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"Es ergeben sich mit Sicherheit neue Krisen"

Von Andreas Lorenz-Meyer

Reflexionen
"Der Wegfall der Golddeckung hat einen unheilvollen Prozess in Gang gesetzt: Er erlaubt eine im Prinzip unbeschränkte Erhöhung der Geldmenge." H. C. Binswanger
© Foto:Binswanger privat

"Wiener Zeitung": Herr Binswanger, was wäre, wenn es kein Geld gäbe?Hans Christoph Binswanger: Dann müssten wir tauschen. Allerdings hat es ein umfassendes Tauschsystem nie gegeben. Früher war die Basis der Wirtschaft die Selbstversorgung. Es gingen höchstens Überschüsse von Hand zu Hand. Wenn ein Bauer zu viele Äpfel hatte, dann tauschte er sie gegen die Birnen von einem anderen, der davon zu viele besaß.

Heute haben wir Banken.

Genauer ein doppelstufiges Bankensystem. Es besteht aus Zentralbanken wie der Europäischen Zentralbank und aus Geschäftsbanken oder einfachen Banken. Daher gibt es auch zwei Arten von Geld. Das Papiergeld, also die Banknoten, die von der Zentralbank ausgegeben werden. Und das Bankgeld, also die Giroguthaben bei den Banken. Mit diesen Guthaben zahlen wir vorwiegend. Denn es ist bequemer, Geld zu überweisen als es von Hand zu Hand weiterzureichen.

Das Bankgeld macht heute den Großteil der Geldmenge aus. Nehmen wir den Euroraum. Die Geldmenge beträgt über fünf Billionen Euro. Davon laufen aber nur rund 900 Milliarden Euro als Scheine und Münzen um. Wie kommt es dazu?Die Kredit- und Geldschöpfung, die heute das ganze Geldwesen dominiert, läuft primär über die Banken. Sie gewähren Unternehmen oder Privathaushalten einen Kredit - und schon expandiert die Geldmenge. Denn Kredite werden nicht in Banknoten ausbezahlt, sondern einfach als Buchgeld in der Bankbilanz verbucht. Es kommt dabei nicht zum Abzug der Summe auf einem anderen Konto. Daher führt die Gewährung von Krediten direkt zur Vermehrung des Geldes, also zur Geldschöpfung.

Ist es nicht nötig, erst einmal Geld zu sparen, damit Kredite gegeben werden?

Sparen spielt für die Kreditvergabe heute eine ganz untergeordnete Rolle. Die Expansion der Geldmenge wird daher nicht durch die beschränkte Menge des vorher gesparten Geldes eingeschränkt.

Die Banken müssen bei der Zentralbank doch eine sogenannte Mindestreserve halten, ein Guthaben, dass sie jederzeit in Banknoten einlösen können.

Ja, aber im EU-Raum beträgt die gesetzliche Mindestreserve nur ein Prozent. Das ist wahrlich nicht viel: Vergeben die Banken einen Kredit von 100.000 Euro, dann müssen sie dafür nur 1000 Euro vorrätig haben - ein winziger Teil des vergebenen Kredits.

Hat die Zentralbank keinen Einfluss auf die Geldmenge?

Sie kann diese in einem gewissen Ausmaß regulieren. Und zwar über den Leitzins. Um sich die dafür nötigen Guthaben bei der Zentralbank zu holen, nehmen Banken einen Kredit bei ihr auf, für den sie einen Zins zahlen. Diesen Leitzins kann die Zentralbank bestimmen. Setzt sie ihn herauf, dann holen sich die Banken weniger Zentralbankgeld für ihre Kredite.

Lässt sich die Geldexpansion so einschränken?

Nein. Unter den heutigen Bedingungen ist die Zentralbank nicht in der Lage, wirklich eine restriktive Geldpolitik zu verfolgen. Bei so geringen Reserven an Zentralbankgeld brauchen sich die Banken bei der Kreditvergabe kaum mehr um diese Reserven kümmern. Sie können vielmehr damit rechnen, dass ihnen die Zentralbank immer genügend Zentralbankgeld zur Verfügung stellt. Denn diese muss fürchten, dass eine Bremsung der Kredit- und Geldschöpfung zu Arbeitslosigkeit und zu Konkursen der Kreditnehmer führen könnte. Das will die Zentralbank nicht in Kauf nehmen.

Früher musste die Zentralbank ihr Geld in Gold einlösen. Sorgte diese Einlösungspflicht dafür, dass die Banken zurückhaltender mit Krediten umgingen?

Die Banken wussten damals, dass die Zentralbank ihnen nicht beliebig viel Zentralbankgeld zur Verfügung stellen würde. Es drohte immer die Erhöhung des Leitzinses für die Gewährung von Zentralbankkrediten. Die Banken mussten deswegen von vornherein darauf achten, nur so viel Kredite zu vergeben, als sie die zu erwartenden Zinserhöhungen ohne größere Schäden verkraften konnten.

Die letzten Reste der Einlösungspflicht verschwanden zu Beginn der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wie kam es dazu?

Man wollte das Wachstum des Sozialprodukts mit Hilfe von bleibend niedrigen Zinsen fördern. Das war der eine Grund. Der andere Grund war, es den Staaten zu ermöglichen, ihre Ausgaben über ihre Einnahmen hinaus zu erhöhen, also sich zu verschulden, was bei niedrigen Zinsen natürlich leichter ist.

Welche Folgen hatte der Wegfall der Golddeckung?

Die Zentralbank muss seitdem keine Rücksicht mehr darauf nehmen, dass es zu einem vermehrten Goldabfluss kommt und sie in Zahlungsschwierigkeiten geraten könnte. Sie ist vollkommen frei in der Schöpfung von Geld. Der Wegfall der Golddeckung hat einen unheilvollen Prozess in Gang gesetzt: Er erlaubt eine im Prinzip unbeschränkte Erhöhung der Geldmenge. Das Papier, in Form von Banknoten, ersetzt dabei das Gold, und die Giroguthaben bei den Banken ersetzen zu einem großen Teil die Banknoten. Man kann also sagen: Die gesamte Geldmenge wird aus dem Nichts, aus Papier und Buchungen geschaffen. Das ist zwar ein bisschen übertrieben, weil die Banken auch Betriebskosten haben. Aber der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec hat gesagt, "Übertreiben ist erlaubt, wenn es der Wahrheit dient."

Wie entwickeln sich in diesem System unbeschränkter Geldschöpfung die berüchtigten Finanzblasen?

Spekulanten - und potentielle Spekulanten sind wir alle - nehmen Kredite auf. Damit kaufen sie Vermögenswerte: Grundstücke, Aktien oder sogenannte Derivate. Was sich lohnt, solange die Zinsen niedriger sind als die erwartete Steigerung der Vermögenswerte. So kann der Spekulant ohne Leistung viel Geld verdienen. Er kann darauf bauen, dass die Vermögenswerte weiter steigen, weil ja auch die Kredit- und Geldmenge weiter steigt. Diese ständige Steigerung der Vermögenswerte zielt im Prinzip ins Unendliche - und es bilden sich Finanzblasen. Die müssen schließlich platzen, weil der Kredit- und Geldschöpfung keine realen Gegenwerte gegenüberstehen. Es kommt dann zu einer Bankenkrise, die in eine Wirtschaftskrise münden kann.

Die letzte Blase platzte vor sechs Jahren. Sind die Ursachen beseitigt? Oder steuern wir auf die nächste Krise zu?

Basel III schreibt eine höhere Eigenkapitaldeckung vor, um eine solche Krise zu verhindern. Die Deckung wird aber risikogewichtet. Der Versuch, die Kredit- und Geldschöpfung auf diese Weise zu bremsen, kann zu leicht manipuliert werden. Denn das Risiko wird weitgehend von den Banken bestimmt. Sie legen es so fest, dass es die Kredit- und Geldschöpfung möglichst wenig stört. Die Erhöhung der Eigenkapitaldeckung wird daher kaum erfolgreich sein. Außerdem bietet Basel III den Bankkunden zu wenig Sicherheit.

Ist die nächste Bankenkrise unter diesen Vorzeichen nur eine Frage der Zeit?

Davon bin ich überzeugt. Bei dauernd niedrigen Leitzinsen werden die Banken keine Hemmungen haben, die Kredit- und Geldmengenexpansion auch für spekulative Zwecke wieder voranzutreiben. Dies muss zur Bildung von neuen Finanzblasen führen, die früher oder später platzen. Daraus ergeben sich mit Sicherheit neue Krisen.

Warum wird das Übel nicht an der Wurzel gepackt? Wer oder was verhindert eine tiefgreifende Reform?

Mit einer Geldschöpfung aus dem Nichts kann man - dies liegt auf der Hand - sehr viel Geld verdienen. Daher übersieht man gerne die Krisen, die damit verbunden sind. Wenn diese eintreten, gibt man allen möglichen Ursachen die Schuld. Nur nicht der Ursache, mit der man sie in doppeltem Sinne des Wortes "verdient" hat.

Was schlagen Sie vor? Wie können neue Spekulationsblasen verhindert werden?

Mein Vorschlag ist die Erhöhung der Mindestreservepflicht auf 100 Prozent. Die Banken dürfen dann nicht einfach Kredite vergeben. Sie müssen sich zuerst das Zentralbankgeld holen - und zwar zu 100 Prozent des Kredits. Damit erhält die Zentralbank die Hoheit über die Geldschöpfung zurück. Sie ist wieder frei, den Leitzins wenn nötig zu erhöhen oder die Ausgabe von Zentralbankgeld mengenmäßig zu begrenzen. Die Idee ist übrigens schon älter. Sie stammt von Irving Fisher, dem bedeutendsten amerikanischen Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Er formulierte sie im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise von 1929.

Warum hat er sich mit seiner Idee damals nicht durchgesetzt?

Man hatte das Papiergeld vor der Krise vor allem mit privaten Wechseln "gedeckt", die sehr unsicher waren. Diese wurden danach durch Staatspapiere ersetzt, die sicherer waren. Damit glaubte man, die Krise relativ einfach überwunden zu haben. Das war und ist aber, wie sich gezeigt hat, ein Irrtum.

"Unter den heutigen Bedingungen ist die Zentralbank nicht in der Lage, wirklich eine restriktive Geldpolitik zu verfolgen." H. C. Binswanger
© Foto:Binswanger privat

Falls doch noch die Stunde von Irving Fisher schlägt - auf welche Weise erhöht sich durch seine 100-Prozent-Regel die Sicherheit der Bankkunden?

Dies ergibt sich aus der Regel selber. Die Giroguthaben sind dann vollständig gedeckt, wenn im Fall eines Bankrotts die Konkursmasse zuerst an die Inhaber der Giroguthaben geht. Bankgeld ist in diesem Fall ebenso sicher wie die Banknoten.

Kann 100-Prozent-Geld nicht auch in die Inflation führen, weil Zentralbanken die Geldmenge auf politischen Druck hin ausweiten? Was halten Sie von diesem Einwand?

Die Geldreform dient ja gerade dazu, es der Zentralbank wieder zu ermöglichen, die Geldschöpfung so weit zu bremsen, dass keine Inflation entsteht. Dabei ist es allerdings wichtig, dass sie ihre unabhängige Stellung gegenüber der Regierung beibehält und dass diese sogar noch ausgebaut wird.

Wie steht es in Europa um die Chancen einer solchen Reform?

100-Prozent-Geld bedeutet keine Revolution. Es bleibt bei einem doppelstufigen Bankensystem, so dass die Geschäftsbanken weiter Kredite nach ihren eigenen Richtlinien vergeben können. Immerhin handelt es sich um eine deutliche quantitative Veränderung: von einem auf 100 Prozent.

Aber mit Widerstand rechnen Sie schon.

Den Banken wird nicht gefallen, dass sie nicht mehr beliebig Geld schöpfen können. Andererseits können sie aber auch froh sein: 100-Prozent-Geld stabilisiert das Geldsystem. Es bedeutet zwar weniger kurzfristigen Gewinn, aber dafür mehr Sicherheit und damit mehr langfristigen Gewinn.

Bedeutet die Idee auch die Abkehr von der Vorstellung, nur Wachstum könne Wohlstand bringen?

Ohne ein gewisses Wachstum funktioniert unsere Wirtschaft nicht. Aber das Wachstum darf nicht ins Unendliche gehen. Sonst verbrauchen wir so viele natürliche Ressourcen, dass irgendwann nichts mehr da ist. Die Zentralbank muss auch ökologische Aspekte in ihre Politik einbeziehen.

Reicht die Einführung von 100-Prozent-Geld allein, um unsere Wirtschaft zu stabilisieren?

Nein, wir benötigen zudem eine Aktienrechtsreform, genauer, eine Zweiteilung von Aktien: Namensaktien, die nicht mehr an der Börse gehandelt werden, aber weiterhin eine ewige Dauer haben, und Inhaberaktien, die an der Börse gehandelt, aber nach 20 oder 30 Jahren zurückgezahlt werden. Auf diese Weise wird die zunehmende Spekulation, die unsere moderne Wirtschaft kennzeichnet, stark reduziert. Außerdem erhalten Genossenschaften und Stiftungen mehr Spielraum, also Unternehmungsformen, die mehr Sicherheit bieten.

Sie haben ein Buch über "Geld und Magie" geschrieben - eine ökonomische Interpretation von Goethes "Faust". In dem Buch steht, Wirtschaft sei ein alchemistischer Prozess, eine Suche nach künstlichem Gold. Fausts Reichtum basiere nicht auf Leistung, sondern auf Magie. Steckt zu viel Faust im heutigen Finanzsystem?

Die momentane Geldschöpfung birgt ein magisches Element: Sie geht ins Unendliche. Diese Unendlichkeitsvorstellung zieht Menschen an, weil sie glauben, sie könnten schon im Diesseits ins Unendliche streben. Wir müssen uns an die realen Möglichkeiten halten, die eine endliche Welt vorgibt. Geldschöpfung wird immer nötig sein, sie darf aber nicht ins Unendliche gehen.

Andreas Lorenz-Meyer, geboren 1974, lebt als freier Journalist in Hamburg, schreibt über wissenschaftliche Themen aller Art, speziell Erderwärmung, Naturschutz und das Internet.

Zur Person
H. C. Binswanger, geboren 1929 in Zürich, lehrte von 1969 bis 1994 als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. Von 1980 bis 1992 war er Geschäftsführender Direktor der Forschungsgemeinschaft für Nationalökonomie und von 1992 bis 1995 Direktor des Instituts für Wirtschaft und Ökologie (IWÖHSG).
Der Ökonom entwickelte die Idee einer ökologischen Steuerreform. 1980 erhielt er den Bundesnaturschutzpreis, 1986 den Binding-Preis für Natur- und Umweltschutz (Liechtenstein) und 2004 den Adam-Smith-Preis für marktwirtschaftliche Umweltpolitik. 1994 ernannte ihn die Wirtschaftsuniversität Wien zum Ehrensenator.
Zu Binswangers Forschungsgebieten zählen Geldtheorie, Dogmengeschichte, Umwelt- und Ressourcenökonomie und Allgemeine Volkswirtschaftslehre.
Der Doktorvater von Josef Ackermann hat mehrere wachstumskritische Bücher geschrieben:
"Wege aus der Wohlstandsfalle" (mit Werner Geissberger und Theo Ginsburg), S. Fischer Verlag, Frankfurt 1978.
"Arbeit ohne Umweltzerstörung" (mit Heinz Fritsch und Hans G. Nutzinger), S. Fischer Verlag, 1983.
"Geld und Magie - eine ökonomische Deutung von Goethes Faust", Murmann Verlag, Hamburg, 2. Auflage 2005 (englische Ausgabe: "Money and Magic", 1994).
"Geld und Natur", Edition Weitbrecht, Stuttgart, 1991.
"Die Wachstumsspirale - Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses", Metropolis Verlag, Marburg, 3. Auflage 2009 (englische Ausgabe "The Growth Spiral", 2013).
"Vorwärts zur Mäßigung", Murmann Verlag, Hamburg, 2009.