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Tim Flannery

Von Alexander Kluy

Reflexionen

Ein Gespräch mit dem australischen Wissenschafter und Bestsellerautor Tim Flannery über die Beziehung der Menschen zum Planeten Erde, über Wandel, Superorganismen, Revolutionen - und über sein neuestes Buch.


Wiener Zeitung: In Austin, Texas, ist derzeit ein Autopickerl ziemlich beliebt: "You keep believing, we’ll keep evolving", Glaubt ihr nur weiter an Gott, wir glauben an die Evolution, beziehungsweise: Glaubt ihr ruhig an Gott, wir entwickeln uns weiter.

Tim Flannery (lacht schallend). Würden Sie das an Ihr Auto picken?

Ja, ich glaube schon. Obwohl ich keinen großen Unterschied sehe zwischen dem Glauben und dem, was wir Rationalität nennen. Sogar der Vatikan hat einen Astronomen, der zumindest über die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten nachdenkt. Ich glaube, Religion hatte eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Menschen, sie hat den Zusammenhalt geboten, den wir sonst nicht gehabt hätten. Das Traurige heute an den Religionen ist, dass sie anderes ausschließen.

In der Besprechung Ihres neuen Buches hat der Präsident der Australian Conservation Foundation, einer Umweltschutzstiftung, kritisiert, dass Sie "nicht den Urgrund unserer Probleme, nämlich stupides Wirtschaftswachstum" behandeln.

Ist das wirklich der Urgrund unserer Probleme? Ich weiß nicht. Ich behandle das Thema kurz in meinem Buch, aber ich habe vor allem versucht, eine Antwort darauf zu geben, wie unsere Beziehung zum Planeten Erde aussieht. Das ist komplex genug. Aber in Rezensionen taucht halt immer gern der Ratschlag an den Autor auf, eigentlich hätte er ein ganz anderes Buch schreiben sollen.

Kommt Ihnen der aktuelle weltpolitische Trend, Umweltschutzanliegen hintanzustellen oder auszublenden, seltsam vor?

Ich denke, es ist das Schwerste auf der Welt, gesellschaftliches Verhalten zu ändern. Jedes Mal, wenn das versucht wird, entsteht eine Pendelbewegung in die entgegengesetzte Richtung. Was wir derzeit sehen, ist eine solche Gegenreaktion zum Umweltgedanken. Aber dieser Gegenreaktion fehlt eine durchdachte Vorstellung davon, was die Menschen wollen. Es geht mehr darum, was sie nicht wollen. Das ist verständlich, aber es reicht nicht. Also, überrascht bin ich nicht. So ist die Natur des Menschen.

Von der Klimakonferenz, die 2009 in Kopenhagen stattfand, waren Sie enttäuscht.

Als ich die Schlussnote las und sah, wie fragil sie war, wie wenig Forderungen sie stellte, war ich enttäuscht. Aber wenn Sie es von heute aus betrachten, dann hat Kopenhagen viel ausgelöst.

Sie sprechen davon, dass wir durch unser jetziges Verhalten die Zukunft entwerten. Ist das ein Erziehungsproblem?

Die Idee von der Entwertung der Zukunft ist sehr, sehr essenziell. Wir brauchen besser ausgebildete Gesellschaften mit einer ökonomischen Grundsicherheit. So lange die Menschen das nicht haben, sehen sie die Nachhaltigkeit als Nebensache an. Sie verbrauchen dann alles zum täglichen Überleben, auch wenn das die Zukunft gefährdet.

Sie sagen, wissenschaftliche Instrumente zur Überwachung der Atmosphäre, der Meere und der Kontinente würden eines nicht allzu fernen Tages zur Verfügung stehen, sodass es möglich wäre, vorbeugend zu agieren und Naturkatastrophen exakt vorherzusagen. Es fehle nur der politische Wille, diese Instrumente klug einzusetzen. Ist es nicht frustrierend, dass eine solche Diagnose keine Folgen hat?

Ich sehe das nicht so. Wenn ich heute die Welt anschaue, nehme ich eine ganz junge Bewegung wahr, mit einem Gehirn und einem Nervensystem, die aber noch nicht geordnet vorwärts kommt. Wenn ich überhaupt so etwas wie Frustration spüre, dann darüber, dass ich dieser Bewegung nur im Babystadium angehöre. Aber wenn Sie sich die Geschwindigkeit der Veränderungen in unserer Gesellschaft ansehen, dann fühlt es sich für mich so an wie die ersten Wochen oder Monate nach der Geburt, wenn jeden Tag etwas Neues passiert. Ein Baby entwickelt sich in dieser Zeit jeden Tag fort. Und genauso kommt mir unsere Zivilisation vor. Jeden Tag gibt es Veränderungen und Entwicklungen.

Wie schafft man es, der Gesellschaft ein neues Verhalten einzuimpfen?

Nun, ich versuche es, indem ich Bücher schreibe. Und in Austra-lien bin ich inzwischen "Chief Climate Commissioner", der oberste Klimaschützer sozusagen, ich fahre zu vielen Gemeinden und spreche dort über viele Themen.

Als "Australier des Jahres 2007" ist das wohl nicht allzu schwierig.

Das hilft ein wenig (lacht). Doch manchmal ist das auch nicht so einfach, das kann ich Ihnen sagen. Wir müssen alle zusammen handeln, um zu Lösungen zu gelangen. Wir hätten nie eine solche Zivilisation aufgebaut, wir wären nie so weit gekommen ohne den festen Glauben daran.

Haben Sie die leise Hoffnung, dass es eines Tages Politiker geben wird, die nicht kurzsichtig handeln und wirklich Zukunftsprojekte durchsetzen wollen?

Die Lage der Wirtschaft, besonders die Krise in den Vereinigten Staaten, lenkt die Menschen zweifellos von vielen Umweltschutzanliegen ab. Aber das heißt nicht, dass es keine Fortschritte gibt. Die USA haben eine Reihe von Vorschriften verabschiedet, die Emissionsrate sinkt nachweislich. In Kanada gibt es keine Initiative auf Bundesebene, aber das Emissionsziel wir dennoch erfüllt, weil die einzelnen Provinzen agieren. Trotz der Rezession gibt es also Erfolge. England hat kürzlich höchst ehrgeizige Emissionsreduktionen angekündigt. Rings um den Globus passiert etwas. Zugegeben, nicht so schnell, wie wir es gerne hätten, denn zweifelsohne verlangsamt die Wirtschaftskrise Maßnahmen. Aber an den grundlegenden Absprachen von Kopenhagen und Cancún hat sich nichts geändert. Die Länder nehmen ihre Ziele ernst.

Ich kenne keinen Staat, der seine Kopenhagen-Ziele verfehlt. Jüngst hat die australische Regierung eine massive Änderung beschlossen. Der CO2-Ausstoß wird künftig besteuert, und diese Einnahmen werden für eine ganze Reihe von Initiativen verwendet, einschließlich eines grünen Investmentfonds mit einer Einlage von zehn Milliarden Dollar, das ist zweimal so viel wie Großbritannien in seinen Fonds einzahlt. Diese Summe wird durch zusätzliches Geld aus dem Privatsektor noch größer werden.

Wie hat Australiens fragile Regierung das geschafft?

Das ist schon überraschend. Wir haben eine Minderheitsregierung, die sehr zerbrechlich ausschaut, aber, wie sich herausstellt, sehr robust und effizient ist und viele neue Gesetze durchgesetzt hat.

Sie zitieren in Ihrem Buch den Umweltschützer Aldo Leopold mit den Worten, Ökologe sein bedeute, "allein in einer Welt voller Wunden zu leben", da "ein Großteil des dem Boden zugefügten Schadens für den Laien fast unsichtbar" ist. Wie schmerzhaft ist das für Sie persönlich?

Das tut wirklich weh, vor allem, wenn man sich bewusst macht, dass die Erde für uns das einzige lebenserhaltende System ist. Ich werde manchmal richtig wütend, wenn ich an so manche Dummheit denke.

Viele Bücher anderer Forscher und Autoren, von Thoreau über Barbara Kingsolver bis zu Jay Griffiths . . .

Jay Griffiths "Wild: An Elemental Journey" liebe ich! . . .

. . . sind häufig melancholisch und nicht selten elegisch, dokumentieren Verluste und die Ausrottung ganzer Tierarten. Oft sind diese Bücher sogar Nachrufe. Wieso schreiben Sie anders?

Weil ich mich dafür interessiere, einen lebenden Organismus zu untersuchen. Und dieser Organismus ist der Planet, ist die Erde und wir. Mein Buch handelt im Grunde von der Erde und den Gattungen auf ihr. Mit einem globalen Blick erkennen Sie, dass etwas wirklich Faszinierendes passiert. Wir sehen die Evolution eines einzigartigen Phänomens: eines intelligenten Planeten. Ich finde das so hinreißend, dass es jede Melancholie vertreibt.

Island erarbeitet zurzeit eine neue Verfassung. Nicht Politiker oder Anwälte tun das, sondern 25 direkt gewählte normale Bürger. Via Facebook kann jeder die Beratungen kommentieren oder Ideen beisteuern. Wäre das ein gangbarer Weg für eine grüne Weltverfassung?

Auf jeden Fall! Ich hoffe nur, unter den 25 ist auch ein Dichter.

Einer ist Theaterregisseur.

Dann wird es wahrscheinlich sehr dramatisch werden! (lacht) Es fragt sich natürlich, wie das in den USA wäre, in einer tief gespaltenen Gesellschaft. Darüber habe ich kürzlich, aus einer anderen Richtung kommend, nachgedacht. Und zwar über den Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Europa und der Tea Party in Amerika. In Melanesien, wo ich lange lebte, habe ich ganz Ähnliches beobachtet. Dort haben sich Gemeinschaften schnell geändert und junge Leute fanden außerhalb des Dorfes andere, neue Lebensmöglichkeiten. Sie entwickelten Machtstrukturen, die der alten Ordnung zuwiderliefen. Und es waren immer die Alten, die zornig wurden und versuchten, den Status Quo aufrechtzuerhalten. In Europa ist es dasselbe mit den Parteien. Ich glaube nicht, dass wir uns da so sehr von Melanesien unterscheiden. Es ist menschlich natürlich und verständlich, wenn sich die alten Männer an die Macht klammern. Die Jungen umgehen sie und entwickeln neue gesellschaftliche Konzepte. Die Alten fühlen sich ausgeschlossen. Sie haben das Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen. Und das tun sie. In sich rapide ändernden Gesellschaften gibt es enorme Spannungen. Das ist ein Symptom des Wandels.

Wie löst man solche Spannungen?

Indem die Alten sterben (lacht).

Der Londoner "Guardian" regte in der Besprechung Ihres Buches eine Hinwendung zur Transzendenz an. Würden Sie dem zustimmen?

Ich denke, wir brauchen eine fundamental andere Ausrichtung. Die Natur besitzt die Tendenz, sich auf unterschiedlichen Ebenen neu auszurichten. In der Evolution des Planeten als Ganzem sehe ich tatsächlich so etwas wie eine Neuausrichtung der Evolution einzelner Organismen. Vielleicht gibt es grundlegende Hierarchien der Organisation von lebenden Systemen. Diese müssen aber kooperieren, selbst in einer einzelnen Zelle. So weit wir das beurteilen können, wenn wir das früheste Stadium der Erde untersuchen, gab es selbst am Ursprung des Lebens miteinander kooperierende Ökosysteme. Natürlich sehen wir einzelne Arten, aber auch und vor allem Gemeinschaften, die miteinander kooperieren und zusammenleben. Wenn das ein Charakteristikum des Lebens in den letzten dreieinhalb Milliarden Jahren gewesen ist, dann sagt es etwas über die Evolution aus. Es geht nicht um "survival of the fittest", das Überleben der Stärksten, sondern um das Miteinander.

In Ihrem Buch schreiben Sie: "Unsere Welt ist ein Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten, die so eng sind, dass sie manchmal zu Liebe werden."

Ganz genau. Wie messen wir im Individuum den Zuwachs jener Qualitäten, die Kooperationen erbringen? Mittels einer reduktionistischen Methode ist das nicht wirklich erklärbar. Um das zu verstehen, brauchen wir ein ganzheitliches Modell.

Der Untertitel der englischen Originalausgabe lautet "An Argument for Hope", ein Plädoyer für Hoffnung. Ist das Ihre Antwort auf Untergangsszenarien?

Gleich im Anschluss an die Klimakonferenz in Kopenhagen fing ich an, das Buch zu schreiben. Damals war ich ziemlich niedergeschlagen und dachte: Was für eine Hoffnung haben wir noch? Ich fand darauf eine Antwort, indem ich zu den absoluten Grundlagen unserer Beziehung zur Erde zurückging. Ich glaube durchaus, dass es Hoffnung gibt. Wie ich im Buch schreibe, ist unsere Neigung zu Gier und Egoismus unübersehbar. Aber das disqualifiziert uns nicht als globale Intelligenzform. Unser Gehirn ist ausgesprochen gierig und sehr egoistisch, es verbraucht 20 Prozent der uns durch Nahrung zugeführten Energie, obwohl es nur zwei Prozent des Körpers ausmacht. Es schaltet jedes andere Körperorgan ab, bevor es sich selber etwas versagt. Und doch ist das Gehirn das perfekte Kontrollsystem unseres Körpers. Deshalb glaube ich, dass Gier und Egoismus durchaus inhärente Eigenschaften eines jeden Befehls- und Kontrollsystems, ja eines jeden intelligenten Systems sein können. Das heißt nicht, dass wir dadurch die Erde zerstören.

Am Überraschendsten beim Schreiben des Buches war für mich die mir allmählich dämmernde Erkenntnis, dass Menschen einen Superorganismus bilden. Sie regte mich an, über die Grundlagen neuen gesellschaftlichen Zusammenlebens nachzudenken. Den Grund von allem bildet das Prinzip der Arbeitsteilung. Hat man diese einmal entwickelt, ergibt sich daraus alles andere. Wir sind alle Spezialisten.

Ist eine Änderung unseres Verhältnisses zur Umwelt ohne Revolution möglich?

Kostenlos wird sie nicht zu haben sein. Eine Revolution ist an sich ein Stresstest für einen Superorganismus. Bis zu einem gewissen Grad ist das gefährlich. Seitdem ich das Buch abgeschlossen habe, ist der Arabische Frühling ausgebrochen. Ich habe diese Entwicklung mit ganz anderen Augen gesehen, weil ich in meinem Buch prognostiziere, dass Demokratie das beherrschende Muster dieses Jahrhunderts werden würde - und dann sah ich die jungen Leute, die übers Internet kommunizieren und Teil dieses globalen Superorganismus sein wollen.

Ob wir nun am Ende tatsächlich erfolgreich gewesen sind und das Richtige getan haben, um die Erde zu retten und dadurch unser Überleben zu sichern, das ist eine ganz andere Frage. Aber ich sehe doch, dass sich Revolutionäres tagtäglich vollzieht.

Alexander Kluy, geboren 1966, lebt als freier Journalist und Kritiker in München. Er hat zahlreiche Bücher über Literatur, Kunst- und Geistesgeschichte. veröffentlicht.

Zur PersonTim Flannery, geboren 1956, ist Paläontologe, lebt in Sydney und lehrt dort an der Macquarie University. In den 1980er Jahren entdeckte er im austral-asiatischen Raum 29 bis dato unbekannte Säugetierarten. 2007 zum "Australian of the Year" gewählt, auch wegen seines internationalen Bestsellers "Wir Wettermacher", wurde er im Februar 2011 zum Vorsitzenden der "Climate Commission" berufen, die der australischen Öffentlichkeit Folgen, Kosten und Auswirkungen des Klimawandels und des Klimaschutzes vor Augen führen soll.

In seinem neuesten Buch stellt Flannery grundlegende Fragen des menschlichen Lebens: In welcher Beziehung leben wir Menschen tatsächlich zu unserem Planeten? Haben wir immer schon eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, Ökosysteme durcheinandergebracht und ganze Spezies ausgelöscht? Oder ist unser Verhältnis zur Erde vielmehr ein Erfolgsmodell, weil wir Menschen eben nicht nur grausam im Kampf ums Überleben konkurrieren, sondern auch großartig kooperieren können? Aufgehend von diesen Fragen schreibt Flannery die Geschichte der vielseitigen Beziehung der Menschen zur Erde und zeigt, dass darin der Grundstein für unsere biologische, ökonomische und kulturelle Zukunft zu finden ist.



Tim Flannery: Auf Gedeih und Verderb. Die Erde und wir: Geschichte und Zukunft einer besonderen Beziehung. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 368 Seiten, 23,60 Euro.