"Wiener Zeitung": Frau Heller, Sie schrieben in Ihrer Lebensgeschichte, "Der Affe auf dem Fahrrad": "Ich bin den Opfern dieser modernen Welt verpflichtet. In erster Linie den Toten von Auschwitz, aber auch denen des Gulag". Wie verstehen sie diese Verpflichtung?

"Wichtig ist mir eine Ethik, in der es darum geht, seine eigene Persönlichkeit auszubilden, die sich von normierten gesellschaftlichen Idealen abhebt." Ágnes Heller - © Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Mike Ranz
"Wichtig ist mir eine Ethik, in der es darum geht, seine eigene Persönlichkeit auszubilden, die sich von normierten gesellschaftlichen Idealen abhebt." Ágnes Heller - © Parlamentsdirektion/Bildagentur Zolles KG/Mike Ranz

Ágnes Heller: Ich spreche von der Verpflichtung für die Toten des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Dabei sehe ich zwei Formen der Verpflichtung: In der Zeit des Nazismus war ich selbst ein Opfer gewesen; ich wusste nie, ob oder an welchem Tag man mich töten werde. Es ist nur ein Zufall gewesen, dass ich am Leben geblieben bin. So wäre ich beinahe am Ufer der Donau in Budapest erschossen worden. Unter diesen Umständen war es für mich schwieriger, bis zum 16. Lebensjahr zu leben, als danach bis zum 83sten. Verpflichtet fühle ich mich denjenigen Menschen, die den nationalsozialistischen Terror nicht überlebt haben.

Beim Kommunismus verhielt es sich anders. Da war ich von 1947 bis 1949 Mitglied der Kommunistischen Partei. Ich war zu einem Zeitpunkt in die Partei eingetreten, in der ich von der Existenz des Gulag noch nichts wusste. Erst 1953 hatte ich verstanden, dass ich dafür auch mitverantwortlich bin, und warf mir vor, die Schrecken dieses Regimes ausgeblendet zu haben. Später bin ich selbst zum Opfer geworden; ich wurde zwar nicht zum Tode verurteilt, aber von politischen Repressionen betroffen; aber das kann man nicht mit den Repressionen vergleichen, die im Nationalsozialismus üblich waren.

Trotz dieser Verschiedenheit glaube ich noch immer, dass ich für diese Menschen, die damals durch die tragischen Ereignisse umgekommen sind, die Verantwortung trage. Ich möchte nicht an ihrer Stelle sprechen; denn für sie kann ja niemand mehr sprechen, aber ich möchte verstehen, warum das passieren konnte, wie es in dieser modernen, rationalen Welt zu diesem Wahnsinn kommen konnte, welche historische Umstände dies ermöglicht haben. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich Auschwitz und Gulag verstehen wollte, aber dabei gescheitert bin. Es ist unmöglich, das zu verstehen, aber man kann es zumindest versuchen.

Im Unterschied zu dem französischsprachigen, jüdisch-russischen Philosophen Vladimir Jankélevitch, der davon sprach, dass man die Judenvernichtung niemals verzeihen könne, empfinden Sie keinen persönlichen Hass, so sagten Sie im Vorgespräch, obwohl Sie dem Tode knapp entronnen sind.

Diese Aussage bezieht sich auf meine grundsätzliche Unfähigkeit, Hass zu fühlen, ganz und gar unfähig zu sein, konkret zu hassen. Theoretisch habe ich die Regime von Hitler und Stalin gehasst. Ich hasste aber nicht die konkreten Menschen, die für die Regime die Schmutzarbeit verrichteten. Für mich war nicht die Frage, ob die Gräueltaten von den Deutschen oder den Russen begangen wurden, sondern ich fragte mich, wieso sind Menschen überhaupt in der Lage, andere Menschen nicht nur in der Schlacht zu töten, sondern auch Zivilisten zu ermorden, zu foltern und vor allem unschuldige Kinder zu töten.

Mich hat immer der Gedanke gequält, darüber schreiben zu müssen. Daher wandte ich mich hauptsächlich zwei Problemkreisen zu: der Ethik und der Geschichtsphilosophie. In meinem Buch "Wert und Geschichte" sind die beiden Begriffe, die mich mein Leben lang beschäftigten, schon im Titel genannt. Mir ging es darum, die Motivationen jener Menschen herauszufinden, die solche unmenschliche Handlungen begehen. Und dann wollte ich auch die gesellschaftlichen Bedingungen analysieren, die solche Handlungen ermöglichen.

In Ihrer Lebensgeschichte schreiben Sie, dass die Begegnung mit dem Philosophen Georg Lukács - "der Mensch gewordene Logos" - für Ihre intellektuelle Entwicklung ein wesentliches Ereignis war. Wie ist diese Begegnung verlaufen und wie hat sie Ihren Lebensweg weiter geprägt?

In Ungarn hatte man kaum Zugang zur zeitgenössischen Philosophie. Bis 1949 stellte man uns einige Bücher zur Verfügung; danach herrschte eine philosophische Wüste. Lukács war der einzige philosophische Einfluss in meinem Leben. Ich habe ihn 1947 anlässlich seiner Vorlesungsreihe "Die Entwicklung der Kulturphilosophie von Kant bis Hegel", von der ich am Anfang wenig verstanden habe, kennen gelernt. Aber ich spürte, dass sich mein Leben entscheidend verändern würde.

Ich bin dann in sehr kurzer Zeit zur Lukács-Schülerin geworden; zu einer Zeit, als man ihn als rechtsorientierten Revisionisten bezeichnet hatte. Ein Anhänger von Lukács zu sein, war damals sehr gefährlich. In dem Lukács-Seminar waren wir ursprünglich über 50 Studenten; nach der Kritik an ihm blieben nur mehr drei oder vier Studenten übrig, darunter befand auch ich mich. Ich war eine der wenigen Personen, die Lukács treu geblieben waren, denn ich hatte das Gefühl, dass die Attacke gegen ihn ungerecht gewesen war. Es ging damals um den Streit über die Ästhetik von Andrei Schdanow, der einen platten "Sozialistischen Realismus" in der Literatur vertrat. Ich kam zu dem Schluss, dass Schdanow nicht Recht hatte und teilte dies Lukács mit. Das hat er mir nie vergessen. Ich konnte ihm später alles sagen. Er hat von mir kritische Einwände angenommen, die er von anderen Menschen niemals akzeptiert hätte, weil er wusste, dass er auf meine Loyalität zählen konnte.