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"Ich weiß nie, wo meine Ideen herkommen"

Von Christina Bylow

Reflexionen

Der Zeichner, Grafiker, Maler und Schriftsteller Tomi Ungerer hält Freiheiten für wichtiger als Sicherheiten, er erklärt, wie sich sein Film "Der Mondmann" von seinem gleichnamigen Kinderbuch unterscheidet und plädiert für die Fantasie und das politische Engagement.


"Wiener Zeitung": Herr Ungerer, ich gehöre zu den vielen, längst erwachsenen Kindern, die mit Ihren Büchern aufgewachsen sind. Ich muss Ihnen einfach dafür danken.Tomi Ungerer: Komisch ist so was, wissen Sie. Ich bin jetzt 82 Jahre alt, und nun sind es schon zwei, drei Generationen, von denen ich das höre. Komisch, dass die Bücher auf der ganzen Welt verbreitet sind, vor allem die alten, die so schlimm gezeichnet waren. Die alten "Mellops" sind, glaube ich, in 27 Sprachen übersetzt worden. Ich kann es nicht fassen, dass die geblieben sind.

Mein erstes Buch war "Zeraldas Riese". . .

Ja, eine gute Geschichte, es gab wohl vorher kein Kinderbuch über einen Menschenfresser - aber die Zeichnungen - nein!

Doch, die sind schön, vor allem die Bilder von den Speisen, die Zeralda dem Menschenfresser kocht, um ihn vom Menschenfressen abzubringen. Wir haben immer versucht, das nachzukochen, wenigstens die Desserts.

Wenn ein Buch fertig ist, will ich es nicht mehr sehen. Früher vor allem, jetzt ist es mit der falschen Scham besser geworden, das geht auch vorbei. Ich selbst habe nicht alle meine Bücher. Meine Kuratorin im Museum hat mir gesagt, das sind jetzt über 150 Bücher.

Warum haben Sie Ihren Kindern die Bücher nicht zu lesen gegeben, als sie klein waren?

Weil ich nicht wollte, dass sie in der Schule herumerzählen, was ihr Vater macht. Außerdem: Braucht man überhaupt Kinderbücher? Ich weiß nicht. Es gibt Klassiker, ich habe meinen Kindern Charles Dickens vorgelesen. Ich glaube, man sollte Kindern viel vorlesen. Alle meine Kinder haben Bücher aus dem viktorianischen Zeitalter geliebt. Die Wörter, die Kinder nicht kennen, fragen sie nach. Bücher, die man Kindern vorliest, sollten von der Natur handeln, sie sollten daraus die Namen der Vögel, der Bäume, der Wildblumen lernen.

Mit welchen Kinderbüchern sind Sie aufgewachsen?

Mit dem "Struwwelpeter" und "Max und Moritz", das sind Klassiker. Wenn Sie an den Struwwelpeter denken - wie der Junge, der sich über den Schwarzen lustig macht, in ein Tintenfass getaucht wird und dann selbst schwarz ist - gibt es eine bessere Geschichte über den Rassismus?

Gerade deshalb galt "Der Struwwelpeter" als Beispiel für "Schwarze Pädagogik", und Eltern, die ihren Kindern Ihre Bücher geschenkt haben, wollten gerade etwas anderes.

Gut, bei mir gibt es immer den Triumph der Minderheiten. All diese gehassten Tiere, vor denen sich andere ekeln, die immer fremd sind in ihrer eigenen Welt, wie der Mondmann, der auch als Fremder in eine Welt kommt. Meine Kinderbücher sind eigentlich auch Fabeln für Erwachsene.

Auch die Erwachsenen sind oft einsam bei Ihnen und werden manchmal von Kindern gerettet wie in "Das Biest des Monsieur Racine". Wir haben uns bei Ihren Büchern auch ein bisschen gegruselt. In "Monsieur Racine" gibt es einen Landstreicher, der trägt einen Sack an einem Stock über der Schulter, in dem Sack liegt ein abgeschnittener Fuß, die Zehen gucken heraus.

Ich weiß nie, wo meine Ideen herkommen. Nach dem Fuß wurde ich schon einmal gefragt. Ich habe gesagt, ja, ein Auto hat einen Extra-Reifen, und ein Landstreicher, der muss auch einen Extra-Fuß haben. Als ich es gezeichnet habe, war der Fuß plötzlich da.

Ein schauriges Detail - wie auch im Schlussbild von "Zeraldas Riese" - da steht ein kleiner Junge mit Messer und Gabel hinter dem Rücken und schaut begehrlich auf sein neugeborenes Geschwisterchen . . .

Ja, wir sind alle Erben, so ist das im Leben, sein Vater war Menschenfresser, das Kind hat die Gene. Beim Fabulieren gibt es immer eine Wirklichkeit, und das ist in diesem Fall die Vererbung. Bei aller Fantasie muss es Wirklichkeit geben - bei den "Mellops" habe ich ein Flugzeugmodell gebaut, um zu sehen, ob das Flugzeug auch fliegt. In meinem letzten Buch "Zloty" kommen all diese Heilblumen vor, die ich gezeichnet habe aus der Erinnerung, ich brauchte kein Heilpflanzenbuch durchzusehen. Meine Kenntnisse waren da, ich habe es nachher nachgeschaut, ich hab da keinen Fehler gemacht. Eine Heilpflanze muss gründlich gezeichnet werden.

Haben die gruseligen Aspekte in Ihren Büchern etwas mit Angst zu tun? Sie haben einmal gesagt, Sie hätten als Kind viel Angst gehabt. Die Kinder in Ihren Büchern haben nie Angst.

Ich hatte eine Mutter, die mich so erzog, dass ich die Angst überwinden konnte. Wie Sie richtig sagten, haben meine kindlichen Helden in den Kinderbüchern nie Angst. Auch der Mondmann nicht, er ist traurig, aber Angst hat er nicht. Die Kinder haben ursprünglich keine Angst. Angst wird ihnen eingepflanzt. Und es gibt natürlich Unterschiede zwischen Ängstlichkeit und Angst. Wir sind als Kinder über Minenfelder gelaufen, und während der Bombenanschläge haben wir gelacht, hysterisch natürlich. Meine Mutter wurde zur Gestapo bestellt, sie nahm mich mit, weil man einer Mutter nichts tun würde, und vorher sagte sie zu mir: Mach Dir keine Gedanken, das sind alles Dummköpfe. Und sie hat sie alle manipuliert. Aber die Angst ist nötig, um die Angst zu überwinden.

Ihr anderes großes Thema ist Freiheit.

Ja, ich bin wie Hamburg, ich habe meine "Große Freiheit". In allem. Das habe ich wirklich gut in meinem Leben entwickelt. Ich halte mich nicht einmal an den Kalender. Ich mag kein Weihnachten, ich mag keinen Geburtstag, wieso soll man mir vorschreiben, jetzt musst Du Neujahr feiern? Wieso muss ich dieses und jenes feiern? Nein, wenn ich einen Freund wieder treffe, den ich für ein Jahr nicht gesehen habe, dann wird richtig gefeiert.

Feiern Sie Ihren Geburtstag?

Ach nein, nein, nein. Das ist für mich der schlimmste Tag des Jahres. Ich versuche immer wegzugehen. Die anderen feiern das für mich, und das ist die Hölle.

Kommen wir zum "Mondmann" - was ist die Moral der Geschichte?

Es geht zuallererst um den Treibstoff, den wir alle fürs Leben haben und brauchen - die Neugierde. Ohne Neugierde gäbe es keine Kenntnisse. Das fing mit Adam und Eva an. Deshalb sage ich ja, das Leben ist wie eine Safari, Sie können die Schönheit der Schmetterlinge bewundern, aber Sie können auch von einem Tiger angegriffen werden. Das ist das Abenteuer, und dann kann man entscheiden, will man mehr Abenteuer oder zieht man sich auf Sicherheiten zurück. Aber wie gesagt, der "Mondmann" ist auf seine Kosten gekommen. Das Buch war eine Sache, der Film eine andere, mit dem Regisseur habe ich mich hingesetzt und es wie einen Roman entwickelt. Es ist jetzt viel politischer geworden. Es gibt ja eine Szene, das sieht aus wie Nordkorea. Mögen Sie den Film?

Ja, auch weil er so langsam ist.

Ich finde, man kann sich diese Zeit auch nehmen für jedes einzelne Bild. Alle Elemente, die mir wichtig sind, sind in dem Film. Die Sprachen - ich bin dreisprachig. Mir sind die Sprachen wichtig, ich liebe die Wörter und wenn der Mondmann auf die Erde kommt, muss er sich doch unterhalten können mit den Menschen. Und es ist sehr wichtig, den Kindern zu zeigen, dass man eine Sprache lernen kann. Als die Nazis kamen, hatten wir Kinder drei Monate um Deutsch zu lernen, für ein "Merci" oder ein "Bonjour" konnte man verhaftet werden.

Haben Sie zu Hause elsässischen Dialekt gesprochen?

Nein, alle meine Kinderfreunde konnten elsässisch, es war für sie nicht so schwierig, deutsch zu sprechen, es ist ja ein alemannischer Dialekt. Aber bei uns zu Hause wurde französisch gesprochen, wir waren snobistische Bürger, für mich war es schwieriger. All diese Elemente sind im "Mondmann" drin, aber wenn ich ein Buch konzipiere, habe ich, wie gesagt, keine Ahnung. Ich setzte mich einfach hin und das Buch geht los. Später kann ich sagen: Ach, das ist ja autobiografisch.

Worin besteht das Politische im "Mondmann"? Ist es das Thema der Diktatur?

Ja, und die Basis der Diktatur ist die Gier - die Gier, alles besitzen zu wollen, die Gier nach Macht. Dschingis Khan, Hitler, Stalin, alle diese Menschen wollten alles haben, alles beherrschen. Alle meine letzten Bücher sind sehr politisch orientiert. "Die Blaue Wolke" handelt vom Bürgerkrieg, "Neue Freunde" handelt von einem schwarzen Kind, das in eine weiße Nachbarschaft kommt. "Otto" ist ein Buch über die Shoah. Otto sagt, Mama, ich will auch so einen Stern haben und sie, nein, das kannst du nicht, du bist kein Jude. Die Kinder müssen davon wissen, dass sich so etwas nicht wiederholt.

Sind die Diktaturen in Europa nicht wirklich Geschichte?

Die Diktaturen haben sich verändert. Wir haben nun eine elektronische Diktatur. Alle hängen nur noch am Computer und am Handy. Ich habe kein Handy. Ich könnte mit so einem Ding kein freies Leben haben.

Kinder ohne Handy sind heute Außenseiter.

Das ist furchtbar, wie abhängig sie sind vom Handy. Vom Computer. Wo können die sich noch selbst entwickeln? Sie brauchen nicht einmal mehr ins Lexikon reinzuschauen. Sie klicken bubububub auf ihr Handy -und bekommen die Information, an die man sich nicht erinnert. Das sind Informationen für den Moment, es geht nur darum, herauszufinden, ist dieses oder jenes richtig oder nicht richtig. Aber sonst? Was wissen sie? Ich habe nicht studiert, aber habe immer gelesen, ich habe mich zum Beispiel für Paläontologie interessiert, für die Fossilien, und ich erinnere mich jetzt noch an die lateinischen Namen. Das lernt man nicht einfach so auf einem Schirm. Diese blumigen Namen, clypeus ploti, das sind Jura-Seeigel. Solche Kenntnisse bleiben nur, wenn man sie liest. Was nur vorübergehend auf einem Schirm wahrgenommen wird, bleibt nicht.

Sie würden also dem Hirnforscher Manfred Spitzer zustimmen, der vor allem in Bezug auf Kinder von der "Digitalen Demenz" spricht?

Ja, die Kinder verblöden total.

Ihre Kinder sind erwachsen. Was würden Sie tun, wenn Sie heute kleinere Kinder hätten, um sie davor zu beschützen?

Ich hätte heutzutage überhaupt lieber keine Kinder. Sie werden das Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich nicht erleben. Wegen der Klimakatastrophe.

Sind Sie so pessimistisch?

Nein, ich bin realistisch. Selbst wenn der Co2-Ausstoß sofort drastisch reduziert würde, schmilzt doch die Polarkappe. Durch das Abschmelzen der Pole entsteht wieder C02 , aus dem schmelzenden Permafrost dringt Methan. Das heißt, dass es am Ende des Jahrhunderts kein Polar-Eis mehr geben wird. Alles kommt aus dem Ungleichgewicht. Was soll mit der Welt passieren, wenn die Ozeane tot sind? Das ist nicht pessimistisch, das ist ganz einfach.

Es gab oft schon Untergangs-Szenarien, die dann nicht eintraten.

Der Mensch ist schon clever, er wird schon einen Weg finden, aber unter welchen Zuständen?

Sind Sie engagiert in der Ökologie-Bewegung?

Ich war mein ganzes Leben lang engagiert - mit Plakaten, mit Aktionen, in Gesprächen mit Politikern. Immer habe ich mich eingesetzt: gegen Faschismus, gegen Rassismus. Gegen die Naturzerstörung. Für die elsässische Sprache, für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Aber jetzt habe ich nicht mehr genug Zeit und nicht mehr genug Energie. Man ist in seiner Zeit geboren, das ist Schicksal, da muss man sich engagieren, da bin ich wirklich fatalistisch. Aber nicht in dem Sinn, dass ich nicht kämpfen will. Ich muss kämpfen können. Und ich bin sehr froh, dass der Mondmann im Film viel engagierter ist, als er ursprünglich war. Es ist wirklich eine Geschichte über die Macht.

Die Macht, verkörpert von einem Diktator, verglüht im All.

Macht verglüht immer.

Sie haben sich aber mit Mächtigen zusammengetan. Warum?

Ich habe sehr viel mit der Macht gearbeitet, mit dem Schröder, ich habe Gesetze durchgebracht mit Jack Lang, als er in Frankreich Kulturminister und Bildungsminister war. Ich war ein Busenfreund von Oscar Lafontaine, aber mit Erwin Teufel habe ich auch eine gute Verbindung gehabt. Es ging nicht um Parteien. Das waren Freunde. Manche Politiker haben meine Ideen aufgenommen und durchgesetzt. Zum Beispiel, dass in der Grenzregion zwischen Baden und Frankreich, auf der deutschen Seite nun Französisch als erste Fremdsprache gelehrt wird und nicht Englisch.

Als junger Mann in New York haben Sie sich nicht sehr in der Gesellschaft und in der Kunstszene bewegt, sondern eher unter Schriftstellern.

Ich bin wirklich ein literarischer Mensch. Ich hatte auch Freunde unter den Zeichnern, wie Maurice Sendak, mit dem war ich eng befreundet. Meine zweite Frau war sehr auf den Umgang mit Stars aus, das interessiert mich überhaupt nicht. Bob Dylan hat nebenan gewohnt, wir haben uns über den Gartenzaun hinweg unterhalten, aber ich habe nicht versucht, ihn näher kennen zu lernen, bloß weil er Bob Dylan ist, verstehen Sie? Ich habe meine Welt.

Sind Sie begabt zur Freundschaft?

Ja, sehr. Mein Umgang mit den Menschen ist ganz einfach. Ich habe immer ein gutes Verhältnis gehabt zu denen, die man "einfach" nennt. Zu Bauern, zu Arbeitern. Ich habe mehr Probleme mit denen, die ich als "Universitätsgurken" bezeichne: 90 Prozent Wasser. Obwohl es ganz tolle darunter gibt, ohne Frage. Jetzt schreibe ich jeden Monat für ein philosophisches Magazin kleine Kurzgeschichten, Aphorismen. Wie in meinem Buch: "Die Hölle ist des Teufels Paradies". Gestern ist mir so ein Aphorismus eingefallen: "Eine Frau ist etwas, das man um den Hals trägt."

Das bringt uns unweigerlich auf die Vorwürfe der Frauenfeindlichkeit, die Ihnen etwa von Feministinnen gemacht wurden - nach Erscheinen Ihrer Bücher für Erwachsene: "Das Kamasutra der Frösche" oder "Fornicon".

Damals. Später haben sie verstanden, dass ich auf ihrer Seite war. Da gab es nur eine Ausnahme. Alice Schwarzer hat das nicht kapiert. Sie hatte keinen Humor. Aber für mich gab es einen Triumph. Ich habe für die erotische Freiheit gekämpft, und als ich das große Buch "Erotoscope" signierte, standen viel mehr Frauen als Männer vor meinem Tisch. Okay? Das ist alles, was ich brauche.

In den USA wurden daraufhin Ihre Kinderbücher aus Bibliotheken entfernt. Wer erotische Bücher mache, könne kein Kinderbuchautor sein.

Ich habe Leute getroffen, die haben mir gestanden, dass sie mit 13 Jahren gespart haben, um das Buch über die erotischen Frösche zu kaufen. So sehr mich das auch freut, es ist schwierig zu wissen, wie weit man gehen kann. Ich will auch kein Verseucher sein. Aber die Grenzen zu ziehen, fällt in den Bereich der Eltern. Die müssen wissen, wie weit ihre Kinder informiert sind. Haben Sie noch viele Fragen? Ich bin kaputt, aber wir können morgen zusammen frühstücken, so um sieben, halb acht. Morgens geht es mir meistens besser.

[Die Tochter Aria, bisher vertieft in einen Kunstgeschichts-Band, schaltet sich sofort ein. Nein, sagt sie, ihr Vater habe morgen noch zwei Interviews. Aber dann ist er morgens im Hotel-Restaurant, kurz nach sieben, vor ihm auf dem Tisch steht sein Teller, voll beladen mit Baked Beans, Rührei und Speck. Er trinkt den Kaffee schwarz und bestellt sofort nach.]Es gibt einen sehr schönen Dokumentarfilm, in dem Sie über Irland sprechen. Sie reden dabei über die Iren, ihre Freundlichkeit, ihren Humor trotz allem Leid. Es ist der einzige Moment, in dem Sie den Tränen nahe sind. Warum berührt Sie das so?

Ja wissen Sie, man hat seine Momente. Und warum nicht? Wenn man Gefühle hat, hat man Gefühle. Es gibt die Traurigkeit.

Wollten Sie unbedingt nach Irland, nachdem Sie sich in den USA nicht mehr wohlfühlten?

Ich hatte nie ein Ziel. In Irland hatte meine jetzige Frau Freunde, und meine Frau begann hier mit der Landwirtschaft. Sie war im achten Monat schwanger, als wir nach Irland gegangen sind. Wir hatten 600 Schafe, nicht für die Wolle, dafür bekommt man nichts, nein, für das Fleisch. Dort, wo ich lebe, gibt es nur Natur. Es gibt nicht einmal Internet. Ich zeichne jeden Tag von morgens vier Uhr bis zehn, dann fangen die Telefongespräche an.

Warum sind Sie nicht ins Elsass zurückgekehrt? In Straßburg hat man Ihnen ein eigenes Museum gebaut.

Das Elsass liegt immer noch zwischen Deutschland und Frankreich mit seiner Identität. Es hat seine Identitätsprobleme. Ich habe jetzt so viele Identitäten gehabt, dass ich mir sage: Mit Juden bin ich Jude, mit Schwarzen bin ich schwarz, mit Deutschen bin ich deutsch, mit Iren bin ich irisch. Wir Elsässer sind am Ende Chamäleons. Jetzt bin ich zufrieden mit meiner Identität, aber es hat fast ein ganzes Leben gedauert, bis ich zu dieser Antwort gekommen bin. Denn für mich geht es um den Menschen, und die größte Sprache ist das Lächeln und der Kontakt mit einem Menschen. Ich glaube - ich bin meistens sehr nett zu anderen Menschen. Nichts lohnt sich mehr, als die Freundlichkeit.

Ich habe Mühe, Sie mir als immerzu freundlichen Menschen vorzustellen - das passt nicht zu Ihren Bildern. Waren Sie nie wütend ?

Ja und wie! Meine Wut ist mein größtes Problem. Da bin ich blind. Andererseits - fast die Hälfte oder ein Drittel meiner Bücher würde ohne meine Wut nicht existieren. Für mich ist Wut ein Treibstoff. Aber ich bin ein Anhänger der republikanischen Idee: Das Schlimmste, was es für mich gibt, ist Fanatismus, in der Politik, aber auch in der Religion.

Haben Sie für sich eine Definition für das Böse?

Ich sage immer, man kann alles tun, solange man einem anderen nicht schadet. Das gilt auch in der Erotik. Ein jeder ist frei, seine Fantasien auszuleben, solange sie nicht einem anderen etwas antun, das er nicht möchte. Böse ist es, sich darüber hinwegzusetzen und es dennoch zu tun. Ich denke sehr viel darüber nach, auch über die Frage des Gewissens.

Sind Sie am Ende doch ein Moralist?

Absolut. Ich denke, wir sind alle Jekyll und Hyde, wir haben alle das Böse und Gute in uns. Und darin liegt der Vorteil des "Mondmanns". Er hat kein Konzept vom Guten oder Bösen. Er war immer mit sich allein. Eine Vorstellung vom Bösen und vom Guten kann man aber nur im Kontakt mit anderen Menschen entwickeln.

Christina Bylow lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin und schreibt unter anderem für die "Berliner Zeitung", für "Vogue" und das "ZEITmagazin".

Zur Person
Tomi Ungerer heißt eigentlich Jean-Thomas Ungerer und wurde 1931 in Straßburg geboren. Sein Vater war ein bedeutender Uhrmacher, er starb an einer Blutvergiftung, als Tomi Ungerer vier Jahre alt war. Seine Mutter zog ihn und seine drei Geschwister alleine groß. Als deutsche Truppen 1940 ins Elsass einmarschierten, musste Ungerer innerhalb weniger Monate Deutsch lernen, seine Muttersprache Französisch wurde verboten. Ungerer verließ die Schule vor dem Abschluss und reiste in den 1950er Jahren mit einer Mappe Zeichnungen und 60 Dollar nach New York. Wenig später begann seine glanzvolle Karriere als Grafiker, Maler, Zeichner und Schriftsteller. Inzwischen veröffentlichte er mehr als 150 Bücher, seine Kinderbücher wie "Das Biest des Monsieur Racine" oder "Zeraldas Riese", "Die drei Räuber", "Die Abenteuer der Familie Mellops" gehören zu den Klassikern der Kinderliteratur.
Tomi Ungerer wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem "Hans Christian Andersen Award". Im Oktober 2000 wurde er vom Europa-Rat zum Botschafter für Kinder und Erziehung in Europa ernannt. Nach einigen Jahren auf einer Farm in Kanada, lebt er seit 1976 mit seiner Familie im Südwesten Irlands.
Im Frühjahr 2013 kam der Animationsfilm "Der Mondmann" nach dem Kinderbuch von Tomi Ungerer in die Kinos. Regie: Stephan Schesch, Stimmen von Katharina Thalbach, Ulrich Noethen, Corinna Harfouch, Ulrich Tukur und Tomi Ungerer.