Wiener Zeitung: Frau Mayröcker, in Ihrem neuesten Lyrikband, "Scardanelli", finden sich auffallend viele persönliche Widmungen. Drei der Gedichte sind beispielsweise Bodo Hell zugedacht. Wissen Sie schon im Voraus, dass Sie ein Gedicht einem bestimmten Menschen widmen möchten, oder ergibt sich das erst im Prozess des Schreibens?

Friederike Mayröcker: Das ist unterschiedlich. Aber meistens weiß ich es schon im Vorhinein.

Bodo Hell: Das Schöne ist, dass man sich einerseits wahnsinnig freut, wenn man ein Gedicht liest, das einem zugedacht wurde. Andererseits hat man oft das Gefühl, Friederike entwirft eine andere Person, an die man sich annähern könnte, bzw. eine Situation, die man halluziniert haben könnte.

Mayröcker: Halluzination spielt natürlich eine große Rolle. Der Zustand während des Schreibens ist an und für sich ein ganz außerordentlicher.

In einem früheren Interview meinten Sie, dass Ihre Texte nicht autobiografisch, sondern authentisch seien.

Mayröcker: Das ist ein zweischneidiges Schwert. In irgendeiner Form ist natürlich immer ein bisschen Autobiografie vorhanden, die man allerdings nicht gleich merkt, weil sie oft verhüllt wird.

Hell: Viele derer, denen du Gedichte gewidmet hast, erkennen sich in deinen Zuschreibungen bisweilen nicht wieder. Und genau das finde ich das Spannende. Es sind keinesfalls Übertragungen im realen Sinn, sondern die Wahrnehmung ist immer in einer Weise verschoben. Manchmal habe ich fast den Eindruck, du gibst den Personen in deinem Werk Namenshülsen. Ich bin gar nicht sicher, ob diese Gedichte wirklich uns gewidmet sind.

Mayröcker: Doch, es hat schon immer etwas mit diesen ganz speziellen Menschen zu tun. Ich würde sagen, es ist eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit.

Hell: Meiner Leseerfahrung nach erfährt man über ein Gedicht nicht mehr, wenn man darüber informiert ist, welche Konstellationen - autobiografischer oder biografischer Natur - gerade bei dir ablaufen. Eine Art Schlüssellochliteratur wird man in deinem Werk nicht finden.

Mayröcker: Das würde ich auch nie wollen. Ich könnte übrigens auch nie Memoiren schreiben.

"Halluzination spielt eine große Rolle. Der Zustand während des Schreibens ist ein ganz außerordentlicher": Friederike Mayröcker und Bodo Hell im Gespräch. Foto: Dobretsberger
"Halluzination spielt eine große Rolle. Der Zustand während des Schreibens ist ein ganz außerordentlicher": Friederike Mayröcker und Bodo Hell im Gespräch. Foto: Dobretsberger

Hell: Die Menschen, die in deinem Werk vorkommen - ich nenne sie jetzt einmal Substitutionsfiguren -, ermöglichen es, dass jeder, der es liest, sich selbst angesprochen fühlt. Diese verschiedenen Grade der Nähe zu den Realpersonen, dieses abschattierte System von Figuren und Namenskürzeln sind meiner Meinung nach ein genialer Zug, den Leser bei der Stange zu halten.

Was war für Sie aber nun konkret dafür ausschlaggebend, diese drei Gedichte in "Scardanelli" Bodo Hell zu widmen?

Mayröcker: Da müsste ich erst nachschauen - ich kann keines meiner Gedichte auswendig.

Hell: Ich denke, das hängt damit zusammen, dass man deine Gedichte jedes Mal neu liest. Deine Texte sperren sich gegen das Auswendiglernen. Obwohl sie aus dem Gedanken- und Assoziationszusammenhang kommen, beinhalten sie überraschenden Wendungen und Sprünge, die sich dem Memorieren widersetzen. Gleichzeitig jedoch hätte man sie gerne parat. Was deshalb der Fall ist, weil du Bilder entwirfst, die man als Leser nicht vergisst.

Denken Sie da an ein konkretes Beispiel?

Hell: Zum Beispiel an den Text mit den Schwalben, die mit aufgesperrten Schnäbeln so tief fliegen, dass ihre roten Zungen zum Vorschein kommen. Seither warte ich immer darauf, dass ich das irgendwo sehe.

Mayröcker: Ja, diese Szene ist eine Kindheitserinnerung aus Deinzendorf, die mich bis heute fasziniert. Nach dem Regen flogen die Schwalben tatsächlich auf Augenhöhe.

Hell: Vielleicht noch ein Wort zu den mir gewidmeten Gedichten. Friederike schenkte mir vor einiger Zeit zwei Rosenkugeln; eine rote und eine grüne. Diese Rosenkugeln sind nun in meinem Garten im Kamptal, von dem im Gedicht "oh Phantasus, mit Konrade, zerbrochenen Blüthen" die Rede ist. Friederike war noch nie vor Ort, um sie zu sehen. Ich habe den Eindruck, dass dieses Bild der Rosenkugeln umso mächtiger ist, je weniger du sie gesehen hast.

Mayröcker: Rosenkugeln sind auch eine ganz starke Erinnerung an Deinzendorf. Wir hatten zwar keine, aber in den Nachbarsgärten waren welche. Das hat mich ungemein beeindruckt.

Hell: Weil man sich darin spiegelt?

Mayröcker: Man spiegelt sich - und sie leuchten, sie haben diesen ganz eigenartigen Glanz.

Dieses Gedicht ist also auch eine Mischung aus Fantasie und Wirklichkeit?

Mayröcker: Ja, die Rosenkugeln und die Beschreibung von Bodo Hells Gestik der Hände sind Wirklichkeit, alles andere ist bislang leider nur in der Fantasie möglich gewesen.

Hell: In diesem Zusammenhang gibt es noch eine Parallele mit der Alm, wo du und Ernst Jandl mich immer besuchen wolltet. Es hat sich leider nie ergeben, aber immer war der Gedanke da, mit dem Hubschrauber hinauf und über die Alm hinweg zu fliegen. Ähnlich wie in diesem Gedicht: Man hat das Gefühl, du warst schon in diesem Garten, ohne dass du je dort gewesen bist.

Wie lange reicht Ihre Freundschaft mittlerweile zurück?

Mayröcker: Bis ins Jahr 1975.

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