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"Ich nenne Namen, wenn es zur Sache geht"

Von Christine Dobretsberger

Reflexionen

"Wiener Zeitung": Herr Fian, nach der Lektüre Ihres neuen Romans "Das Polykrates-Syndrom" drängt sich zu Beginn die Frage auf: Sind Sie ein abergläubischer Mensch?

"In der Silvesternacht achte ich darauf, dass keine Wäsche zum Trocknen hängt." Antonio Fian
© Foto: Robert Wimmer

Antonio Fian: In der Silvesternacht achte ich darauf, dass keine Wäsche zum Trocknen hängt. Mit der Wilden Jagd und der Tödin ist nicht zu spaßen, wie man aus den Kärntner Sagen weiß.

Und wie halten Sie persönlich es mit dem sogenannten "Polykrates-Syndrom", also jener Mutmaßung, die Ihrem Roman zugrunde liegt, wonach allzu großes Glück möglicherweise größtmögliches Unglück nach sich ziehe?

Mich wundert, dass es in der medizinischen Literatur dieses Krankheitsbild nicht schon längst gibt. Es drängt sich gerade in den reichen westlichen Staaten doch auf. Man sieht, wie schrecklich es den Leuten rundherum geht, und selber geht es einem extrem gut. Erstaunlich, dass nicht mehr Leute Angst haben, dass diese Situation plötzlich kippt.

Dass eine Glückssträhne den umso gewisseren tiefen Sturz befürchten lässt, thematisierte bereits Schiller in der Ballade "Der Ring des Polykrates".Und Schiller nutzte als Vorlage eine Passage im III. Buch der "Historien" Herodots, wonach der einst so glücksgesegnete griechische Tyrann Polykrates letzten Endes auf so grausame Weise umgebracht wurde, dass Herodot das nicht näher beschreiben wollte.

Was hat Sie an diesem Thema fasziniert, dass Sie es zur Rahmenhandlung Ihres Romans machten?

Der Stoff war ursprünglich für einen Fernsehfilm gedacht. Aber der ORF wollte ihn dann doch nicht, und ich habe gedacht, eigentlich schade um die Geschichte. So war die Idee geboren, einen Roman daraus zu machen.

Wann begannen Sie an dem Roman zu schreiben?

Vor ungefähr zehn Jahren. Dazwischen gab es immer sehr lange Pausen. Ich habe das Projekt aber nie aus den Augen verloren.

Die Entstehungsgeschichte Ihres ersten Romans "Schratt", der 1992 erschien, erstreckte sich ebenfalls über zehn Jahre.

Ich hätte nach "Schratt" nicht gedacht, dass ich noch jemals einen Roman schreiben würde. Ich bin nicht unbedingt ein Romanschreiber, ich bin zu ungeduldig. Aber wenn ein langer Text dann tatsächlich fertig ist, hat das natürlich was.

Kurz zusammengefasst dreht sich Ihr Roman um einen verheirateten Mann namens Artur, der eine Affäre mit einer jungen Frau beginnt, woraufhin sein bislang unaufgeregtes Leben total aus den Fugen gerät. Vor dem Hintergrund des "Polykrates-Syndroms" stellt sich prinzipiell die Frage, ob man eine Affäre als glückliche Wendung des Schicksals bezeichnen möchte?

Ich denke, dieser Artur will einfach einmal ausbrechen aus seinem langweiligen Leben. Ein eigentlich sehr durchschnittlicher Wunsch. Noch dazu gefällt ihm diese Frau ja sehr gut und zeigt ihm eine völlig andere Lebenshaltung.

Als Leser gewinnt man allerdings nicht den Eindruck, dass der Protagonist auf einer Glückswelle schwimmt. So gesehen, bräuchte er vielleicht gar nicht so eine große Angst zu haben, dass sich das Schicksal zum Schlechten wendet?

Diese Angst begleitet ihn ständig und hat im Grunde nichts mit dieser Affäre zu tun. Artur ist polykrateskrank, und ein Polykrateskranker glaubt immer, zuviel Glück zu haben, auch wenn es ihm schon ziemlich dreckig geht.

Ohne zu viel vom Inhalt des Buches verraten zu wollen, würde mich Ihre Einschätzung interessieren, ob das Schicksal für Artur in Zukunft eher Glück oder Unglück bereit hält?

Das weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht genau, wie die Geschichte ausgeht. Niemand kann das wissen.

Deutet dieser Schwebezustand, dieses offene Ende, auf einen Folgeroman hin?

Nein, das habe ich nicht vor. Ich wollte ein Buch schreiben, dessen Handlung anders verläuft, als man erwarten würde, ein bisschen unangenehm und jedenfalls ernster, als es zu Anfang den Anschein hat.

Ihren Namen verbindet man zuallererst mit der literarischen Gattung des Dramoletts. Ihr erstes Minidrama veröffentlichten Sie 1988 im "Falter". Anlass war die Erregung rund um die Burgtheater-Premiere von Thomas Bernhards "Heldenplatz". Wie kamen Sie damals auf die Idee, ausgerechnet die literarische Form des Dramoletts zu wählen?

Das erste Dramolett war eine Bernhard-Paraphrase. Thomas Bernhard hat ja selbst Dramolette geschrieben, die ich sehr schätze. Zu dieser Zeit gab es noch die kommunistische "Volksstimme", und der Kritiker Gerald Grassl schrieb diesen wunderbaren Satz: "Heldenplatz ist ein kritisches Theaterstück". Das hat mir so gefallen, dass ich besagtes Dramolett verfasst habe. Im Grunde war es eine Stilübung. Es gab damals viele Bernhard-Parodisten, vor allem schlechte Bernhard-Parodisten, die gedacht haben, wenn man ein paar Mal das Wort "naturgemäß" sagt und einige Wiederholungen einsetzt, dann reicht das aus, den Bernhard-Stil zu imitieren. Aber der ist natürlich wesentlich komplizierter.

Was reizt Sie am Dramolett, dass Sie diese Minidramen seit nunmehr 25 Jahren regelmäßig publizieren?

Es hat sich herausgestellt, dass das Dramolett eine Form ist, die sehr viele Möglichkeiten bietet. Man kann die unterschiedlichsten Stilmittel einsetzen, manche Stücke sind in Jamben gehalten, andere im Dialekt verfasst, man kann sehr variieren.

Seit 1990 schreiben Sie regelmäßig Dramolette für den "Standard", die inhaltlich zumeist aktuelle Bezüge zur österreichischen Kultur- und Tagespolitik aufweisen. Warum legen Sie großen Wert auf eine Abgrenzung zwischen Dramolett und politischer Glosse?

"Ich wollte ein Buch schreiben, dessen Handlung anders verläuft, als man erwarten würde, ein bisschen unangenehm . . ." Antonio Fian im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiterin Christine Dobretsberger.
© Foto: Robert Wimmer

Der Theaterwissenschafter Klemens Gruber hat als Charakteristikum meiner Dramolette bezeichnet, dass sie nicht nacherzählbar sind. Das Dramolett muss man selbst lesen. Ich denke, das beschreibt den Unterschied recht gut.

Das Dramolett spitzt sich also nicht auf eine nacherzählbare Pointe zu?

Es kann nicht wie ein Witz oder eine Pointe erzählt werden, sondern lebt nur als ganzes Gebilde.

Wie wichtig ist die Aktualität?

Aktualität spielt eine untergeordnete Rolle. Wenn die Dramolette nur für den Tag geschrieben wären, würde ich nicht Wert darauf legen, dass sie auch als Bücher erscheinen. Und wenn konkrete Personen vorkommen, wie beispielsweise Claus Peymann, dann interessiert mich nicht Peymann als Person, sondern die Figur, die er darstellt: also die Figur eines Direktors eines bedeutenden österreichischen Staatstheaters.

Mitunter gibt es auch scharfe Polemiken, beispielsweise gegen André Heller oder Robert Menasse. Reagieren die Betroffenen auf Ihre Texte?

Die meisten nehmen das sehr gelassen, das sind ja lauter intelligente Menschen. Und die wenigen, oft auch ein wenig untergriffigen Reaktionen nehme wiederum ich gelassen.

Würden Sie die Wirklichkeit oder eher die Fantasie als zündenden Gedanken für Ihre Texte bezeichnen?

Das ist verschieden. Manche Dramolette klingen, als wären Sie im Wirtshaus mitgehört und sind frei erfunden. Bei anderen verhält es sich so, wie Karl Kraus im Vorwort zu den "Letzten Tage der Menschheit" schreibt: "Die grellsten Erfindungen sind Zitate".

Sehen Sie sich in der Tradition von Karl Kraus?

Natürlich. Nestroy, Kraus, auch Qualtinger und Bernhard kann man nicht ignorieren, wenn man in Österreich Satire schreibt. "Die letzten Tage der Menschheit" sind ein Meilenstein.

"Die letzten Tage der Menschheit" könnte man als Abfolge von Minidramen betrachten, die durch den historischen Bogen des Ersten Weltkriegs zusammengehalten werden. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, Ihre Dramolette ebenfalls in einen größeren Zusammenhang zu stellen?

Es ist ein alter Wunsch von mir, dass, wenn ich einmal gestorben sein werde, meine Dramolette gesammelt unter dem Titel "Bilder des Friedens" erscheinen. Ich hoffe, der Frieden hält so lange.

Von Ihnen stammt das Zitat: "Ohne Zorn gibt es keine Satire". Was reizt Sie an der Widerrede?

Es gibt einfach Unangemessenheiten, über die ich mich aufrege und denen ich etwas entgegnen möchte. Ganz schlimm war es in den 1990er Jahren mit dem viel zitierten "Naziland Österreich". Da wurde maßlos übertrieben. Ich denke beispielsweise an die Aussage von Gerhard Roth, dass mehr als 50 Prozent der Österreicher verkappte Nazis sind. Derlei Aussagen waren in Mode. Es hat mich geärgert, wie viele österreichische Autoren auf diesen Zug aufgesprungen sind. Dieser jüngst auch wiederholte Sager von Robert Menasse, Österreich müsste sich heute wieder an Deutschland anschließen, diesmal allerdings aus antifaschistischen Gründen, ist meiner Ansicht nach eine Ungeheuerlichkeit. Ich denke auch, dass Bernhard - ohne dass man ihm das zum Vorwurf machen könnte - eine gewisse Mitschuld an den EU-Sanktionen gegen Österreich im Jahr 2000 hatte.

Inwiefern ist diese Mitschuld Ihrer Ansicht nach zu verstehen?

Bernhard ist in Frankreich sehr bekannt, wird viel gelesen und oft aufgeführt. Mein Eindruck ist, dass die Bernhard-Werke in Frankreich falsch interpretiert wurden und offensichtlich nicht als Satire, sondern als reales Bild von Österreich aufgefasst wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt ich "Le Monde" für eine hervorragend recherchierte Zeitung. Aber was da damals über Österreich verbreitet wurde, war mieseste Propaganda, unterste Schublade.

Eine Sonderstellung in Ihren satirischen Betrachtungen nimmt wohl auch das Land Kärnten ein?

Kärnten war meine Kindheit und Jugend. Ein wunderbares Land. Und war es nicht ein großartiges Schauspiel, wie die Kärntner innerhalb eines Wahltags von den Trotteln der Nation zu Vorzeigedemokraten geworden sind? So schnell kann das gehen!

Sie sind in Spittal an der Drau aufgewachsen und haben Volkswirtschaft studiert. War das ein Berufswunsch?

Nein. Ich wollte schon als Mittelschüler Schriftsteller werden. Und wenn man das will, ist auch klar, dass man sicher nicht Germanistik studieren wird. Nach der Matura habe ich dann in Wien ein Jahr die Handelsakademie besucht, weil meine Eltern ein Geschäft hatten, das ich eigentlich hätte weiterführen sollen. Das einzig halbwegs interessante Fach in der Handelsakademie war Volkswirtschaft, also habe ich diesen Studienzweig gewählt. 1980, nach Erhalt meines ersten Literaturstipendiums, habe ich das Studium abgebrochen, um freiberuflich zu schreiben.

Vier Jahre zuvor gründeten Sie bereits die Literaturzeitschrift "Fettfleck".

Das war eine interessante Konstellation. Mein Vater hatte für seinen Betrieb eine Kleinoffset-Druckmaschine, die wir für die Literaturzeitschrift benutzen durften. Mein Vater und ich hatten politisch sehr, sehr verschiedene Ansichten, aber wir haben beide gern gedruckt. So wurde der "Fettfleck" die Basis für einen historischen Kompromiss zwischen meinem Vater und mir.

Auf einer Wellenlänge dürften Sie mit Ihrem Schriftsteller-Kollegen Werner Kofler gewesen sein. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und Freundschaft?

Fians Freund Werner Kofler (1947-2011).
© Foto: Marko Lipus

Kennengelernt haben wir einander 1976, als ich für den "Fettfleck" Texte keilte. Werner Kofler hat uns von Anfang an Texte zur Verfügung gestellt. Wir haben uns dann öfter getroffen, und irgendwann, das war, glaube ich, 1978, hatte er einen gebrochenen Ellbogen, weil er bei einem Spaziergang ausgerutscht war. Aufgrund dieser Verletzung konnte er auf der Schreibmaschine natürlich nicht tippen. Er musste zu diesem Zeitpunkt allerdings für den Wagenbach Verlag das Manuskript für sein Buch "Ida H." abliefern. Also hat er mich gefragt, ob ich ihm helfen könne, und da ich - das war der Vorteil der Handelsakademie -, das Zehnfingersystem beherrschte, habe ich eingewilligt, und Kofler hat mir "Ida H." diktiert.

Woraufhin Werner Kofler offensichtlich Gefallen am Diktieren gefunden hatte?

Das Diktieren hat ihm sichtlich Spaß gemacht, wohl auch im übertragenen Sinn. Ich habe danach noch drei oder vier weitere Manuskripte für ihn getippt, dann hatte er andere Sekretäre.

Zeigten Sie ihm damals auch Ihre Texte?

Ja. Er war ein schrecklich strenger Lehrer. Und irgendwann gab es dann von ihm ein Hörspiel, das nicht so recht funktioniert hat, und ebenso eines von mir. Wir beschlossen, ein gemeinsames daraus zu machen, nannten es "Feiner Schmutz, gemischter Schund", und es hat wunderbar geklappt. Daraufhin haben wir noch fünf weitere Hörspiele gemeinsam geschrieben. Das war eine sehr angenehme Arbeit.

Generell galt Werner Kofler als eher streitbarer Zeitgenosse.

Möglicherweise bin ich der einzige, der niemals mit ihm Streit hatte. Er war gewiss ein schwieriger Mensch, aber ein wirklich grandioser Dichter, der sträflich unterschätzt wird. Ich hoffe, es wird etwas mit der geplanten Werkausgabe im Wiener "Sonderzahl"-Verlag, damit Werner Koflers Schaffen nicht in der Versenkung verschwindet.

Germanisten ziehen gerne Vergleiche zwischen Ihrem und Werner Koflers Werk. Sehen Sie sich als Verwandte im Geiste?

Das waren wir schon, sonst hätte unsere Freundschaft nicht über 30 Jahre gehalten. Uns hat natürlich auch verbunden, dass wir beide Kärnten sehr gerne mögen.

Es gibt auch die Theorie, dass vieles, was in Koflers Texten rätselhaft erscheint, vor dem Hintergrund Ihres Werkes schärfere Konturen gewinnt. Sehen Sie das ähnlich?

"Ich wollte schon als Mittelschüler Schriftsteller werden. Und wenn man das will, ist auch klar, dass man sicher nicht Germanistik studieren wird." Antonio Fian
© Foto: Robert Wimmer

Darüber habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht nachgedacht. Ich glaube schon, dass vieles in Werner Koflers Werk schwer zu verstehen ist, manche Anspielungen sind sehr speziell. Uns hat aber auch verbunden, dass wir im Gegensatz z. B. zu Thomas Bernhard, dessen Satire von Pauschalverurteilungen lebt, immer konkrete Namen nennen, wenn es zur Sache geht.

Dieser Zugang zur Realsatire brachte Ihnen auch den oft und gerne zitierten Vergleich ein, Sie seien der Manfred Deix der österreichischen Literatur.

Dieser Vergleich ehrt mich sehr. Deix ist meiner Ansicht nach von den österreichischen Zeichnern der inhaltlich gnadenloseste und technisch beste. Er ist auch ein erstklassiger Reimer.

Manfred Deix nutzt für seine Recherchen, die österreichische Volksseele zu erkunden, vorzugsweise die Barbara-Karlich-Show. Dient Ihnen diese Sendung ebenfalls als Inspiration?

Nein, die Karlich-Show halte ich nicht aus. Lieber gehe ich in Wien oder Spittal ins Wirtshaus, nicht um die absurden Gespräche mitzuhören, sondern um diese Atmosphäre zu spüren, in der selbst das Absurdeste möglich wäre.

Christine Dobretsberger, 1968 in Wien geboren, freie Journalistin und Autorin, Geschäftsführerin der Text- und Grafikagentur Lineaart.

Zur Person
Antonio Fian, geboren 1956 in Klagenfurt, aufgewachsen in Spittal/Drau, Matura 1974, lebt seit 1976 in Wien. Sein Volkswirtschaftsstudium hat er 1980 abgebrochen; seither arbeitet er als freier Schriftsteller.
Fian ist Mitbegründer der Literaturzeitschrift "Fettfleck" und war in den Jahren 1976 bis 1983 deren Herausgeber. Er ist Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Essayist und Kritiker und verfasst Satiren sowie Dramolette zu aktuellen Themen aus Politik und Kultur. 1990 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2009 erhielt Antonio Fian den Johann Beer-Preis.
Publikationen (Auswahl):
"Bis jetzt" - Erzählungen, 2004
"Fertige Gedichte", 2005
"Bohrende Fragen" - Dramolette IV, 2007
"Im Schlaf" - Erzählungen nach Träumen, 2009
"Man kann nicht alles wissen" - Dramolette V, 2011
(alle erschienen im Literaturverlag Droschl, Graz/Wien).
Hinweis: Antonio Fians Roman "Das Polykrates-Syndrom" (240 Seiten, 19,- Euro) ist soeben im Droschl Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.