"Wiener Zeitung":

Karl Kumpfmüller. - Foto: Andreas Pessenlehner © Wiener Zeitung
Karl Kumpfmüller. - Foto: Andreas Pessenlehner © Wiener Zeitung

Bei einer Demonstration gegen FPÖ-Chef Strache an der Uni Graz waren Sie in eine Auseinandersetzung mit einem Polizisten involviert. Ist Österreich eigentlich ein friedliches Land?

Karl Kumpfmüller: Natürlich ist Österreich jetzt ein friedliches Land, und im Vergleich zum 19. Jahrhundert, den Ereignissen von 1848, der Zwischenkriegszeit und der Nazi-Zeit gibt es keine nennenswerte Gewalt im öffentlichen Raum und keine wirklich gefährliche Stadt. Wir haben in Graz mit dem deutschen Friedensforscher Reiner Steinweg Anfang der 90er Jahre in einer Studie alle Gewaltereignisse in einem Jahr in der Stadt, an Schulen, unter Jugendlichen usw. untersucht. Herausgekommen ist, dass die meisten Fälle von bürokratischen Strukturen ausgehen sowie durch einschüchternde, willkürliche Polizeigewalt vor allem gegenüber Jugendlichen. Das hat man auch bei der von Ihnen erwähnten Demo gesehen, wo gleich mehrere Polizisten auf einem am Boden liegenden Demonstranten knieten. Daraufhin habe ich einem der Polizisten von hinten mit dem Zeigefinger auf die Schulter getippt und ihm zugerufen: "Keine Gewalt!". Daraufhin wollte er mich festnehmen. Zum Glück waren auch Journalisten dabei, die das gesehen hatten. Aber insgesamt ist die Gewalt stark zurückgegangen.

Worauf führen Sie das zurück?

Ich führe das auf das Ende der "Schwarzen Pädagogik" und auf die Friedenserziehung zurück. Ich selbst habe bisher über 5000 Lehrer und Lehrerinnen auf diesem Gebiet ausgebildet. Dabei geht es auch um die Sensibilisierung, was Gewalt ist - also auch verbale Gewalt. Wir bräuchten mehr Friedenserziehung in den Schulen, gemeinsam mit den Eltern, aber in Österreich werden die Mittel für die Erwachsenenbildung gekürzt - und fließen in die Parteiakademien.

Stimmen, die eine Art Elternschule fordern, werden immer lauter. Wie könnte eine solche aussehen?

Man muss die Eltern stärker in den Schulen einbinden, nicht als Beruhigungstherapie, sondern im Sinne von Krisenmanagement. Etwa wenn es Probleme mit Drogen gibt. Leider sind unsere zentral verwalteten Schulen überfordert. Wir bräuchten in großen Schulen eigene Untereinheiten, die selbstständig arbeiten dürfen. In Schweden und auch in Belgien gibt es kollegial geführte Schulen im öffentlichen Bereich. Aber in Österreich haben wir noch ein obrigkeitsorganisiertes Schulsystem aus der Monarchie, das immer nur teilreformiert wurde.

Sie sind als Friedensforscher an mehreren Unis und in der Erwachsenenbildung tätig, sie haben u.a. das Friedenszentrum in Stadtschlaining und das Friedensbüro in Graz aufgebaut. Wie erklärt sich Ihr pazifistisches Engagement?

Ich selbst war von den Eindrücken des Nazi-Regimes geschockt! 1963 habe ich im deutschen Fernsehen an vier Samstag-Nachmittagen eine Dokumentation über das NS-Regime gesehen. Und als ich deshalb mit 18 Jahren den Wehrdienst verweigert habe, hat mich der Moloch Staat unter der Androhung einer lebenslangen Gefängnisstrafe zum Dienst an der Waffe zwingen wollen.

Den Vorläufer des heutigen Zivildienstes haben Sie ebenfalls mitinitiiert.

Das war gemeinsam mit Peter Trummer, der später an der Katholischen Fakultät in Graz über das Neue Testament lehrte. Wir wollten ein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen durchsetzen und haben dazu einen Antrag bei der katholischen Kirche in Graz eingebracht. Nach heftigen Diskussionen hat der Diözesanrat Graz-Seckau den Antrag auf einen alternativen "zivilen Friedensdienst" in Österreich und eine erste österreichische "Beratungsstelle für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen" im Juni 1971 tatsächlich beschlossen.

Aber warum haben Sie den "Umweg" über die katholische Kirche genommen?

Wichtig war, dass eine hohe gesellschaftliche Instanz wie die katholische Kirche den Zivildienst als legitime und legale Form anerkennt, um den Dienst an der Gemeinschaft zu erfüllen; Wehrdienstverweigerer sind ja keine Drückeberger, sondern sie wollen einen anderen Dienst an der Gemeinschaft leisten. Durch diesen Beschluss sollte die sozialdemokratische Partei von Bruno Kreisky unter Druck geraten, damit auch sie sich zur Gewissensfreiheit bekennt.

Das war vor mehr als 40 Jahren, inmitten des Kalten Krieges, und es gab noch die Berliner Mauer und den Eisernen Vorhang. Wie war es also möglich, dass Ihre Initiative durchging?

Erstens hatte bereits Deutschland, ein NATO-Mitglied, 1961 einen Zivildienst eingeführt. Zweitens war dieser in Österreich eine Chance für eine liberale Gesellschaft, wie sie Kreisky wollte. Drittens förderte das die Auseinandersetzung mit der NS-Gesellschaft. 1971 kam ja auch Axel Cortis Film "Der Fall Jägerstätter" heraus: Jägerstätter, der als junger, engagierter Katholik im NS-Regime den Wehrdienst verweigerte, war ein lupenreiner Fall von Pazifismus.

Wie viel gottgläubige Überzeugung ist für ein pazifistisches, ethisches Leben notwendig?

Ethisches Verhalten ohne Religion ist sehr wohl möglich! Die Geschichte des Pazifismus hat keinen überwiegend religiösen Hintergrund, ganz im Gegenteil: Der Pazifismus wurde gerade von der katholischen Kirche, von Rom, sträflich vernachlässigt, ja sogar bekämpft und ist nicht repräsentativ für diese Kirche. Einzige Ausnahme war in Österreich Kardinal König. In den 1980er Jahren hat die Debatte um die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen gezeigt, dass die Warnung vor einem kollektiven Nukleartod in Europa nicht von der Kirche gekommen ist, auch nicht von der Politik. Sondern es waren junge oppositionelle Kräfte aus der katholischen und evangelischen Jugend und junge Sozialisten, die sich an die Lehren des deutschen Politikwissenschafters Ekkehart Krippendorff (einem Pionier der deutschen Friedensforschung, Anm.) anlehnten.