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"Es ist, als ob ein Meteorit einschlägt"

Von Ingeborg Hirsch

Reflexionen
"Die Forschung sagt, dass eine Unfallpersönlichkeit nicht existiert. Ich habe das Gefühl, es gibt Menschen, die das Pech anziehen, aber ich kann es nicht beweisen." Siegmund Linder
© Foto: Robert Wimmer

"Wiener Zeitung": Herr Dr. Linder, wer aller braucht eine psychologische Betreuung nach Unfällen?Siegmund Linder: Grundsätzlich weiß man, dass der Heilungsprozess beschleunigt wird, wenn man auch psychische Kräfte aktiviert. Nach schweren Unfällen gibt es objektive Einschränkungen des Alltags, die bedingen, dass man auch psychologische Betreuung braucht. Früher habe ich geglaubt, ein Patient, der im Rollstuhl sitzt, muss mindestens drei bis fünf Mal pro Woche betreut werden.

Heute weiß ich aus Erfahrung: das kann, muss aber nicht sein. Es ist immer davon abhängig, wie jemand in seiner persönlichen Art und Weise mit seinem Schicksal umgeht.

Heißt das, dass der Bedarf nicht von der Schwere des Unfalls abhängig ist?

Ja genau, es gibt Patienten, die durch ihre Geschichte, ihre Familie und genügend Zuwendung viele persönliche Ressourcen besitzen und einen guten Platz in der Welt bekommen haben. Diese haben eine bessere Ausgangsitua- tion. Dann gibt es Entwicklungen, die diesen guten Platz fördern oder schwächen. Wenn jemand etwa in einer Scheidungssituation auch noch einen Unfall hat, ist seine Verunsicherung schwerwiegender. Der braucht mehr psychologische Betreuung als jemand, der gerade verliebt ist und in seiner Welt schwimmt wie ein Fisch im Wasser. Das kann ein paar Wochen früher oder später aber schon wieder ganz anders sein . . .

Was heißt Trauma im Zusammenhang mit Unfall? In der psychologischen Fachliteratur wird Trauma meistens auf Kriegserlebnisse, Missbrauch in der Kindheit oder interpersonelle Gewalterfahrungen bezogen.

Meine Patienten können durch extreme Unfallsituationen auch im klinischen Sinne schwer traumatisiert sein. Diese Traumatisierung kann noch eine Dimension tiefer gehen, wenn die Gewalt von anderen Menschen ausgeht.

Als soziale Wesen sind wir Menschen existenziell auf Andere angewiesen; und genau an diesem Punkt passiert das Trauma, wenn dieses Vertrauen erschüttert wird. Das geht wesentlich tiefer als eine unpersönliche Erfahrung. Eine Patientin von mir wurde als Touristin überfallen: Es hat sie jemand niedergestoßen und ihr die Handtasche weggerissen. Das Problem für sie war nicht, dass sie ihre Schulter nie wieder richtig bewegen können würde. Das Trauma für sie war, dass ihr niemand geholfen hat. Sie lag am Boden und alle schauten weg.

Es gibt immer wieder Fälle, in denen der Verursacher eines Verkehrsunfalles aus dem Auto steigt und sofort sagt: "Ich war das nicht!" Wie ist das zu interpretieren?

Es kann vorkommen, dass jemand im Schock Geschehenes komplett leugnet. Ich habe oft erlebt, dass Menschen sehr damit hadern, wenn der "Unfallgegner", der die Schuld hat, nicht reagiert oder sich bei ihnen nicht zumindest entschuldigt. Es ist unglaublich erleichternd, wenn solch ein Gespräch stattfinden kann.

Manchmal kommt es sogar vor, dass sich Opfer und Täter zur gleichen Zeit bei uns auf Rehabilitation befinden - und wir ein Treffen arrangieren.

Wie ist das für den Verursacher?

Für den Verursacher ist es zunächst extrem angstbesetzt. Er begibt sich in eine Situation mit dem Wissen, dass es eine Schuld gibt, die er nicht loswerden kann. Er kann sie nicht wegreden, er kann sie nicht wegbeten, er muss sie einfach annehmen. Er kann alles Mögliche wieder gut machen, aber die Schuld bleibt, weil der Andere vielleicht für sein restliches Leben eine Behinderung hat.

Wenn der Verursacher das schafft, und man muss ihn auch darauf vorbereiten, kann es für beide sehr befreiend sein, obwohl sich am Zustand des Anderen faktisch nichts ändert, aber die Person wird seelisch gesünder. Es muss gar kein großes Verzeihen geben. Oft genügt es zu sagen, dass es einem aufrichtig Leid tut. Der Betroffene wird zu 99 Prozent entgegnen, dass auch er schon Fehler in seinem Leben gemacht hat. Das ist stark verkürzt, aber im Prinzip funktioniert es so.

Es gehen sozusagen beide klüger und als bessere Menschen aus einem Unfall hervor. Findet hier noch einmal eine Reifung der Person statt - oder ist das nur ein Idealfall?

"Es ist wichtig, nicht im Moment des Unglücks zu verharren. Ich habe oft das Gefühl, als würde ein Teil des Menschen wie ein geschocktes Kind in dieser Situation zurückbleiben": Siegmund Linder im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiterin Ingeborg Hirsch.
© Foto: Robert Wimmer

Ich würde sagen, dass das der weitaus häufigere Fall ist. Es gibt auch Menschen, die nicht so viel Entwicklungspotenzial besitzen, aber die sind in der Minderheit. Durch einen Unfall wird die Identität, die ich mir aufgebaut habe, erschüttert, so als ob ein Meteorit eingeschlagen hätte. Ich bin gezwungen, mit dieser Erschütterung zurechtzukommen, was heißt, dass ich an mir arbeiten muss. Im positiven Sinn kann das bedeuten, dass sich auch andere Verhärtungen lösen. Wenn ich schon erschüttert bin, kann ich auch einiges anderes neu angehen. Das ist die große Chance.

Was ist für die Bewältigung eines Traumas essenziell?

Es ist wichtig, nicht im Moment des Unglücks zu verharren. Ich habe oft das Gefühl, als würde ein Teil des Menschen wie ein geschocktes Kind in dieser Situation zurückbleiben. Es ist unsere Aufgabe, dieses Kind abzuholen und seine Erstarrung zu lösen. Das gelingt nur, wenn den Betroffenen die Möglichkeit geboten wird, alle mit der Unfallsituation verbundenen Gefühle wie Hilflosigkeit, Zorn, Verzweiflung und Trauer auszudrücken. Unfallverarbeitung heißt, dass ich den Unfall mit seinen Folgen sozusagen in meinen Lebensteppich einwebe; er muss dort einen Platz bekommen, meist einen prominenten, jedenfalls einen, der mich auch das andere, das mein Leben ausmacht, noch sehen lässt.

Brauchen wir manchmal einen Schicksalsschlag, um im Leben weiterzukommen?

Siegmund Linder: "Unfallverarbeitung heißt, dass ich den Unfall mit seinen Folgen sozusagen in meinen Lebensteppich einwebe . . ."
© Foto: Robert Wimmer

Der Mensch ist so veranlagt, dass er mit Schicksalsschlägen zurechtkommt. Natürlich wünscht sich niemand einen Unfall, aber viele Patienten sagen: "Freilich wäre es schöner gewesen, wenn ich den Unfall nicht gehabt hätte, aber das, was ich dadurch über mich erfahren habe, über meine Beziehungen und Werte, das will ich nicht missen."

Sie arbeiten sehr intensiv mit Ressourcen und Bildern der Menschen. Wie machen Sie diese Ressourcen für den Patienten auffindbar?

Man bekommt relativ schnell ein Gefühl für jemanden, wie er tickt und was ihn bewegt. Im Prinzip können das alle Menschen, aber wir als Psychologen sind geschult, mehr darauf zu achten. Ich kann Ressourcen aber nur mit jemandem erarbeiten, der Vertrauen zu mir hat und auch in mir eine Ressource sieht. Wenn die Leute mit etwa 40 Jahren zu uns kommen, haben sie schon eine Lebensgeschichte, und jeder hat schmerzliche Erfahrungen gemacht, die zu bewältigen waren. An diese kleinen Schicksalsschläge kann man anknüpfen. Die zentrale Ressource neben Beruf und Hobbys sind liebevolle soziale Beziehungen. Für mich selbst ist die Erkenntnis inzwischen fast schon banal: Wir Menschen sind Rudelwesen und brauchen den Anderen, damit wir zum Menschen werden. Die soziale Beziehung macht aus, was ich bin, wie ich mit etwas umgehe und was ich werden kann.

Das heißt, Menschen, die in engen sozialen Beziehungen leben, tun sich einfach leichter. Was ist mit Menschen, die das nicht haben?

Die haben eine schwierigere Ausgangssituation, aber durch liebevolle Pflege und Zuwendung können auch Menschen, die in ihrem bisherigen Leben nicht viel Liebe erfahren haben, ein Stück wachsen und nachreifen. Im psychologischen Fachjargon heißt dieser Prozess "Benachelterung".

Kann Religion eine Hilfe sein?

Im Großen und Ganzen tun sich Menschen, die religiös sind, etwas leichter, Schicksalsschläge zu verarbeiten, weil sie bestimmte Sinn stiftende Angebote und Rituale verinnerlicht haben. Wir alle haben das Bedürfnis, Ereignisse in größere Zusammenhänge zu stellen, die Vergangenheit und Zukunft verbinden. Dafür bietet die Religion vorgefertigte Muster, die hilfreich sein, aber auch begrenzen können. Ein häufiges Thema ist etwa die göttliche Strafe.

Ein Unfall als Strafe Gottes?

Viele sagen: "Das ist die Strafe dafür, was ich in meinem Leben getan habe!" Ich bin da sehr skeptisch und frage oft nach: "Glauben Sie wirklich, dass Sie in Ihrem Leben etwas getan haben, das das, was Sie jetzt erleben müssen, als Strafe rechtfertigt? Ist das nicht völlig unangemessen?" Meistens lösen sich diese Menschen dann wieder von dem strafenden Bild. Vor längerer Zeit hatte ich allerdings einen rund 60-jährigen Patienten, der beim Kirschenpflücken vom Baum gefallen und danach querschnittgelähmt war. Er hatte schwere Parästhesien (schmerzhafte Nervenfehlempfindungen, Anm.) in seiner unteren Körperhälfte, die ihm den Eindruck vermittelten, in einem Eisblock zu stecken. Das ist sehr schmerzhaft und schwierig zu behandeln. Er meinte, das sei seine Strafe. Natürlich habe ich auch ihn gefragt, was eine solche Strafe rechtfertige. Er hat eine Zeit lang nachgedacht und dann gesagt: "Na, eigentlich nichts, aber dann nehme ich halt einfach die Sünden meiner Kinder und Enkel auf mich, sodass die das nicht mehr erleben müssen". Für ihn war dieser Strafgedanke eine Möglichkeit, mit dieser extrem belastenden Situation umzugehen.

Welche Möglichkeiten, abgesehen von der medikamentösen und physikalischen Therapie, haben Sie bei der Schmerzbehandlung?

Schmerz ist ein Phänomen, welches das ganze Wesen betrifft, denn mir tut ja meistens nicht nur ein Knie oder ein Arm weh. Ich als ganzer Mensch habe Schmerzen; das heißt, auch die Schmerzbewältigung muss in allen Aspekten ansetzen. Bei uns gibt es viele Berufsgruppen, die ihren Teil dazu beitragen können: Mediziner, Ergo-, Physio- und Sporttherapeuten, Pflegefachleute, Psychologen und Seelsorger. . . Welchen Teil tragen die Psychologen bei?

Bei Amputierten zum Beispiel geht es um das Annehmen eines neuen Körperbildes. Jeder hat ein inneres Bild, wo sein Körper anfängt und wo er aufhört; ohne das könnte man sich im Raum gar nicht bewegen oder nach einem Glas Wasser greifen. Diese innere Vorstellung ist erschüttert, wenn ein Teil entstellt ist oder fehlt. Patienten mit Armamputation erzählen oft, dass sie den Arm, der nicht mehr da ist, als extrem verdreht empfinden, wie bei einem Polizeigriff nach hinten gebogen. Durch eine Tiefenentspannung lernen sie, sich vorzustellen, dass jemand da ist, der den Arm aus diesem Griff befreit und sanft so hinlegt, dass er weniger weh tut. Bei schweren Verbrennungen haben Patienten oft massive Hitze- oder Kältegefühle. Wir suggerieren mit Bildern das Gegenteil, etwa einen glitzernden, kühlen Gelhandschuh, der sich über die Wunde legt und die Schmerzen lindert.

Wirkt das auch bei kalten Füßen oder Händen im Alltag?

Selbstverständlich. Der Mensch ist ein psychophysisches Wesen, das nie nur Schmerz alleine empfindet, sondern auch Bilder dazu entwickelt. Die beeinflussen sich gegenseitig. Wenn ich mir Wärme vorstelle, dann ist sie auch da, das funktioniert zum Beispiel mit Autogenem Training.

Welche Bedeutung hat die "Spiegeltherapie"?

Ich habe oft erlebt, dass Menschen sehr damit hadern, wenn der Unfallgegner, der die Schuld hat, nicht reagiert oder sich bei ihnen nicht entschuldigt. Es ist erleichternd, wenn solch ein Gespräch stattfinden kann." Siegmund Linder
© Foto: Robert Wimmer

Die "Spiegeltherapie" ist eine spektakuläre Methode, die bei uns von den Ergotherapeutinnen durchgeführt wird. Nach der Amputation einer Gliedmaße senden die verletzen Nervenbahnen ein Feuerwerk an Signalen an das Gehirn. Dieses kann diese chaotischen Signale nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen und interpretiert sie als Schmerzen unterschiedlicher Qualität, die dem verlorenen Arm oder Bein zugeordnet werden. So entsteht der oft sehr intensive Phantomschmerz. Durch das Anlegen eines Spiegels an der gesunden Extremität und das gezielte Bewegen wird dem Gehirn vorgegaukelt, dass alles in Ordnung ist und es sich wieder beruhigen kann, bis es langsam lernt, die Signale umzuinterpretieren.

Im Gegensatz zum "Phantomschmerz" sind "Phantomgefühle" sehr hilfreich. Der Patient schlüpft sozusagen mit seiner "Geisterhand" in die Prothese und kann von Anfang an besser damit umgehen.

Gibt es nach Ihrer Erfahrung Menschen, die Unfälle anziehen? Echte Pechvögel?

Die Forschung sagt, dass eine Unfallpersönlichkeit nicht existiert. Ich habe das Gefühl, es gibt Menschen, die das Pech anziehen, aber ich kann es nicht beweisen. Wenn jemand etwa eine Tendenz hat, Konflikte immer schwelen zu lassen, ohne eine Lösung zu suchen, kann die innere Anspannung dazu führen, dass er weniger aufmerksam ist, und dann passiert natürlich leichter etwas. Es gibt auch Menschen, die von ihrer Anlage her weniger geschickt sind. Wenn die sich nicht eingestehen, dass sie vorsichtiger sein sollten, passiert schneller etwas - ebenso bei Menschen, die sich durch einen depressiven Anteil selbst nicht so wichtig nehmen und auch nicht auf Unfallverhütung achten. Ich sehe solche Konstellationen als Aufforderung an den Patienten und an mich, an der Vermeidung zukünftiger Unfälle zu arbeiten.

Gibt es in Ihrer Arbeit etwas, das Sie überrascht hat?

Am Anfang war ich natürlich öfter überrascht, am meisten darüber, wie stark Menschen sind, welche unglaublichen Kräfte sie haben und wie gut sie Schicksalsschläge bewältigen können. Letztendlich überrascht mich aber bis heute jeder einzelne Mensch, mit dem ich zu tun habe.

Ingeborg Hirsch, geboren 1966, ist Biologin und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Wien.

Zur Person
Siegmund Linder, geboren 1959 in Oberdrauburg/Kärnten, ist Klinischer Psychologe und Psychotherapeut am Rehabilitationszentrum Weißer Hof der AUVA in Klosterneuburg. Seit 25 Jahren betreut er Menschen nach Querschnittlähmungen, schweren Unfällen oder Verbrennungen. Seine Aufgabe ist es, die Patienten im Zuge der psychischen Rehabilitation zurück ins Leben und in den Alltag zu begleiten.

Dr. Linder ist Gestalt- und Gesprächstherapeut zusätzlich fließen in seine Arbeit je nach Bedarf andere Richtungen ein. Seine Patienten sind zu mehr als 70 Prozent Männer, weil diese häufiger von Unfällen betroffen sind; das liegt einerseits an der Berufswahl, anderseits an einem stärker ausgeprägten Risikoverhalten. (Die in diesem Interview gewählte männliche Form bezieht sich aber meist auf beide Geschlechter.)