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"Der Kuss befindet sich in der Rezession"

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen

Der französische Philosoph hat sich in seiner neuesten Publikation mit der Kulturgeschichte des Küssens befasst - und erzählt im Interview, warum er diese zärtliche Geste für zunehmend gefährdet hält.


"Wiener Zeitung": Herr Lacroix, wie steht es bei Ihnen mit Theorie und Praxis: Hat das Verfassen des Buchs Ihr persönliches Kussverhalten positiv beeinflusst?

"Es ging mir darum, den Sinn des Liebeskusses wieder zu entdecken, dessen Praxis alles andere als universell ist": Alexandre Lacroix im Gespräch mit der "Wiener Zeitung"-Mitarbeiterin Sonja Panthöfer.
© Foto: privat

Alexandre Lacroix: Die theoretische Recherche zu einem Buch lässt sich nicht automatisch in der Realität anwenden. An diese direkte Form von Metamorphose glaube ich, ehrlich gesagt, nicht.

Sie küssen Ihre Frau also nicht häufiger?

Nein, ich gehöre wohl einfach nicht zu den guten Küssern und meine manière d‘être, also meine Art zu sein, hat sich nicht geändert. Ich gehöre zu einer Generation, die mit Pornographie aufgewachsen ist und wo der Kuss nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit ist. Das war zum Beispiel zu Zeiten von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre noch anders.

Aber die beiden galten doch als sehr liberales Paar, gerade auch in Sachen Liebe?

In der Tat. Gerade deshalb finde ich eine Anekdote sehr interessant, von der Simone de Beauvoir in einem Tagebucheintrag berichtet. "Heute Abend hat mir Jean-Paul keinen Gute-Nacht-Kuss gewährt und ich habe die ganze Nacht geweint." Daran zeigt sich, wie kulturell aufgeladen der Kuss ist. Die Arbeit an dem Buch hat mir einen völlig neuen Zugang zu einer Geste ermöglicht, die im Grunde recht banal und zudem biologisch nicht notwendig ist. Es ging mir also darum, den Sinn des Liebeskusses wieder zu entdecken, dessen Praxis alles andere als universell ist.

Sondern?

Vor der Globalisierung wussten viele Kulturen überhaupt nichts vom Kuss, der zum Beispiel im 19. Jahrhundert in Afrika gänzlich unbekannt war. Als die Afrikaner in Kontakt mit den Weißen kamen und die ersten Küsse ihres Lebens beobachteten, waren sie schockiert und angeekelt.

Wie hat man dort seine Liebe bekundet?

In Teilen Afrikas leckte man sich damals offenbar gegenseitig die Augen, um sich zärtlich zu zeigen. Und in Asien ist der Kuss überhaupt seltener, weil er dort als untrennbar mit dem Sex verbunden gilt. Umgekehrt ist einem Großteil der Europäer der Riechkuss fremd, den man unter anderem in Lappland und China praktiziert.

Wie funktioniert ein Riechkuss?

Man legt die Nase an die Wange der geliebten Person und atmet bei geschlossenen Augen lang ein und wieder aus.

Das klingt in der Tat sehr zärtlich und poetischer als Ihre Beschreibung von Mündern mit plombierten Backenzähnen und der Haut der Lippen, die an zwei träge Nacktschnecken erinnern. Wem haben wir den Lippenkuss zu verdanken?

Den Römern. Im Römischen Reich wurden drei Formen von Küssen praktiziert: So gab es das unschuldige Basium innerhalb der Familie, das zum Beispiel zwischen Vater und Sohn ausgetauscht wurde. Ein Osculum gaben sich Mitglieder von gleichem sozialen Stand als Zeichen der Anerkennung. Schließlich existierte aber auch das Suavium, also der Kuss zwischen Liebespaaren mit offenem Mund. Die frühen Christen haben diese Bräuche dann begeistert übernommen und sie bis ins 13. Jahrhundert praktiziert.

Warum haben die Katholiken damit aufgehört?

Es gab wohl zu viele Gerüchte über Ausschweifungen, so dass sich Papst Innozenz III. zu Beginn des 13. Jahrhunderts gezwungen sah, den Kuss zu verbieten. Indem Innozenz III. den Kuss im religiösen Kontext untersagte, machte er ihn aber erst der Zivilgesellschaft zugänglich. Die Christen haben dem Kuss also eine weitere Dimension hinzugefügt, nämlich eine metaphysische Tragweite. Die kann man durchaus spüren, auch wenn man nichts von der Geschichte des Kusses weiß.

Neben Innozenz hat aber auch Hollywood viel für die Verbreitung des Kusses getan . . .

Oh ja, das war die zweite große Werbekampagne für den Kuss! Im Hollywood-Film der vierziger und fünfziger Jahre war der Kuss ein Symbol für die Liebe in all ihren Dimensionen, aber keinesfalls als Zeichen von sexueller Freizügigkeit. Die amerikanischen Regisseure durften nach dem sogenannten Hays Code, einer Art Selbstzensur der großen Studios, einfach nicht mehr zeigen.

Was schrieb der Hays-Code vor?

Seine Direktiven in Sachen Sittlichkeit und Sexualität waren sehr präzise: Es durften zum Beispiel keine zweideutigen Tänze gezeigt werden, Ehebruch durfte nicht positiv dargestellt werden, Bett- und Schlafzimmerszenen waren tabu und so weiter. Und so wurde eben viel geküsst. Weil amerikanische Filme zu dieser Zeit konkurrenzlos waren, wurden sie in die ganze Welt exportiert. Überall, selbst in den entlegensten Dörfern in der Türkei oder Japan, begannen die Menschen, auf der Leinwand diese amerikanischen Paare zu sehen, die sich immer wieder küssten. Dies hat dem Kuss Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer weltweiten Verbreitung verholfen. Insofern ist das Schicksal des Kusses mit dem der Pizza vergleichbar, die heute weltweit verzehrt wird.

Wenn wir jemanden küssen, betätigen wir unsere Sprechwerkzeuge, also Lippen und Zunge. Was drückt sich in der Sprache des Kusses aus?

Nun ja, zunächst befinden wir uns in dieser Situation allein aus physischen Gründen in einem oralen Konflikt: Im Gegensatz zum Sex können wir während des Küssens jedenfalls nicht mit dem Anderen sprechen; Sprechen und Küssen gleichzeitig schließen einander aus. Dieser orale Konflikt erklärt vielleicht zumindest teilweise auch die relative Stille, von der diese Geste umgeben ist. Es gibt unglaublich viele Bücher zur Pornographie oder zu Sexualpraktiken, aber nahezu nichts über das Küssen.

Gibt es nicht auch ziemlich wenig Synonyme dafür?

Philosoph und Kussforscher: Alexandre Lacroix.
© Foto: A. Février©Flammarion

Das stimmt in der Tat. Der Psychoanalytiker Adam Philips schrieb einmal, dass sich das Küssen einer sprachlichen Darstellung entziehe. Es existiert zwar ein Wörterbuch des Küssens, das aber nirgends hinterlegt ist. Wir wissen natürlich, dass jeder seinen persönlichen Kuss-Stil hat und über ein eigenes Kussrepertoire verfügt. Wenn sich also ein Paar kennen lernt, entdeckt es auch dieses "Wörterbuch" des Anderen, und erlebt dabei positive oder auch deprimierende Erfahrungen . . .

Sie beschreiben in Ihrem Buch verschiedene Techniken, wie etwa den Kuss à la "Trommel", den "Pinsel", den "Stab" und das "Endoskop". Sind das eigene Wortschöpfungen?

Ja, es war amüsant, diese Typologie zu erstellen, weil wir tatsächlich über kein Vokabular verfügen. So ist die Technik des Trommelkusses eine Anspielung auf die Waschmaschine und auf die Knutschereien der Jugendlichen, die fürchterliche Angst haben, etwas falsch zu machen. Die Einfallsreichen wechseln immerhin von Zeit zu Zeit die Richtung des Kreisens.

Aber wer erwartet beim Kuss schon Perfektion?

Richtig, darum geht es nicht. Was uns berührt, ist ja die Verwundbarkeit des Anderen. Was zählt, ist die Bekundung von Gefühlen, nicht die Performance. Aber egal, welche Technik man praktiziert, lässt sich über das Küssen Folgendes sagen: Der Kuss schafft eine partnerschaftliche Atmosphäre zwischen Mann und Frau.

Also eine demokratische Geste?

Nun ja, zumindest können die Frauen beim Küssen leichter die Führungsrolle übernehmen. Anders als beim Sex gibt es bei der Vereinigung der Münder nicht die Penetration. Insofern ist ein egalitärer Aspekt sicher vorhanden, da es schließlich dasselbe Organ ist, mit dem Mann und Frau voneinander profitieren.

Sex lässt sich durchaus auch ohne Liebe praktizieren, während Küssen ohne Liebe eine Qual ist. Ist der Kuss also intimer als der Geschlechtsakt?

Nein, das sehe ich anders. Beim Sex werden wir nun einmal von unseren Trieben gesteuert, und wenn Sie jemanden ins Gefängnis, in die Wüste oder auch in ein englisches Internat stecken, wird er immer einen Weg finden, seine Sexualität zu praktizieren . . . Beim Kuss verhält es sich genau umgekehrt, denn man kann sehr gut darauf verzichten. Er steht aber für das, was das Paar lebt. Man küsst sich, weil man Lust hat, sich zu küssen: Der Kuss ist so etwas wie eine kostenlose Zugabe.

Aber im Kuss zeigen wir uns dem Anderen doch wirklich.

Der Ansicht bin ich nicht. Ich glaube, dass es ein Interpretationsfehler ist, der aus der Praxis der Prostituierten hervorgeht, die ihre Kunden ja bekanntermaßen nicht küssen, weil dies zu intim sei. Vorhin erwähnte ich bereits die Römer: Ein Römer hätte niemals eine Prostituierte geküsst, er hätte sich geweigert. Es erscheint mir deshalb viel wahrscheinlicher, dass die Prostituierten ein Verbot, das über sie verhängt wurde, schließlich selbst eingefordert haben, und zwar aus Stolz. Ich halte diese Kussverweigerung daher eher für ein Phänomen einer bedrohten und missachteten Minderheit. Ich würde es so formulieren: Der Kuss ist nicht intimer, er ist aber gewiss ein untrügliches Zeichen.

Wofür?

Der Kuss ist ein Barometer für den Zustand eines Paares. Wissen Sie, wie die allererste Frage zumindest französischer Sexualtherapeuten an Paare mit Beziehungsproblemen lautet?

Nein, keine Ahnung!

Küssen Sie sich noch? Und wenn ja, wie oft? Wenn ein Paar vergisst, sich zu küssen, ist das der Anfang vom Ende der Beziehung. Sehr interessant ist meiner Meinung nach, dass sich die Klientel von Sexualtherapeuten deutlich geändert hat. Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren kamen hauptsächlich Männer in der Lebensmitte, die mit ihrer nachlassenden Libido zu kämpfen hatten, doch die suchen in Zeiten von Viagra deutlich seltener einen Sexualtherapeuten auf. Neuerdings sind unter den Patienten offenbar viele Paare, die unter dreißig sind.

Worin liegt das Problem der jungen Leute?

Diese Paare verstehen sich offenbar sehr gut, fahren zusammen in Ferien, wollen heiraten und Kinder haben, aber im Bett klappt es nicht.

Was sagen die Sexualtherapeuten dazu?

Die waren zunächst völlig hilflos. Eine der Erklärungen dafür liegt darin, dass diese jungen Leute schon sehr früh mit pornographischen Bildern konfrontiert waren, zum Beispiel im Internet, und darüber hinaus in Sachen Sex auch schon einiges ausprobiert haben, egal ob nun Gruppensex oder homosexuelle Erfahrungen. Diese 25- bis 30-Jährigen schauen sich abends im Zweifelsfall lieber eine DVD an als Sex zu haben . . .

Wenn sich selbst junge Paare weniger oder gar nicht mehr küssen: Ist der Kuss in Gefahr?

Auf jeden Fall. In einer Gesellschaft, in der die Pornographie eine große Rolle spielt und zugleich alles auf Beschleunigung und Konsum ausgerichtet ist, haben Erotik und Langsamkeit den Geruch des Veralteten. Ein Beispiel dafür sind sicher auch die James-Bond-Filme. Sind Sie Bond-Fan?

Das wäre sicher übertrieben, aber ich habe ein paar gesehen.

Ich habe mir mit meinem ältesten Sohn, der jetzt dreizehn ist, ziemlich viele Bond-Streifen angesehen, und das ist im Hinblick auf den Kuss sehr aufschlussreich. Denn die Filme gibt es ja bereits seit fünfzig Jahren und insofern lässt sich die Entwicklung des Kusses als gesellschaftlicher Spiegel dort sehr schön verfolgen.

An Kuss-Szenen mit Sean Connery kann ich mich erinnern . . .

. . . die natürlich erotisch sehr aufgeladen sind. Pierce Brosnans Küsse zu Beginn der 2000er Jahre würde ich dagegen eher athletisch nennen und als Zugabe zu den Sex-Szenen bezeichnen. Der letzte Bond-Film, "Skyfall" mit Daniel Craig in der Hauptrolle hat mich allerdings absolut verblüfft, weil Craig kein einziges Mal ein Bond-Girl küsst. Man könnte also durchaus sagen, dass sich der Kuss in der Rezession befindet. Und da es einfach jammerschade wäre, wenn diese Zärtlichkeit zur banalen Geste verkäme, ließe es sich fast schon als politisches Projekt bezeichnen, den Kuss zu retten.

Welche Küsse sind für Sie persönlich im Rückblick besonders kostbar?

Ich mag besonders gern Küsse vor der Kulisse einer sehr schönen Landschaft. Möglicherweise, weil ich so den Eindruck habe, mit dieser zärtlichen Geste auf die Schönheit der Umgebung zu antworten. Es ist eine interessante Art und Weise, den Kuss so zu zelebrieren - und natürlich auch sehr romantisch! Mein Kuss-Verständnis ist da offenbar nachhaltig von Jean-Jacques Rousseau geprägt, der schon von dieser authentischen Geste schwärmte.

Sie sehen im Kuss eine sinnliche Alternative zum Erinnerungsfoto?

Ganz genau! Ich finde es interessant, sich an bestimmten Orten zu küssen, sozusagen als Momentaufnahme für den Zustand einer Liebe zwischen zwei Menschen. Wenn wir uns auf Reisen an einem wunderschönen Ort befinden, dessen Anblick uns überwältigt, wissen wir oft nicht, wie wir reagieren sollen, und greifen dann zum Fotoapparat. Spannender ist es meiner Ansicht nach allerdings, diesen Moment in Form eines Kusses festzuhalten.

Kusstechniken nach Alexandre Lacroix

Trommel: Die Partnerzunge wird energisch und demonstrativ umkreist, gern auch nur einseitig links- oder rechtsdrehend; vor allem bei Jugendlichen und Ungeübten beliebt.
Pinsel: Die Zunge turtelt spontan und scheinbar unsystematisch mit der des anderen - eine Technik, die bereits mehr Feinmotorik und Raffinesse voraussetzt, aber auch suggerieren soll, "absichtslos" zu sein.
Stab: Die Zunge dringt zielstrebig in den Mund ein und signalisiert mit dieser Art von "Scheinpenetration", dass es sich hierbei nur um das Vorspiel zum Sex handeln kann.
Endoskop: Die Zunge erkundet den Mund des anderen mit geradezu wissenschaftlichem Interesse; geeignet für besonders Neugierige mit Vorliebe für anatomische Besonderheiten.

Kuss-Statistik
Frankreich und Italien sind weltweite Rekordhalter: Paare tauschen dort im Schnitt bis zu 7 Küsse täglich aus. In Japan dagegen gibt ein Ehemann seiner Frau höchstens einen halben Kuss. Absolutes Schlusslicht bilden allerdings die Koreaner, bei denen die tägliche Dosis lediglich bei einem Viertelküsschen liegt. Deutsche und österreichische Paare rangieren bei diesem Zärtlichkeitsbeweis im Mittelfeld.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, Coach und Lehrerin in München. Außerdem bietet sie das Podcast "sounds deutsch" an (www.sounds-deutsch.de). Dieser Service richtet sich an alle, die Deutsch lernen und sich für Deutschland interessieren.

Zur Person
Alexandre Lacroix, geboren 1975, Philosoph und Politologe, lebte nach seinem Studium einige Jahre in einem kleinen Dorf im Burgund. 2005 kehrte er nach Paris zurück, um die erste französische Philosophie-Zeitschrift zu gründen, die er seitdem als Chefredakteur leitet. Gleich die erste Ausgabe des "Philosophie Magazine" wurde zur besten Zeitschrift des Jahres 2007 gekürt. Seit 2011 gibt es auch das deutsche Schwestermagazin, das eng mit der Pariser Redaktion zusammenarbeitet. Alexandre Lacroix unterrichtet neben seiner journalistischen Tätigkeit am "Institut d’études politiques de Paris". Zusammen mit seiner Frau Chiara hat er drei Kinder und lebt in Paris.
Sein Buch "Kleiner Versuch über das Küssen" ist 2013 im Matthes & Seitz-Verlag erschienen.