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Theo Fischer

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

"Individualität ist zeitlebens eine Illusion"


Theo Fischer: Finden Sie, dass ich wie ein Guru aussehe?

"Wiener Zeitung": Eigentlich nicht. Sie tragen zumindest keine wallenden bunten Gewänder. Aber als Sie auf mich zukamen, schoss mir tatsächlich der Gedanke durch den Kopf, dass Sie ein bisschen asiatisch wirken.

Um Gottes willen! Asiatisch will ich auf keinen Fall aussehen. Wenn, dann doch bitte badisch. Schließlich komme ich aus Karlsruhe.

Gibt es denn Leute, die in Ihnen eine Art Guru sehen?

Es gibt natürlich welche, die auf der Suche nach so jemandem sind. Aber der Taoismus sammelt keine Scharen von Anhängern, weil er nichts verspricht. Er ist auch für Glaubensgemeinschaften völlig untauglich, weil es nichts gibt, was geglaubt werden könnte.

Und wie sehen Sie sich selbst?

Sicher nicht als Lehrer, höchstens als eine Art Wegweiser. Damit wir uns aber nicht missverstehen: Ich behaupte nicht, dass ich alles begriffen habe. Aber das, was ich begriffen habe, funktioniert.

Sie machen einen recht bodenständigen Eindruck. Esoterik gepaart mit Wirklichkeitsnähe findet sich eher selten. Nun stehen Ihre Bücher aber in der Esoterikabteilung der Buchhandlungen. Wie wohl fühlen Sie sich dort?

Weder noch. Wenn man Esoterik wörtlich definiert, bin ich durchaus ein Esoteriker. Doch inzwischen wird auch sehr viel Unfug unter diesem Etikett zusammengefasst - und der Begriff hat seine Tiefe wie auch seinen Wert verloren.

Welche Rolle spielt für Sie das Denken?

Früher bin ich recht eindeutig gegen das Denken als Hindernis des Erkenntnisprozesses zu Feld gezogen. Glücklicherweise habe ich dazugelernt und sehe mittlerweile unser Denkvermögen mitsamt seinen Auswirkungen deutlich aufgeschlossener. Zugleich bin ich aber auch viel offener für die Möglichkeiten und Chancen des Wachstums, die sich durch das Denken ergeben.

Inwiefern stehen Sie dem Denken aufgeschlossener gegenüber?

Die östlichen Lehren verteufeln das Denken gewissermaßen - aber Sie werden im "Tao te king" oder anderen Schriften der alten Weisen des Tao keinen einzigen Satz finden, der sich gegen unser Denkvermögen richtet. Wenn unser Denken mit Gefühl, Intuition und Instinkt kooperiert und sich nur fünf symbolische Winkelminuten von unserem Selbst entfernt und nach draußen richtet, wird es zu einem intelligenten Instrument unseres Daseins.

Ihr Bestseller "Wu wei" trägt den Untertitel "Die Lebenskunst des Tao". Was bringt der Taoismus für den Alltag?

Der chinesische Begriff "Wu wei" ist schwer zu übersetzen. Nicht-Handeln kommt ihm am nächsten, im Sinne von Nicht-Zwingen. Es darf aber auf keinen Fall mit Trägheit oder Untätigkeit verwechselt werden, es ist vielmehr eine absolute Empfänglichkeit. Wenn ich es mit einem Bild beschrieben sollte, würde ich sagen: Nicht-Handeln heißt segeln, wohin der Wind weht, dem Lauf des Wassers folgen, wohin es fließt, ohne Widerstand zu leisten.

Überfordert dieses intuitive Vorgehen die Leute nicht?

Gerade nach meinem ersten Buch, dem "Wu wei", habe ich Leserbriefe von Menschen bekommen, die diese Lebensphilosophie für sich interessant fanden. Nach wenigen Tagen stellten sie dann fest, dass ihre Umsetzungsversuche in Anstrengung ausarteten oder grundsätzlich misslangen und sie schließlich frustriert aufgaben. Das ist genau der Punkt. Wenn man alle Bemühungen, sich zu verändern, aufgibt, entsteht eine ungeheure Freiheit. Man hört auf, an sich herumzudoktern. Dann lebt man einfach, aber man nimmt wahr und ist mitten im Leben.

Dieses Leben wird aber von vielen Leuten als Stress empfunden.

Ich glaube, dass viele Menschen von einer uneingestandenen Todesangst begleitet werden. Morgen könnte ja schon alles vorbei sein. Es gilt also, alles aus dem Leben herauszuholen. Der Taoismus sagt, dass wir alle aus dem Grund hervorgegangen sind, gleichzeitig aber der Grund geblieben sind. Wenn wir sterben, gehen wir wieder in den Grund zurück. Mit der Individualität ist es dann natürlich vorbei. Aber die ist auch zeitlebens eine Illusion. Doch über das Individuelle hinaus hat unser Selbst einen unendlichen Durchmesser - und den behalten wir. Letztlich müssen wir uns alle mit unserer Vergänglichkeit aussöhnen.

Wie würden Sie das Tao definieren?

Über das Tao selbst weiß niemand etwas. Wer es zu beschreiben versucht, liegt bereits voll daneben. Tao ist nur ein Wort und steht als Synonym für den Grund der Dinge. Der Taoismus selbst hingegen ist schiere Lebensweisheit. Wenn ich versuche, es kurz zu formulieren, würde ich sagen: in diesem Sinne ist Tao eine Dimension von Ihnen und mir. Sie ist dem Denken nicht zugänglich, sie kann aber sehr wohl gelebt und an jedem von uns verwirklicht werden.

Es ist schwer zu verstehen, aber unser Bewusstsein ist identisch mit dem Tao. Lassen Sie uns einen kleinen Test machen. Hören Sie für ein paar Sekunden mit dem Denken auf. Keine Sorge, das geht, es ist wie Atemanhalten.

. . . es fühlt sich ein bisschen leer an.

Wenn man diese Leere berührt, und sei es nur für einen Augenblick, löst diese Erfahrung zunächst oft Unbehagen aus. Sie lässt sich auch nur sehr schwer beschreiben. Ich kann dieses Gefühl höchstens mit einer extrem kalten, windstillen Winternacht vergleichen. Wenn Sie eine solche Winternacht bei mindestens minus 25 Grad erlebt haben, ist das eine Stille, die förmlich zu hallen scheint. Da ist nichts.

Was geschieht, wenn ich diese Leere in mir zulasse?

Wir reden hier von der Berührung mit der eigenen Tiefe. Das Unermessliche, das in dieser Leere ist, wird sich dann seiner selbst in uns bewusst. Das ist natürlich paradox und hat mit dem Bild vom himmlischen Übervater herzlich wenig zu tun. Vielleicht tröstet Sie Folgendes: Wenn es Ihnen ein einziges Mal gelungen ist, in diesen Zustand hineinzufinden, den ich zu beschreiben versuche, können Sie ihn jederzeit wieder aufsuchen. In diesem Leerraum kann sich ein Existenzgefühl einstellen, in dem es keine Beziehung zu Ihren Sorgen und Problemen gibt.

In unserer Kultur hat Willenskraft einen hohen Wert. Dem Lauf der Dinge zu folgen klingt dagegen fremdbestimmt.

Genau. Es klingt wie fremdbestimmt, aber das Gegenteil ist der Fall. Sich-leben-lassen ist wie Auto fahren mit Chauffeur. Sie haben den Platz am Steuer aus freien Stücken abgegeben und lassen sich hinbringen, wohin Sie möchten.

Mit dieser Haltung haben Sie offensichtlich diesen idyllischen Platz hier im Piemont gefunden.

Was Sie hier sehen, ist das Ergebnis meiner Geisteshaltung sowie der meiner Frau Sabine. Ich habe dafür auf jeden Fall keine besonderen Fähigkeiten benötigt, über die nur wenige Begnadete verfügen. Ich habe mir dieses wunderschöne Grundstück auch ganz sicher nicht er-meditiert! Und um ehrlich zu sein: Es hat auch eine Weile gedauert, bis wir es gefunden haben. Eigentlich haben meine Frau und ich von einem Haus in Südfrankreich geträumt. Aber die Grundstückspreise waren für uns unerschwinglich - und so waren wir gezwungen, nach Alternativen zu suchen.

Wie definieren Sie Lebenskunst für sich?

Wie es der chinesische Philosoph Lao-Tse sagt: Es ist die Kunst, mit den Dingen zu gehen. Das bedeutet zum Beispiel, nicht bereits beim Aufstehen allem, was mich im Laufe des Tages erwartet, mit Widerstand zu begegnen. Es ist die Kunst zu begreifen, dass wir ein Kontrastprogramm im Sinne des Gegensatzpaares yin und yang benötigen. Ich kann nicht spüren, dass ich glücklich bin, wenn ich noch kein Leid erfahren habe. Lebenskunst heißt für mich, dass ich mich mit dem Auf und Ab des Lebens, also auch mit der Talfahrt, bewege. Erst durch den Kontrast entsteht das vollblütige Lebensgefühl eines wachen und lebendigen Geistes.

Den Taoisten werfen also auch noch Dinge aus der Bahn?

Sicher. Eine Garantie gibt es schließlich nicht. Aber man findet schneller auf die Straße zurück, weil ein Taoist das "Aus-der-Kurve-getragen-werden" mit zum Lauf der Dinge zählt. Vor allem sucht er auch nicht die Schuld bei Anderen, wenn etwas misslingt. Aber er lernt aus Fehlern.

Gibt es nicht Menschen, die das Prinzip des Nicht-Handelns missverstehen?

Es gibt Menschen, die ihre Selbstbeteiligung nicht erkennen und regelrecht abstürzen. Aber "Wu wei" ist wie eine Kasko-Versicherung.

Vollkasko?

Nein, eher Teilkasko. Die Selbstbeteiligung gehört ganz klar zum Paket.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Problem haben?

Wenn man die Dinge zu Wort kommen lässt und aus dieser Beobachtung der Impuls zum Tun aufsteigt, man aber zu faul dazu ist, die Selbstbeteiligung also ausbleibt, wird es nur einen teilweisen Erfolg geben. Es gibt eine leise Stimme in mir, die mir genau signalisiert, wenn ich im Begriff bin, mich selbst oder etwas zu verraten. Wir überhören sie aber gerne. Mit den Dingen gehen bedeutet also auf gar keinen Fall die Dinge aussitzen, sondern produktives Tätigsein.

Wie kann ich unterscheiden, ob ich mir grundlos Sorgen mache oder nicht?

Sie müssen die Situation selbst zu Wort kommen lassen. Wichtig ist, dass Sie mit Ihrem ganzen Sein bei der Sache sind. Begegnen Sie der Sorge oder dem Problem mit jeder Faser Ihres Wesens, mit Herz, Verstand, Gefühl und allem, was in Ihnen ist. Lassen Sie Ihre Sorgen vor Ihrem inneren Auge aufblühen. Indem Sie sie betrachten und eben nicht interpretieren, wirkt Ihr Geist auf das Problem ein und verändert es. Wenn Ihnen dies für ganz kurze Zeit gelingt, dann haben Sie - ohne das jetzt verkitschen zu wollen - den Briefeinwurf für den Kummerkasten des Tao gefunden.

Geht es darum, die Situation so anzunehmen, wie sie ist?

Wenn ich das Problem nicht akzeptiere, ist es dann verschwunden? Nein. Die Kunst besteht darin, ein Problem als Tatsache anzunehmen. Die Geheimformel lautet: Es ist so. Aber vermeiden Sie es, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Sondern?

Verweigern Sie die Beschäftigung damit. Gehen Sie die Sache lässig an, ohne Erfolgszwang. Sie gelingt, wenn Ihnen das Resultat völlig egal ist.

Die Lösungen sollen also auftauchen, wenn ich gar keine Frage nach der Antwort stelle?

Fragen Sie mich bitte nicht, was sich in unserem Gehirn tatsächlich abspielt. Ich müsste spekulieren. Eine Tatsache ist allerdings sicher, dass unsere Alltagsroutinen einigen Lärm erzeugen. Erst wenn unser Sinn ruhig genug ist, können die Signale aus dem Urgrund der Dinge in uns wahrgenommen werden.

Nun gibt es Situationen im Leben, in denen es schon sehr viel Selbstvertrauen braucht, um nicht die Nerven zu verlieren. Woran spüre ich eine Veränderung?

Dann öffnen sich Türen. Diese Chancen muss ich dann ergreifen, sonst schließen sich die Türen wieder.

Wie gehe ich die Problemlösung denn garantiert falsch an?

Indem ich dem Problem sage, was es bedeutet, also ihm mein von begrenzter Erfahrung bestimmtes Wissen überstülpe, statt es selbst zu Wort kommen zu lassen. Im Extremfall renne ich zu Beratern, die mir sagen, wo mich der Schuh drückt. Auf diese Art bleiben Sorgen und Nöte oft genug am Leben, statt dass sie verschwinden.

Viele Leser kommen zu Ihnen, machen hier Ferien und belegen einen Tao-Kurs. Wie würden Sie diese Art des Lernens beschreiben?

Sie sammeln kein Wissen, sondern Einsichten und Aha-Erlebnisse. Es ist ein Unterschied, ob ich sehr viel über mich, mein Leben, meine Chancen und so weiter weiß, oder ob ich beginne, mich selbst und das Bild von mir, das unter den äußeren Umständen gewachsen ist, zu verstehen. Das verlangt eine absolute Ehrlichkeit von mir selbst.

Was bedeutet das für einen Traum, den ich verwirklichen möchte?

Der Mensch des Tao fasst das Ziel ins Auge und dann sieht er sich den Weg dorthin an. Aber dort, wo die Anderen es beim Träumen belassen, fasst er Beschlüsse, trifft Entscheidungen und setzt sie durch. Mir hat zum Beispiel einmal ein Mann geschrieben, der nach Westindien segeln wollte und von mir wissen wollte, was er dafür tun muss. Nun muss man wissen, dass dieser Mann 50 Jahre alt war und sich in finanziellen Schwierigkeiten befand.

Ich habe ihm geschrieben: Sie müssen Ihren Segelschein machen, ein Boot kaufen, sich um einen Liegeplatz kümmern, Geld für Ihren Lebensunterhalt haben und so weiter. Dann haben Sie die Grundlage geschaffen, um Ihren Traum zu realisieren.

Was hat der Mann gemacht?

Er war beleidigt. Er hat wohl jemanden gesucht, der ihn in seinen Träumen bestärkt, so dass er nur noch daran glauben muss und es damit getan sei.

Es gibt jede Menge Bücher, in denen genau das propagiert wird: Du musst es dir nur wünschen - und dann wird es Wirklichkeit.

Das ist Betrug! Aber die Menschen, die solche Bücher kaufen, wollen betrogen werden. Sie möchten lieber ihre Illusionen behalten als sich dem Leben zu stellen und dabei eine Teilkasko-Versicherung in Kauf zu nehmen.

Sie werden noch in diesem Jahr 80 Jahre alt und wirken dabei sehr vital. Ist das Leben im Tao eine Art Frischzellenkur?

Sagen wir es einmal so: Meine Frau und ich haben zu einer Lebensform gefunden, in der wir uns auf uns selbst verlassen, selbständig und kreativ sind. Wir dulden niemand über uns, der Druck auf uns ausübt. Das würde ich jetzt aber nicht als Tao beschreiben. Es gehört Mut dazu, sich in eine ungesicherte Lebensform zu begeben - und das wirkt sicher der Frühvergreisung entgegen.

Zur Person

Theo Fischer wurde 1931 im badischen Karlsbad geboren. Über zwanzig Jahre war er Unternehmensberater, bevor er seinen Beruf aufgab und 1985 in die französischen Vogesen übersiedelte, um dort Bücher über asiatische Philosophie und Lebenskunst zu schreiben. 1989 erschien sein erstes Buch, "Wu wei. Die Lebenskunst des Tao" (Rowohlt Taschenbuch), das zum Bestseller wurde und sich über 300.000 Mal verkauft hat.

Seit 1997 lebt er mit seiner Frau Sabine, zwei Hunden und sieben Katzen in Murazzano, einem kleinen Ort in der norditalienischen Region Piemont. Von Theo Fischer sind bisher acht Bücher erschienen, außerdem gibt er ein kleines Magazin namens "Tag und Tao" heraus, das alle zwei Monate erscheint. Neuerdings veröffentlicht er auch Beiträge in einem Blog, um damit - nach eigenen Worten - "das Tao vor seinen Interpreten zu retten": www.die-taobaustelle.de