"Wiener Zeitung": Was würde sich wohl Hans Kelsen, einer der Väter der österreichischen Bundesverfassung, in seinem Grab denken, wenn er die Lobreden der Politiker zum kommenden 90. Jahrestag der österreichischen Bundesverfassung hören könnte?

Ludwig Adamovich: Kelsen war ein Mann, der jegliches Pathos und alles, was auch nur im Entferntesten danach klang, abgelehnt hat. Für ihn, den Rechtspositivisten, werden dadurch nur Ideologien hervorgerufen. Man darf aber bei aller Würdigung seiner Verdienste nicht vergessen, dass die tatsächliche Entscheidungsmacht im Zuge des Verfassungsprozesses bei der Politik lag und hier besonders bei zwei Persönlichkeiten: Otto Bauer auf Seiten der Sozialdemokraten und Ignaz Seipel bei den Christlich-Sozialen. Diese beiden waren die eigentlichen Regisseure beim Verhandlungsprozess um eine neue Verfassung für die Erste Republik.

Würden die Autoren der Bundesverfassung ihr Werk heute überhaupt noch wiedererkennen?

Da muss man unterschieden. In den Grundzügen gab es eigentlich nur zwei einschneidende Eingriffe in die Bundesverfassung: die Novelle 1929 mit der Stärkung der Position des Bundespräsidenten und die Regelungen zum EU-Beitritt 1995. Alles andere ist mehr oder weniger die Fortführung des Bestehenden beziehungsweise ein wildes Gestrüpp von Ausnahmeregelungen, die im Laufe der Zeit, insbesondere in den Jahren der großen Koalition nach 1955 entstanden sind. Ihre Frage lässt sich also nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.

Dann lassen Sie mich so fragen: Hat die Politik die Verfassung in den vergangenen Jahrzehnten ausreichend gut behandelt?

Es ist eine Versuchung für die Politik, dass sie sich auf Projekte verständigt, die einfachgesetzlich zu realisieren wären und sodann schaut, ob sie von der Verfassung gedeckt sind. Wenn nicht, wird ihnen nach Maßgabe der politischen Konstellationen eine verfassungsrechtliche Basis gegeben, manchmal mit der Absicht, die Regelung vor dem Verfassungsgerichtshof abzuschirmen. Das ist natürlich - gelinde gesagt - kein idealer Weg, aber dahinter steht die grundsätzliche Frage, was wir uns denn eigentlich von einer Verfassung erwarten. Österreichs Verfassung war von Anfang an als ein Dokument konzipiert, das lediglich die Spielregeln für die Arbeit der verschiedenen Organe regeln sollte. Inhaltliche Aspekte und die Frage, wo genau die Entscheidungen getroffen werden, rückten dabei in den Hintergrund. Andere, etwa die US-Verfassung, haben hier einen höheren Anspruch.

Zynisch könnte man also sagen: Österreichs Politiker haben Kelsens rein positivistisches Rechtsverständnis radikal in die Praxis umgesetzt.

Ich würde dem zumindest nicht widersprechen.

Aber auch bei Spielregeln ist es wichtig, dass sich jeder darauf verlassen kann, dass sie nicht bei nächstbester Gelegenheit wieder geändert werden. In Österreich ist jedoch genau das und zum Teil massiv geschehen.

Im Laufe der Jahrzehnte ist tatsächlich das verloren gegangen, was man das materiale Verständnis der Bundesverfassung nennt: Dass also nur hinein geschrieben wird, was auch vom Inhalt her wirklich hinein gehört. Allerdings muss man auch dazusagen, dass es für Kelsen gar kein materiales Verfassungsverständnis gab. Für ihn ging es primär um Rechtswege, die auf den verschiedenen Ebenen einzuhalten sind. Wenn dies der Fall ist, ist es für Kelsen in Ordnung.

Wir stehen heute 90 Jahre nach Kelsen. Ist nicht eine der Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass auch das Recht ein Mindestmaß an Pathos braucht?

Ludwig Adamovich. Foto: Andreas Urban
Ludwig Adamovich. Foto: Andreas Urban

Das ist Ansichtssache, wir nähern uns damit aber natürlich der Grundfrage, was Recht denn überhaupt ist. In einer rein positivistischen Betrachtung ist Recht das, was in einer bestimmten äußeren Form auftritt und sich auch durchsetzt. Es geht also um das rein Technische, nicht um die Inhalte. Nun muss man aber zugleich auch wissen, dass zur Zeit der Entstehung der Verfassung viele Grundsatzfragen zwischen den beiden großen Parteien umstritten waren. Und weil man sich eben nicht einigen konnte, ist man auch den großen Deklarationen bewusst ausgewichen. Die ideologischen Auseinandersetzungen waren damals ja noch sehr viel größer, dazu kam die Anschlussfrage an Deutschland, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ganz anders gesehen wurde als heute. Der Anschlussgedanke Österreichs an Deutschland war weiß Gott keine Erfindung der Nationalsozialisten, Österreich hat sich 1918 zum Bestandteil der deutschen Republik erklärt, dem hat erst der Staatsvertrag von Saint Germain mit seinem Anschlussverbot einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber natürlich war diese Idee damit noch lange nicht tot, Kelsen selbst hat zum Schluss seines Grundrisses des österreichischen Staatsrechts ein für seine Verhältnisse geradezu flammendes Bekenntnis zum "deutschen Vaterland" abgegeben. Damals herrschte diesbezüglich also eine vollkommen andere Atmosphäre als heute.

Die Nicht-Umsetzung der Ortstafel-Erkenntnisse des Verfassungegerichtshofs sind seit Jahren eine Wunde für den Rechtsstaat. Hat die Verfassung hier eine Lücke offen gelassen?