnen auch das Reden darüber schwerer. Zumindest bei den Älteren ist das so.

Und wie sind Sie damit umgegangen, wenn Sie einen Ihrer Patienten nicht mochten?

Dann haben wir natürlich darüber gesprochen und es analysiert. Es gehört sehr viel Mut dazu, wirklich aufrichtig zu sein und auch das in Worte zu fassen, was man denkt. Spätestens dann habe ich gelernt, diesen Menschen zu schätzen oder sogar zu bewundern. Aber es gibt auch Menschen, die sich in Pseudowahrheiten flüchten und denen es gar nicht darum geht, Einsichten in wirkliche Probleme zu gewinnen. Aber die gehen meistens auch nicht in Analyse.

Wesentlich ist also die Selbsterkenntnis?

Genau! Doch ebenso wichtig ist es, die Situationen besser zu durchschauen, in denen wir stecken. Denn der Mensch ist ja ein soziales Wesen, ob er will oder nicht.

Ihr letztes Buch trägt den Titel "Radikalität des Alters". Und Sie selbst haben sich immer wieder als radikale Feministin bezeichnet. Was an Ihnen ist denn radikal?

Mein Bestreben, radikal die Wahrheit zu ergründen. Und keine Angst davor zu haben, Wahrheiten zu ergründen, die für einen selbst unangenehm sind.

Zur PersonMargarete Mitscherlich gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sie wurde 1917 als Tochter eines dänischen Arztes und einer deutschen Lehrerin in Dänemark geboren und studierte u.a. in München, Heidelberg und London. 1947 traf sie in der Schweiz den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908-1982), den sie 1955 heiratete. Ihr gemeinsamer Sohn wurde bereits 1949 geboren. 1967 veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Mann das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern". Das Buch, das zum Bestseller wurde, handelt vom Unvermögen der Deutschen, nach Krieg und Nazi-Terror wirkliche Trauerarbeit zu leisten. Zu Mischerlichs bedeutendsten Veröffentlichungen gehören darüber hinaus "Die friedfertige Frau" (1985) und "Über die Mühsal der Emanzipation" (1990).

Mitscherlich hat sich selbst immer wieder als radikale Feministin bezeichnet, und auch ihr jüngstes Buch ist 2010 unter dem Titel "Die Radikalität des Alters" bei S. Fischer erschienen. Radikal zu sein heißt für die mit vielen Preisen bedachte Analytikerin: "Keine Angst davor zu haben, Wahrheiten zu ergründen, die für einen selbst unangenehm sind."

Die 94-jährige Psychoanalytikerin lebt seit Jahrzehnten in einem gepflegten Neubau in Frankfurt am Main, Stadtteil Westend, nur wenige Schritte entfernt von der Synagoge. Ein paar Straßen weiter befindet sich das Sigmund-Freud-Institut, wo sie und ihr Mann Alexander Mitscherlich gelehrt und gearbeitet haben.

"Frauen sind eher verbal aggressiv, sie können mit Worten vergiften - und hinterhältig sein."

"Lieben zu können, befreit uns von einem übergroßen Ich-Gefühl und auch davon, uns selbst allzu wichtig zu nehmen."

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin und Coach. Sie lebt in München. 2009 hat sie, gemeinsam mit Andreas Wirthensohn, das Buch "Keine Zeit zum Älterwerden" im Verlag Knesebeck herausgebracht.