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"Fleisch und Blut sind tabuisiert"

Von Martin Hablesreiter und Sonja Stummerer

Reflexionen

Der Künstler Hermann Nitsch und der Fleischhauer Edi Reiss sprechen über die Ästhetik von Schlachtungen und von Opferritualen.


"Wiener Zeitung":Herr Nitsch, wie ist es zu der Zusammenarbeit mit Herrn Reiss gekommen?

Hermann Nitsch: Seit ich mich erinnern kann, hat meine Familie bei seiner Fleischhauerei eingekauft. Das waren immer sehr nette Leute. Ich habe den Schwiegervater von Herrn Reiss noch gekannt. Ein großartiger Fleischhauer! Den habe ich einmal gebeten, mir für eine Aktion etwas zu verkaufen. Seither arbeiten wir zusammen.

Edi Reiss: Es hat sich halt so ergeben. Hermann Nitsch brauchte Verpflegung für die Gäste des Orgien Mysterien Theaters. Das Fleisch dafür haben sie bei uns eingekauft. Und so kleinweise haben wir dann immer mehr dafür gemacht.

Sind Sie beide befreundet?

Nitsch: Zumindest auf keinen Fall verfeindet.

Reiss: Wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Ich habe nie schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht. Im Gegenteil: Wenn man von Herrn Nitsch etwas braucht, dann ist er da. Meine Tochter hat eine Maturaarbeit über ihn und sein Werk geschrieben. Dabei hat er ihr sehr geholfen. Wir sind gemeinsam zu ihm hingefahren und er hat ihr zwei Stunden lang erzählt, was sie wissen wollte. Und mit einem Leberkässemmerl kann ich den Herrn Nitsch jederzeit locken (lacht).

Wie ist die Kooperation mit Herrn Nitsch für Sie?

Reiss: Das ist eine ganz normale Arbeit für mich. Hermann Nitsch zahlt mich - und ich mach das. Wir machen Geschäfte. Gute Geschäfte, und das soll auch so bleiben. Wenn der Herr Nitsch sagt, er braucht einen Stier, dann bekommt er einen. Er kann auch zwei haben, wenn er will.

Nitsch: Oder wenn ich Blut brauche, dann bekomme ich auch das bei ihm.

Reiss: Und wenn er ein Leberkässemmerl braucht, dann bekommt er ein Leberkässemmerl!

Herr Nitsch ist also ein ganz normaler Kunde für Sie?

Reiss: Bei mir gibt’s nix Abnormales. Ein Stier ist immer ein Stier, egal, für wen.

Nitsch: Es ist wichtig zu erwähnen, dass wir nur jenes Fleisch für unsere Aktionen verwenden, das sowieso für den Verzehr durch den Menschen bestimmt ist.

Reiss: Ja genau. Und es wird immer bakteriologisch und serologisch kontrolliert. Und nach der Aktion muss es verarbeitet und gegessen werden.

Nitsch: Einmal haben meine Frau und ich über ein Jahr lang an einem Aktionsstier gegessen. Der liegt nach dem "Spiel" in kleinen Portionen in meiner Gefriertruhe und wird nach und nach verkocht.

Reiss: Es wird nix verschwendet oder weggeschmissen.

Sie liefern aber nur tote Tiere an Herrn Nitsch?

Reiss: Früher wurden auch lebende Stiere nach Prinzendorf gebracht und dort erschossen. Das darf wegen der Tierschützer aber nicht mehr sein. Da war ja ein Aufstand, das glaubt man gar nicht!

Warum haben Tierschützer so viel gegen eine Schlachtung bei Ihnen, wenn das Supermarktfleisch um 3 Euro pro Kilo viel mehr Tierquälerei beinhaltet?

Nitsch: In meiner Rolle als Dramatiker will ich quasi wie ein Voyeur den Tod und die Schlachtung zeigen. Aber die Tierschützer glauben eben, dass wir für unsere Aktionen mutwillig töten. Das ist natürlich ein Blödsinn. Diese Tiere werden sowieso geschlachtet, um gegessen zu werden. Menschen sind Allesfresser und Raubtiere. Sehen Sie sich doch Ihre Eckzähne an.

Reiss: Außerdem bringe ICH diese Tiere um und ich verstehe mein Handwerk. Ich mache das zigtausend Mal im Jahr.

Herr Nitsch, wieso ist der Stier für Sie ein so ein wichtiges Tier?

Nitsch: Jedermann will meine Arbeit natürlich symbolisch erklärt haben. Manches passiert einfach. Früher habe ich, ohne darüber nachzudenken, immer Ochsen verwendet. Es gibt aber nicht so viele Ochsen. Also ist es eines Tages ein Stier geworden. Das hat nichts mit dem Mithraskult oder anderen Archetypen zu tun.

Muss es zumindest ein besonderer Stier sein? Gibt es spezielle Anforderungen an Herrn Reiss?

Nitsch: Von meiner Seite nicht.

Haben Sie 2005 im Burgtheater wegen der Tierschützer nicht schlachten dürfen?

Reiss: Das wäre auch technisch nicht möglich gewesen. Ich kann ja nicht garantieren, dass mir der Stier nicht davonläuft. Das Vieh hat lebend 600 bis 700 Kilogramm. Den kann man allein nicht bändigen. Dazu brauch ich spezielle Räumlichkeiten - und die habe ich nur in meiner Fleischhauerei. Wenn sich jemand findet, der behauptet, er kann einen lebenden Stier halten, dann schlachte ich ihn auch im Burgtheater. Aber ich glaube nicht, dass das geht.

Nitsch: Es gibt auch Theatergesetze. In der Oper darf es zum Beispiel keine Blumen geben. Alles was Sie sehen, sind Kunstblumen. Diese Regeln auf Theaterbühnen betreffen natürlich auch den Umgang mit lebenden Tieren.

Reiss: Den Stier habe ich bei mir daheim geschlachtet. Dann haben wir ihn auf einen Lastwagen geladen, nach Wien gebracht - und gemma! Dort gab es einen Lastenaufzug zur Bühne. Dort drinnen hat es nachher ausgeschaut, das kann man sich gar nicht vorstellen: Blut, Fleisch, Weintrauben, Paradeiser, alles im Lift verteilt.

Nitsch: Das war die Krönung unserer Zusammenarbeit.

Herr Reiss, haben Sie die Vorführung in der Burg gesehen?

Reiss: Was heißt gesehen. Ich war ein Akteur. Ich habe auf der Bühne dem Stier die Haut abgezogen und ihn ausgeweidet. Die Leute vom Nitsch sind mit Weihrauch über die Bühne gerannt, weil meine Arbeit doch ein bisserl gerochen hat. Das war lustig.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Herrn Nitsch? Wissen Sie vorher schon, was Sie machen müssen?

Reiss: Vorher hab ich eigentlich nichts gewusst. Ist auch wurscht. Was soll sein? Ich mache meinen Job. Ich nehme öfters einen Stier aus. Nur schaut mir halt keiner dabei zu.

Verrechnen Sie einen Aufpreis, wenn Sie sozusagen als Schauspieler auftreten und Ihre Arbeit öffentlich machen?

Reiss: Nein! Natürlich nicht.

Ist das eine willkommene Abwechslung für Sie?

Reiss: Ja, das ist eine Hetz! Ich weiß zwar nicht, was sich die Leute denken, aber es ist eine Hetz. Ich war sicher der erste Fleischhacker im Burgtheater!

Nitsch: Schlachtungen haben Künstler schon immer fasziniert. Wie etwa Delacroix, der in aller Frühe in die Schlachthöfe von Paris malen ging. Die Farben haben ihn so begeistert.

Was fasziniert Sie an Fleisch und Blut?

Nitsch: Viel, aber ich bin nicht der erste Mensch, der von Fleisch und Blut fasziniert ist. Lesen Sie doch in den großen Schriften der Kulturgeschichte nach. Egal, ob bei Homer, bei Vergil oder im Alten Testament: Überall spielt das Schlachten eine große Rolle! Diese emotionale Auseinandersetzung der Künstler mit Fleisch und Blut reicht bis in die Moderne. Stellen Sie sich doch die Opferrituale einmal vor: All die sinnliche Pracht! Fleisch, Blut, Blumen, Räucherwerke wurden eingesetzt, um tiefste menschliche Emotionen zu erzeugen.

Aber das Opferritual ist doch der Akt des Tötens, der bei Ihnen gar nicht mehr vorkommt?

Nitsch: Ich beschäftige mich mit dem Abfallprodukt der Kulthandlung - und das ist die Ästhetik.

Warum ist die Ästhetik ein Abfallprodukt?

Nitsch: Rituale sind immer merkantil. Die Teilnehmer machen ein Geschäft mit ihren Göttern. Das ist ziemlich vergeistigt. Die dabei verwendete Ästhetik ist zwar ein emotionaler, aber kein essenzieller Bestandteil dieses Handels. Sie ist ein Abfallprodukt. Und ich erhebe diesen Abfall, ohne den das Ritual gar nicht funktionieren würde, zur Kunst.

Ist ein Schlachthof für Sie auch ästhetisch?

Nitsch: Auf jeden Fall. Dabei kannte ich das früher gar nicht. Erst mit meinen frühen Versuchen, mit Blut Bilder zu malen, kam ich mit Schlachthäusern in Kontakt. Es war ja nicht gerade einfach, Blut zu bekommen. Die haben einen fast erschlagen, wenn man Blut kaufen wollte. Das ging dann nur mit Trinkgeld im Hinterzimmer. Und dabei sah ich Schlachtungen. Das hat mich beeindruckt. Sie sind so expressiv und schön. Die Farben sind gewaltig - und für mich ist das zutiefst ästhetisch.

Wie ist das für Sie, Herr Reiss?

Reiss: Für mich ist das ein Beruf. Nicht, weil ich Spaß am Töten hätte. Ganz und gar nicht. Aber die Gesamtheit mag ich. Am Samstag fahre ich um mein Vieh. Ich kaufe bei meinen Bauern ein und fahre das Tier nach Hause. Am Sonntag soll sich das Tier ausrasten. Da geht die Milchsäure aus dem Fleisch raus.

Am Montag in der Früh wird es dann geschlachtet. Fleisch von gestressten Tieren ist das harte, billige Klumpert, das Sie im Supermarkt bekommen. Ein Braten von einem ausgerasteten Tier bleibt in der Röhre gleich groß und wird nicht schrumpelig wie beim Billigfleisch. Am Dienstag zerlegen wir alles. Am Mittwoch wird aus den Abschnitten Wurst produziert. Diese langsame Verarbeitung ist etwas Schönes.

Sind Sie auch ein Ästhet, Herr Reiss?

Reiss: Für mich ist das Routine. Mir fällt bei der Arbeit nicht auf, dass Därme schön sind. Ich weide aber auch 30 Tiere pro Stunde aus. Da kann ich mich nicht wie der Herr Nitsch hinstellen und den Anblick genießen.

Nitsch: Das ist kein sadistisches Genießen.

Reiss: Das habe ich nicht gesagt.

Nitsch: Andere betrachten ein Gebirge oder einen Baum und finden Ästhetik darin.

Wieso wurden aus alten Opferritualen im Laufe der Jahrhunderte Handlungen, die mittlerweile als ekelhaft empfunden werden?

Nitsch: Fleisch und Blut sind tabuisiert. Das hat mit dem Töten zu tun. Außerdem ist die Ekelschranke bei den neurotisierten Zivilisationsmenschen weit unten angesiedelt. Die grausen sich so vor dem Leben, dass sie in der Früh mit einem Staubsauger in jeder Hand aufstehen müssen.

Sollen Kinder beim Schlachten dabei sein?

Reiss: Meine Kinder waren dabei.

Nitsch: Finde ich auch. Man soll wissen, dass Menschen Raubtiere sind.

Bei Opferritualen spielte immer wieder der Rausch eine Rolle? Wie wichtig ist für Sie der Rausch?

Nitsch: Die Menschheitsgeschichte ist geprägt vom Bestreben, den Rausch zu bändigen. Die großen Religionen haben versucht, die Ekstase zu vertreiben. Das ist ihnen letztlich auch gelungen, sie haben den Rausch vergeistigt. Das Fleisch wurde zu Brot. Das Blut ersetzte man durch Wein.

Aber der Wein berauscht ja auch?

Reiss: Vom Blut bekommt man jedenfalls keinen Rausch.

Nitsch: Rausch wird oft als vulgär interpretiert. Das stört mich. Eine Gesellschaft braucht den Rausch. Jede Kultur braucht ihn. Jede Erleuchtung ist eine Form von Rausch.

Leben wir momentan in einer rauschfeindlichen Zeit?

Nitsch: Das ist schwer zu sagen. Rausch äußert sich zu jeder Zeit anders. Ich glaube aber nicht, dass es keinen Rausch mehr gibt. Drogen und Alkohol werden immer konsumiert. Eine gewisse Zwangsneurose der Gesellschaft erkennt man vielleicht an der Überzivilisierung des Essens. Man kocht aufwändig und zwingt die Menschen, tausend Regeln beim Speiseakt zu gehorchen, wie etwa dieses extrem unbequeme aufrechte Sitzen. Da vergeht die Lust am Essen.

Entfernt sich der Mensch von der körperlichen Lust?

Nitsch: Es gibt viel sinnlose körperliche Lust. Ich glaube nicht, dass Schifahren oder Discos notwendig sind. Diese körperlichen Lustgewinne könnte man auch über die Sexualität oder das Essen befriedigen, aber das sind halt Sünden. Vielleicht sollte man sich auch wieder mehr auf Gerüche konzentrieren und sie als Lust wahrnehmen. Flaubert oder Marcel Proust haben so großartig über Gerüche und deren Emotionen geschrieben. Ich selbst habe immer wieder mit Geruchsstationen gearbeitet und ich kann mich sehr über den Geruch von Jasmin freuen.

Wie riecht Blut?

Reiss: Das ist eigentlich geruchsneutral, würde ich sagen.

Nitsch: Naja, es riecht ein bisserl nach Maggi. Das ist mir immer aufgefallen. Aber es ist nicht so stark.

Därme oder Innereien kommen in der Mythologie überhaupt nicht vor, bei Ihnen, Herr Nitsch, aber recht wohl. Warum?

Nitsch: Innereien faszinieren mich einfach. Sie sind im Regelfall für den Menschen unsichtbar und dennoch immer vorhanden. Därme sind außerhalb Ihres
Gesichtsfeldes, dennoch wissen Sie, dass sie da sind. Ich vergleiche Därme mit der Psychoanalyse. Da wird ein Leib geöffnet. Dann dringt Licht ein in
einen ansonsten verborgenen Bereich.

Herr Reiss, haben Sie ein Bild von Herrn Nitsch zu Hause?

Reiss: Über dem Bett hängt eins! (lacht) Nein, Scherz, habe ich nicht.

Nitsch: Wenn er ein Bild von mir hätte, dann müsste ich mir einen Ochsen von ihm zu Hause aufhängen. (lacht)

Zu den Personen:
Hermann Nitsch, geboren 1938 in Wien, begann 1960 als Künstler zu arbeiten. Er ist Mitbegründer des Wiener Aktionismus und musste wegen seiner Arbeiten sogar ins Gefängnis. Er stellte mehrfach bei der "Documenta" in Kassel aus und gilt heute als einer der bedeutendsten und international gefragtesten Künstler Österreichs. Werke von Nitsch befinden sich unter anderem im New Yorker MOMA, im Guggenheim Museum und im Pariser Centre Pompidou. Seine (nummerierten) Aktionen gipfelten im sogenannten 6 Tage Spiel, das alljährlich im niederösterreichischen Schloss Prinzendorf stattfindet. Eine solche Performance wurde 2005 im Wiener Burgtheater gezeigt. Gegenwärtig würdigt die Ausstellung "sinne und sein - retrospektive" im Nitsch Museum Mistelbach das Gesamtwerk des Künstlers. www.nitsch.org

Edi Reiss wurde 1962 in Mistelbach geboren. Er absovierte eine Lehre als Schlosser und arbeitete 10 Jahre lang bei der OMV. 1988 heiratete er eine Fleischerstochter, wechselte den Beruf und übernahm den Betrieb seines Schwiegervaters. Nach eigenen Angaben könnte er sich nichts anderes mehr vorstellen, als Fleischhacker zu sein. 2005 zog er im Rahmen des "Orgien Mysterien Theaters, 122. Aktion" im Wiener Burgtheater einem toten Stier die Haut ab, ehe er ihn ausnahm.Fotos:Stummerer


Sonja Stummerer, geb. 1973, und Martin Hablesreiter, geb. 1974, leben als Architekten, Designer und Autoren in Wien. Ihre bekannteste Publikation: "Food Design XL", Springer Verlag.