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Herbert Watzke

Von Alexander Ginzel und Wenzel Müller

Sterbehilfe
Herbert Watzke: "Fast alle Menschen wollen die Wahrheit über sich erfahren, wollen wissen, wie lange sie noch zu leben haben." Foto: Ginzel

Herbert Watzke, Leiter der Palliativstation am Wiener AKH, über die tiefe Befriedigung, schwerkranken Menschen einen sanften Tod zu ermöglichen.


Wiener Zeitung: Herr Prof. Watzke, auf Ihre Palliativstation im Wiener Allgemeinen Krankenhaus kommen sogenannte austherapierte Patienten, also Patienten, bei denen keine Chance mehr auf Heilung besteht. Wie können Sie diesen Menschen noch helfen? Herbert Watzke: Sie haben in Ihrer Frage schon ein Reizwort genannt: austherapiert . Damit wird ja meistens ausgedrückt, dass etwa eine Krebserkrankung schon so weit fortgeschritten ist, dass keine Medikamente mehr helfen. Wenn das der Fall ist, wenn also das Karzinom nicht mehr zurückgedrängt werden kann, ist der Patient aber nicht "austherapiert". Ganz im Gegenteil: er benötigt dann andere Therapien, die seine Beschwerden in dieser körperlich und seelisch schwierigen Situation lindern können. Wir füllen dieses vermeintliche therapeutische Vakuum. Palliare heißt schützen: Wir legen gleichsam einen schützenden Mantel um den Patienten, der sich in einer existenziellen Krise befindet. Er hat eine Erkrankung, die mittelbar zum Tod führen wird, sei es in fünf Wochen oder in fünf Jahren. Wir wollen diesem Menschen in erster Linie helfen, sich neu zu orientieren. Er ist nämlich in der Regel ganz auf seinen Tumor fixiert. Wir wollen ihm vermitteln, dass es jenseits des Tumors und seiner Krankheit auch noch ein Leben gibt.

Palliativmedizin wird landläufig mit Schmerzbekämpfung gleichgesetzt. Welche Bereiche und Aufgaben umfasst sie darüber hinaus?

Die Palliativmedizin umfasst vier Felder: Sie kümmert sich um die körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Belange des Patienten. Wir arbeiten hier, wie es für jede Palliativstation vorgeschrieben ist, in einem interdisziplinären Team mit Krankenpflegern, Psychologen, Sozialarbeitern und Seelsorgern. Schmerzen sind heute sehr gut behandelbar. Es wäre übertrieben zu sagen, dass Patienten gar keine Schmerzen mehr zu erleiden hätten, aber wir schaffen es, die Schmerzen weitgehend zurückzudrängen. Aus langjähriger Erfahrung kann ich sagen, dass das größte Problem für schwerkranke Patienten am Lebensende ungelöste familiäre Konflikte sind. Das belastet sie sehr. Was sich da über Jahre und Jahrzehnte eingegraben hat und möglicherweise nur oberflächlich gekittet wurde, das bricht nun auf, und auch wir vom Team können in der Regel die Konflikte nicht lösen.

Welchen Stellenwert hat die Palliativmedizin in Österreich im Vergleich zum Ausland?

Wir haben in Österreich spät mit der Palliativmedizin begonnen - federführend waren diesbezüglich England, die skandinavischen Länder und Holland -, doch in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht. Es gibt einen Plan, wie die palliative Versorgung österreichweit ausgebaut werden soll, ein Plan, um den uns andere Länder beneiden. Am Eingang des AKH steht das Motto: "AKH Wien. Die menschliche Größe". Dass sich die Medizin auch für das Lebensende zuständig fühlt, ist heute Konsens, gehört gewissermaßen zur Political Correctness.

Ist das Lebensende ein Bereich, wo noch Fragen offen sind und Forschungsbedarf besteht?

Ja, wir wissen beispielsweise sehr wenig darüber, was der Mensch in seinen letzten zwei, drei Tagen vor dem Tod, wenn er bereits sein Bewusstsein verloren hat und sich nicht mehr äußern kann, empfindet. Hat er Schmerzen? Müssen wir die Schmerzmittel vielleicht höher dosieren? Soll ihm Flüssigkeit zugeführt werden - oder ist seine Flüssigkeits- und Nahrungsverweigerung bereits Teil des Sterbeprozesses? Wir agieren hier in einem Bereich, wo wir sehr wenig wissen. Um diese offenen Fragen zu klären, führen wir im Augenblick eine große Untersuchung durch, die uns mehr Aufschluss über die Regulation des autonomen Nervensystems liefern soll. Uns interessiert vor allem: Gibt es in dieser finalen Phase noch ein Wohlfühlen, und wenn ja, wie kann es positiv beeinflusst werden?

Wie verhalten sich sterbenskranke Menschen? Sind sie wütend, verzweifelt oder gelassen?

Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Als Nicht-Geburtshelfer sage ich: Der Mensch kommt auf ziemlich uniforme Art auf die Welt, durch den Geburtskanal, und verlässt sie auf ganz unterschiedlichen Wegen - durch den Kanal kommt er, übers Meer schwimmt er wieder hinaus. Viele Menschen können bis zuletzt nicht loslassen und wollen nicht wahrhaben, dass sie sterben werden. Wir hatten hier aber auch einmal eine ältere Patientin, die offen über ihren Tod gesprochen hat. Was sie in ihren letzten Lebenstagen zu sich nahm, waren ausschließlich Sekt-Orange und Soletti. Sie starb dann sehr friedlich.

Wut ist eine natürliche Reaktion auf ein traumatisches Ereignis. Die Menschen stellen sich die Frage: Warum passiert gerade mir das? Warum muss gerade ich sterben? Sie richten Aggressionen gegen sich und ihre Mitmenschen. Das ist ein natürlicher Verarbeitungsprozess, und unser Personal ist geschult, die Aggressionen aufzufangen. Unglaublich, aber wahr: Fast alle Menschen wollen die Wahrheit über sich erfahren, wollen wissen, wie es um sie steht und wie lange sie noch zu leben haben.

Sagen Sie das auch den Patienten? Wie sicher sind denn solche Prognosen? Wir kennen aus der Literatur die mittlere Lebenserwartung für gewisse Krankheiten. Diese Information drängen wir dem Patienten zwar nicht auf, aber wir teilen sie ihm mit, wenn er danach fragt. Dabei gehen wir vorsichtig vor. Zunächst sagen wir: Es sind keine Jahre mehr. Möchte der Patient es genauer wissen, so sagen wir ihm, wie viele Monate oder Wochen es wahrscheinlich noch sein werden. Man könnte denken, dass der Patient danach völlig fertig ist. Aber das Gegenteil ist der Fall: Er ist danach oft viel entspannter. Endlich weiß er Bescheid. Endlich hat er die Frage gestellt, die er sich die längste Zeit nicht zu stellen getraut hat. Die Unsicherheit ist weg.

Schenken Sie auch den Angehörigen reinen Wein ein?

Uns ist es angenehm, wenn bei den Aufklärungsgesprächen der Patienten ein Angehöriger dabei ist. Wir wollen keine Situation schaffen, wo Angehörige mehr wissen als der Patient. Wir sind dem Patienten verpflichtet, und nur er hat das Recht, Informationen zu erhalten. Er kann sie dann weitergeben, wem er will. Oft hören wir von Angehörigen: "Das dürfen Sie meiner Mutter aber nicht sagen. Sie ist doch schon so schwach und das wird sie nicht überleben." Unserer Erfahrung nach wollen die Patienten nicht belogen werden.

Gibt es Zeiten, in denen sich die Todesfälle häufen?

Generell ist es so, dass in unseren Breiten in der Winterjahreshälfte die Todesfälle gering überwiegen. Individuell ist es so, dass man den Eindruck hat, dass viele sehr schwer kranke Menschen erst sterben können, wenn sie loslassen, weil ein letztes Problem gelöst ist oder ein wichtiges letztes Ziel, etwa die Geburt eines Enkels noch zu erleben, erreicht ist. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt es aber nicht.

Haben Sie schon Spontanheilungen erlebt, also dass sich ein Patient wider Erwarten erholt hat?

Nein, persönlich noch nicht. Aber Spontanheilungen gibt es, das ist unbestritten. Was ich jedoch bereits erlebt habe, sind ungewöhnliche Krankheitsverläufe. So lebt etwa ein Patient nun schon das Vierfache jener Zeit, die ich ihm prognostiziert hatte. Wunder gibt es immer wieder. Wir sind auch sehr dafür, dass Patienten auf Wunder hoffen. Meiner Ansicht nach muss ein Raum bleiben für Hoffnungen und Wünsche, auch wenn sie irrational sind.

Wie merken Sie, wann der Sterbeprozess einsetzt?

Es gibt verschiedene Definitionen, wann der Sterbeprozess einsetzt, viele knüpfen ihn an den Bewusstseinsverlust. Oft erleben wir es, dass Patienten über Tage schwach und müde sind, wir aber mit ihnen noch reden können - und plötzlich sind sie tot. Wir fragen uns dann: Warum ist die Person gerade heute gestorben? Vor kurzem hatten wir eine Patientin, die in völligem Frieden im wahrsten Sinne des Wortes von Tag zu Tag weniger wurde - sie ist geradewegs wie eine Blume verwelkt. Das Berührendste war eine junge Frau, die zu ihrer an ihrem Bett sitzenden Großmutter sagte: "Diese Nacht werde ich meine Larve verlassen und wie ein Schmetterling nach oben fliegen". In jener Nacht ist sie tatsächlich gestorben. Was sie sicherlich nicht wusste: Auch Kinder in den KZs haben an die Wände Schmetterlinge gemalt.

Wie verarbeiten Sie das Leid, mit dem sie jeden Tag konfrontiert sind?

Freud hat einmal gesagt: Man überlebt in dieser Situation, wenn man nicht gefühlsangesteckt wird. Im Fall einer Gefühlsansteckung kann man nicht mehr helfen, da geht man mit dem Patienten in seinem Leid unter. Nahe Angehörige von mir könnte ich auf dieser Station sicherlich nicht behandeln. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass das Schicksal eines Patienten einem von unserem Team besonders nahe geht. In dem Fall versuchen wir mit Supervision zu helfen.

Die kurative Medizin hat in den letzten Jahren Fortschritte im Kampf gegen den Tod gemacht. Gleichzeitig kam es zu einer Aufwertung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Er kann heute etwa mittels Patientenverfügung bestimmen, wie er sterben möchte und auch bestimmte Behandlungen ablehnen.

Patientenverfügungen finde ich gut und richtig. Wir Ärzte wollen wissen, was der Patient wünscht. Andererseits ist zu bedenken: Am Lebensende wird die Autonomie ein überaus fragiles Pflänzchen. Der schwer Kranke sucht Hilfe und Unterstützung. Die einen sagen ihm: Dein Leben ist nichts mehr wert, ich fahre mit dir in die Schweiz, dort erhältst du Sterbehilfe. Die anderen sagen: Wir sind immer bei dir und betreuen dich. Der Patient schwankt hin und her, neigt einmal mehr der einen, dann wieder der anderen Seite zu. Wir haben einmal eine Umfrage über Patientenverfügungen unter Krebspatienten gemacht, wohlgemerkt nicht Sterbenden, mit dem Ergebnis: 90 Prozent haben gesagt, sie wollen keine Patientenverfügung machen. Nach ihrem Grund gefragt, sagten sie: "Ich weiß das auch nicht, aber ich will nicht. Ich bin eh zufrieden, was der Arzt macht."

Zur Person

Herbert Watzke, geboren 1954 in Gmunden, ist Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Hämatologie und Onkologie und leitet die von ihm initiierte Palliativstation am AKH Wien. Seit 2005 ist er Professor für Palliativmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Und er ist Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft.

Alexander Ginzel hat Architektur und Philosophie studiert und arbeitet als freier Kulturwissenschafter in Wien.

Wenzel Müller arbeitet als Journalist und Sachbuchautor in Wien.