Zum Hauptinhalt springen

"Es weht ein neuer politischer Wind"

Von Arian Faal

Reflexionen

Wiener Zeitung:Hat sich die Menschenrechtslage im Iran seit der Wahl Hassan Rohanis zum Präsidenten im Juni dieses Jahres verbessert?Karim Lahidji: Die Menschenrechte hängen eng zusammen mit dem politischen Diskurs. Das kann man nicht auseinanderdividieren. Die vergangenen acht Jahre während der Präsidentschaft von Mahmoud Ahmadinejad waren eine sehr schwierige Zeit für die iranische Bevölkerung - sowohl, was die Beziehung zwischen der Regierung und dem Volk betrifft, als auch, was den Umgang des Iran mit der internationalen Staatengemeinschaft betrifft. Denken Sie an die Restriktionspolitik und den Umgang der Führung mit den Menschen. Den Höhepunkt haben wir nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 erlebt. Da gab es die bisher größten Demonstrationen seit Beginn der Islamischen Revolution 1979. Es waren also beispiellose Proteste gegen das Regime als Stimmungsbarometer im Land.

"Es ist leicht zu sagen, von heute auf morgen wünschen wir uns ein Ende dieses Regimes im Iran, aber Sie wissen, dass das nicht so leicht ist."
© fidh

Sie meinen also, Ahmadinejad hat Rohani ein schweres Erbe hinterlassen.

Ja, aber das Eintreten der Moderaten und Pragmatiker in den Mittelpunkt des politischen Geschehens hat viel bewirkt. Es weht ein neuer politischer Wind. Die Symbolfigur dieser politischen Bewegung ist meiner Meinung nach der Chef des iranischen Schlichtungsrates, Ayatollah Ali Akbar Hashemi-Rafsanjani. Er ist ein Realpolitiker und hat ein Gespür für die Notwendigkeiten. Er kann viel bewirken. Erinnern Sie sich. Er war bereits 2005 der Gegner von Ahmadinejad und ist diesem unterlegen. Damals hat er der Führung vorgeworfen, bei der Wahl betrogen zu haben. Eine Periode später, 2009, hat Rafsanjani sich nicht aufstellen lassen, und Mir Hossein Moussavi und Mehdi Karroubi haben sich um das Präsidentenamt beworben. Was danach passiert ist, mit all den Protesten, wissen Sie ja. Wir können also zusammenfassend sagen, dass es seit der Wahl von Mohammad Khatami zum Präsidenten 1997 zwei große Strömungen gibt, die parallel existieren. Die Reformer und Pragmatiker auf der einen und die Hardliner und Ultrakonservativen auf der anderen Seite. Nach Jahren der Herrschaft der Hardliner unter Ahmadinejad kommt mit der Wahl Hassan Rohanis Bewegung ins politische Geschehen.

Welche Rolle spielt der Populismus?

Einige Hardliner und Ahmadinejad haben geglaubt, mit populistischen Parolen punkten zu können, also etwa mit Sprüchen wie: Wir bringen die Erträge aus dem Ölgeschäft an eure Haustüre. Doch die Leute lassen sich nicht für blöd verkaufen. Ahmadinejad ist ein sehr schlechtes Zeugnis auszustellen. Daher stehen die Zeichen der Regierung nun auf Reformen unter der Prämisse des Regierungsprogrammes und der Anschauungen von Rafsanjani.

Gibt es nach seiner Ära nun eine Öffnung der Gesellschaft?

Jetzt sind diejenigen, die einer Öffnung der Gesellschaft nicht abgeneigt sind, an der Macht. Diese Kräfte wollen einige Veränderungen im Iran und sind gewillt, etwas zu tun. Rafsanjani hat kandidiert bei der Wahl, wurde aber nicht zugelassen, aber im Grunde hat er die Wahl gewonnen, denn sein Ziehsohn Rohani wurde gewählt. Das war auch eine deutliche Nachricht der Bevölkerung an den Obersten Geistlichen Führer Ali Khamenei. Letzterer hat, glaube ich, seine Lektion aus den Protesten von 2009 gelernt, dass man nämlich mit einer Unterdrückungspolitik nicht reüssieren kann. Auch er muss umdenken, um sich selbst an der Macht zu halten.

Sind die Hardliner im Abseits?

Die Hardliner haben geglaubt, dass sie mit der Nicht-Zulassung von Rafsanjani diese Öffnung stoppen können und einen ihrer Kandidaten wie Saeed Jalili installieren können. Sie sind kläglich gescheitert und die Politik der Öffnung, für die Rafsanjani steht, hat sich durchgesetzt. Lassen sie mich also sagen, dass in den ersten hundert Tagen nichts Außergewöhnliches passiert ist, aber die Menschen haben Hoffnung. Die meisten jungen Menschen, die die Hauptleidenden unter der derzeitigen Situation sind, wollen Veränderungen im gesellschaftlichen, politischen und im wirtschaftlichen Bereich und natürlich im Alltag.

Wie steht es derzeit um Khamenei? Er soll Rafsanjani gefragt haben, ob er wieder das Freitagsgebet in Teheran halten soll. Bröckelt Khameneis Machtbasis?

Hier geht es um Rivalitäten innerhalb der iranischen Führungsriege. Khamenei hasst Rafsanjani. Er war es, der offensichtlich Ahmadinejad gegen Rafsanjani unterstützt hat, als dieser wieder kandidieren wollte. Das war 2005. Und heute? Die Gunst der Stunde ist auf der Seite Rafsanjanis und plötzlich nähert sich Khamenei wieder an ihn an und versucht sich als Pragmatiker, um seine eigene Machtbasis zu erhalten. Das ist ein abgekartetes politisches Spiel um Macht.

Welchen Einfluss hat das jüngste Zwischenabkommen in Genf im Atomstreit auf die Situation im Iran?

Dieses Abkommen ist wichtig und ein Zeichen der Öffnung gegenüber dem Westen. Für mich entsteht der Eindruck, dass Rohani tatsächlich vorhat, einiges im Iran zu ändern. Das Abkommen ist auf jeden Fall eine gewaltige Ohrfeige für die iranischen Hardliner und für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und die Hardliner im Westen wie in Israel und den USA. Wir können die Entwicklung der Zukunft nicht voraussagen, aber ich hoffe, dass es wirklich Veränderungen geben wird. Denn der Iran braucht echte Reformen.

Welche Rolle spielen die Auslandsperser bei all diesen Punkten?

Die Auslandsperser müssen zunächst einmal wissen und verstehen, was sich im Inneren des Landes abspielt. Es ist leicht zu sagen, von heute auf morgen wünschen wir uns ein Ende dieses Regimes im Iran, aber Sie wissen, dass das nicht so leicht ist. Man muss die Realitäten anerkennen. Wir müssen uns die Gegebenheiten vor Ort ansehen und das Beste für die iranische Bevölkerung herausholen.

Sind Sie optimistisch, dass wir in einigen Jahren eine deutliche Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran sehen werden?

Ja, absolut. Ich bin nicht nur optimistisch, sondern ich bin überzeugt davon. Denn das Regime hat erkannt, dass es so nicht weitergeht. Die Menschen lassen sich nicht ewig alles gefallen. Daher ist es absolut notwendig, dass der Alltag im Iran offener und menschenfreundlicher wird. Das haben die Entscheidungsträger erkannt und die Bevölkerung wird alles daran setzen, um diese Freiheiten wiederzuerlangen. Das Regime hat keine guten Karten. In ein paar Jahren wird man auch im Iran eine deutlich offenere und tolerantere Regierung haben müssen.

Kommen wir zu den Menschenrechten: Das Schreckensgefängnis Kahrizak wurde geschlossen, 97 politische Gefangene wurden von Rafsanjani freigelassen, soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook sollen bald legalisiert werden. Sind das erste Vorboten der neuen Öffnung?

Das alles, was Sie aufzählen, sind symbolische Akte und Gesten. Es ist nichts Großartiges passiert. Ein Beispiel: Die Anwältin Nasrin Sotudeh, eine der politischen Gefangenen und eine Kollegin von mir, die freigelassen wurde, hatte bereits die Hälfte ihrer Haftstrafe abgesessen und laut iranischem Recht darf jemand, der die Hälfte seiner Strafe abgesessen hat, freigelassen werden. Andere wurden gegen Ende ihrer Haftzeit vorzeitig freigelassen. Aber solche kleinen Gesten wie die Öffnung der Gefängnisse für politische Häftlinge geben uns Hoffnung. Wichtig ist aber folgendes: Die Menschen warten nicht auf die Erlaubnis der Regierung. Wenn die Führung ihnen einen Millimeter an Freiraum gewährt, dann rücken die Perser gleich einen Zentimeter vor. Es wird sich etwas verändern.

Was genau?

Vor einigen Tagen haben sich zum Beispiel einige Juristen zum ersten Mal dazu aufgerafft, eine Debatte über die Sinnhaftigkeit von öffentlichen Hinrichtungen anzusprechen. Das zeigt, es bewegt sich etwas. Rohanis Wahl und diese symbolischen Gesten haben die Bevölkerung in ihrer Ambition für mehr Freiheiten bestärkt. Aber vergessen Sie bei all dem auch nicht die Lage in der Region. Bedenken wir, welche Rolle der Iran im syrischen Bürgerkrieg gespielt hat und noch immer spielt.

Wie sehen Sie die Situation der Frauen im Iran?

Es gibt erste Anzeichen der Lockerung der Restriktion. Bei einer Lockerung der Unterdrückung haben die Frauen am meisten zu erhoffen. Sie sind im Iran in der Überzahl und können vom Regime nicht ignoriert werden. Die Frauen sind im Iran in der Vergangenheit sehr, sehr unterdrückt worden. Das Video über die ersten hundert Tage von Rohani im Internet zeigt sehr gut, welchen wichtigen Stellenwert die Frauen in der iranischen Gesellschaft haben. Und ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Die Rolle von Rafsanjanis Tochter als Verfechterin der Frauenrechte wird Rohani helfen, seine Ziele bei der Umsetzung der Verbesserung der Menschenrechte umzusetzen. Denn der Rafsanjani-Clan hat innerhalb der iranischen Bevölkerung einen großen Einfluss.

Dennoch werden täglich Frauen und Mädchen von der Sittenbehörde in Teheran verhört.

Ja, diese Dinge gibt es leider nach wie vor. Es geht nicht alles von heute auf morgen. Das alles ist ein Prozess, der Schritt für Schritt erfolgen muss. Die Sittenwächter sind noch dieselben wie unter Ahmadinejad. Auch die Pasdaran und die Revolutionsgarden. Sogar die Anführer dieser Gruppierungen sind noch immer dieselben. Diejenigen, die 2009 die Proteste blutig niedergeschlagen haben, sind noch am Ruder. Es braucht eine Zeit, bis die Veränderungen Gestalt annehmen.

Die Umsetzung der Menschenrechte im Iran lässt zu wünschen übrig, wenn man an die Hinrichtungen, Steinigungen und die Umgangsweise mit Homosexuellen denkt.

In puncto Menschenrechte gibt es angesichts der katastrophalen derzeitigen Situation ohnehin noch sehr viel zu tun. Nehmen wir einmal ein abstruses Beispiel, die Gesetzgebung hinsichtlich der Mündigkeit von Kindern. Die Islamische Republik ist zwar der UN-Menschenrechtskommission für Kinderrechte beigetreten, hat aber das Dokument insofern abgeschwächt, als dass es den Zusatz gibt, dass der Iran sich vorbehält, alle Bestimmungen nur im Rahmen der islamischen Rechtsprechung zu befolgen. Das Motto lautet also, wir treten bei, machen aber alles so, wie wir es wollen.

Wie zeigt sich das zum Beispiel?

Es gibt derzeit drei Altersangaben bei der Mündigkeit von Kindern. Die Ehefähigkeit wird bei Mädchen mit 13 und bei Burschen mit 15 anberaumt. Das Wahlrecht liegt bei 16 Jahren und die Strafmündigkeit bei Mädchen bei acht Jahren und neun Monaten und bei Burschen bei 15 Jahren. Das ist alles sehr absurd und nur ein kleines Beispiel, damit Sie sehen, wie die Gesetzgebung im Iran funktioniert.

Karim Lahidji

"Jetzt sind

diejenigen, die einer Öffnung der Gesellschaft nicht

abgeneigt sind, an der Macht. Diese Kräfte wollen einige Veränderungen im Iran und sind

gewillt, etwas

zu tun."

Karim Lahidji ist seit 2013 Präsident der Internationalen Föderation für die Menschenrechte (FIDH - International Federation for Human Rights). Der 1940 in Teheran geborene Jurist verteidigte schon zu Zeiten des Schahs ab 1965 politische Gefangene, die gegen die persische Monarchie kämpften.

Nach der Islamischen Revolution im Iran 1979 sah sich Lahidji aufgrund seiner Funktion als Verfechter der Menschenrechte gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Er flüchtete 1982 nach Frankreich. 1983 gründete er in Paris die iranische Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (the Iranian League for the Defence of Human Rights - LDDH). Diese Organisation wurde Teil der FIDH. 1997 wurde Lahidji zum Vizepräsidenten der FIDH gewählt, im Mai 2013 schließlich zum Präsidenten. Im Jahre 1990 bekam er den "Human Rights Watch Award".

Lahidji ist der Autor zweier Bücher und Dutzender Artikel über die Menschenrechte.

Die Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (FIDH) ist ein Dachverband verschiedener Menschenrechtsorganisationen mit Sitz in Paris. Die FIDH wurde 1922 von der Französischen Liga für Menschenrechte unter Beteiligung der Deutschen Liga für Menschenrechte und weiterer gleichgesinnter Organisationen gegründet. Sie ist ein Verband von 164 Menschenrechtsorganisationen, der in mehr als einhundert Staaten auf allen Erdteilen vertreten ist. Jede nationale Liga, die der Internationalen Föderation angeschlossen ist, bekennt sich zu den Grundsätzen, die in den französischen Deklarationen für Menschenrechte von 1789 und 1793 sowie in der Allgemeinen Deklaration von 1948 aufgezeichnet sind. Jede nationale Liga macht es sich zur Aufgabe, für die Befolgung dieser Grundsätze in ihrem eigenen Lande zu sorgen.

www.fidgh.org

Karim Lahidji

Arian Faal ist seit 2004 freier Mitarbeiter bei der "Wiener Zeitung", seit Jänner 2012 auch bei der APA. Spezialisiert auf den Iran und den Nahen Osten. Er unterrichtet auch als Vortragender in der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und an der Pädagogischen Hochschule in Wien (PH).

"Das Regime hat keine guten Karten. In ein paar Jahren wird man auch im Iran eine deutlich offenere und

tolerantere

Regierung haben müssen."

Iran: Mythos und Realität

  • "Unsittliche" Kontakte: Mann und Frau dürfen sich nicht berühren, außer sie sind verwandt oder verheiratet. Es ist verboten, einen Jungen oder ein Mädchen mit nach Hause zu nehmen. Trotzdem sieht man öfters unverheiratete Paare Hand in Hand gehen.

  • Küsse: Küsse in der Öffentlichkeit sind tabu. Wer sich erwischen lässt, erhält 99 Peitschenhiebe oder Geldbußen.

  • Homosexualität: Sie ist streng verboten, auf sie steht die Todesstrafe. Immer wieder werden bei öffentlichen Hinrichtungen vor allem Jugendliche auf Kränen gehängt. Die Homosexuellen leben sich im Untergrund aus, etwa auf Privatpartys oder im Internet.

  • Alkohol und Drogen: Alkoholkonsum wird mit 80 Peitschenhieben bestraft. Bei Handel mit Alkohol drohen bis zu zwei Jahre Gefängnis.

  • Mit Geld oder Beziehungen lassen sich Strafen abwenden oder mildern. Teheran ist eine Hochburg der Drogensüchtigen. Opium ist die "Königsdroge", bei den Jugendlichen dominieren aber westliche Designerdrogen.

  • Medienzensur: Der Zugang zu Auslandsmedien ist nur sehr eingeschränkt möglich. Mit Filterbrechern kann man allerdings fast alle westlichen Internetseiten trotzdem öffnen, was viele auch tun.

  • Telefon und Internet: Die Regierung hat ein System installiert, um Telefonleitungen und Internet flächendeckend zu kontrollieren. In Internetcafés werden Userdaten erfasst.

A.F.