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"Brasilien ist ein trauriges Land"

Von Philipp Lichterbeck

Reflexionen

Maria Rita Kehl ist Psychoanalytikerin und Mitglied der brasilianischen Wahrheitskommission. Eine ganze Nation liegt auf ihrer Couch. Ein Versuch, sich einem missverstandenen Land zu nähern.


Während der Fußball-WM wird Brasilien seine fröhliche, ausgelassene Seite zeigen, aber dahinter steckt auch eine depressive.
© E.-M. Feilkas

Als die beiden Straßenmusiker in die Metro einsteigen, schnippt Maria Rita Kehl prophylaktisch mit den Fingern. Per Tamburin und Melodica spielen die zwei einen Forró, einen flotten Tanz aus dem Nordosten Brasiliens. Kehl wippt im Rhythmus, lacht und legt einen Geldschein ins kreisende Tamburin. "Ich liebe das", sagt die 63-Jährige, die Umstehenden klatschen.

Maria Kehl ist herausragendes Mitglied der Nationalen Wahrheitskommission Brasiliens. Deren Aufgabe ist es, die Verbrechen aufzuklären, die das brasilianische Militär in 20 Jahren düsterer Herrschaft begangen hat. Ihre Fröhlichkeit und Spontaneität hat sich Kehl, eine zierliche, zerbrechlich wirkende Frau, von der Arbeit nicht nehmen lassen. Und vielleicht ist es für sie, als Psychoanalytikerin, auch so, dass nun ein ganzes Land mit seiner verstrickten Geschichte auf ihrer Couch liegt. Ein riesiges und widersprüchliches Land, voller Seele und voller Abgründe.

Verfolgte Indios

Gerade ist Kehl auf dem Weg zu einem Treffen mit den anderen sechs Mitgliedern der Wahrheitskommission im Nationalarchiv von Rio de Janeiro. Sie will über ihre Recherchen im Bundesstaat Mato Grosso do Sul berichten. Sie hat dort verschiedene Indio-Stämme zu den Ereignissen der Jahre 1964 bis 1985 befragt, den Jahren der Diktatur. Am Anfang recherchierte Kehl zunächst die Verfolgung von Kleinbauern und Landarbeitern; nun kümmert sie sich um die brasilianischen Indios. Ihrer Arbeit ist es zu verdanken, dass die offizielle Zahl der Todesopfer, die jahrelang mit nur 357 angegeben wurde, nach oben korrigiert werden musste. "Sie geht in die Tausende", sagt Kehl. "Die Indios wurden beseitigt, um Straßen, Staudämmen und Minen Platz zu machen. Diese Mentalität existiert bis heute."

Maria Rita Kehl.
© Lichterbeck

Kehl erzählt, dass man sie in dem Hotel, in dem sie übernachtete, zunächst freundlich behandelt habe. Bis sie mit Bemalungen aus dem Indio-Reservat zurückgekehrt sei, da sei die Stimmung gekippt. "Weil man in dem Ort vom Soja-Anbau lebt", erklärt Kehl. Sie zitiert Politiker, welche die Indios als "Nichtsnutze" bezeichnen, die man schleunigst aus ihren Reservaten vertreiben müsse, um den Wald zu roden und Felder anzulegen. Ein Abgeordneter hat vorgeschlagen, eine strenge Geburtenkontrolle für Indios einzuführen.

Eigentlich sollte man meinen, dass solches Gedankengut im Jahr 2014 verschwunden wäre. "Absolut nicht", sagt Kehl. "Wir Brasilianer fliehen vor unserer Vergangenheit. Deswegen sind wir dazu verdammt, sie zu wiederholen. Ein Land, das so mit seinen ältesten Bewohnern umgeht, hat ein Problem."

Es ist der große Widerspruch Brasiliens: Das Land ist berühmt für seine Leichtigkeit, seine warmherzigen und musikalischen Menschen. Und es ist berüchtigt für epidemische Gewalt, unfassbare Armut und die koloniale Arroganz der Mächtigen. Für Kehl sind das zwei Seiten derselben Medaille. Der Brasilianer sei ein Mensch, der froh nach vorne schaue, ohne zu merken, wie sehr er in den Fallstricken seiner Geschichte feststecke. Deswegen stolpere er immer wieder, sagt Kehl. Was aber nicht heiße, dass die Brasilianer Menschen ohne Gedächtnis seien: "Wir erinnern uns an die Sklaverei und an die Militärdiktatur. Nur machen wir nichts daraus. Wir schämen uns und ziehen keine Konsequenzen."

Weder seien die Sklaven nach 1888 entschädigt worden, noch wurden die Militärs nach 1985 zur Rechenschaft gezogen, weil es politisch nicht opportun war. Beide Systeme verbreiten bis heute ihr Gift, sagt Kehl.

Bevor Maria Kehl die Metro bestiegen hat, saßen wir in einem Restaurant in Rio de Janeiros Reichenviertel Leblon. Kehl, die in São Paulo lebt, hatte sich dort mit einer Freundin verabredet: Cecilia Boal, Witwe von Augusto Boal, dem großen Theatermann und Begründer des Theater der Unterdrückten. Er betrachtete die Bühne als Medium der Emanzipation für die Armen und als Weg zur Bewusstwerdung.

Das therapeutische Moment verbindet Kehl mit Boal. Sie versucht die Erkenntnisse, die sie als Psychoanalytikerin gewinnt, kollektiv fruchtbar zu machen. Vor einigen Jahren hat sie ein preisgekröntes Buch verfasst, "Die Zeit und der Hund". Darin beschreibt sie den Zusammenhang zwischen Depressionen und der Beschleunigung der Zeit, die viele Menschen empfinden. Die Zeit sei autoritär geworden und bleibe doch einsam und leer, sagt Kehl.

Einmal fuhr sie auf einer Schnellstraße in São Paulo, erklärt sie den Buchtitel. Da lief ein Hund auf die Fahrbahn, und sie konnte nicht mehr bremsen, weil hinter ihr Dutzende Autos angerast kamen. Nach dem Zusammenstoß sah sie den Hund im Rückspiegel jaulen, aber sie hörte ihn nicht mehr. So beschleunigt und distanziert nähmen viele Menschen ihre Leben wahr. Als Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff Kehl 2012 persönlich in die Wahrheitskommission berief, sagte sie: Ich mag, was du schreibst. "Das hat mich sehr berührt", erzählt Kehl.

Täglicher Karneval

Was ist das größte Missverständnis beim Blick auf Brasilien? Kehl muss nachdenken. Dann sagt sie, dass die WM-Besucher all das finden werden, was sie suchen: Partys, Caipirinha, Samba, Ausgelassenheit. All das sei Brasilien, sagt Kehl. "Unsere Fröhlichkeit ist nichts Gestelltes, unser täglicher Karneval."

Sie zitiert den Historiker Sérgio Buarque de Holanda, der den Brasilianer als "Homem Cordial" bezeichnete, den herzlichen Menschen. Die soziale Ordnung werde von Affekten durchwirkt. Freundschaft und Freundlichkeit zählen mehr als das Gesetz. Schon die ersten Sambas handelten schließlich von Herumtreibern, Bohemiens, leichten Mädchen und flexiblen Polizisten.

Und trotzdem sei Brasilien, dieses mental unüberschaubare Territorium, auch ein Land tiefer Traurigkeit, sagt Kehl. Das würde man aber erst mit der Zeit begreifen, wenn man etwas tiefer eintauche. Kehl findet einen Begriff, der nur im Portugiesischen existiert und über dem schon Legionen von Übersetzern graue Haare bekommen haben: saudade. Sie beschreibt dieses brasilianischste aller Gefühle als fröhliche Trauer. Oder traurige Fröhlichkeit. Klingt widersprüchlich. Ist es auch. Beschrieb saudade ursprünglich das Heimweh der portugiesischen Seefahrer, so kann man sie heute für jemanden empfinden, der abwesend ist; für eine vergangene Zeit; einen Ort; ein verlorenes Gefühl; eine ferne Musik; etwas, das nie stattgefunden hat. Es ist eine Mischung aus Liebe, Sehnen, Verlust, räumlicher Distanz und gefühlter Nähe. Es gibt keinen schöneren Satz, es kommt einer Liebeserklärung gleich, wenn jemand sagt: "Sinto saudade de você." Ich empfinde saudade für dich. Es ist ein lustvolles Sehnen, und die Brasilianer empfinden es gerne.

"Ich habe saudades für einen Bauernhof", sagt Kehl. "Er gehörte meiner Familie, aber ich bin nie dort gewesen." Kehls Vorfahren wanderten Mitte des 19. Jahrhunderts aus Kehl am Rhein nach Südbrasilien aus. Einer ihrer Großväter kehrte einige Male nach Deutschland zurück. Er war Arzt, aber er mochte keine Kranken. Also arbeitete er für den Bayer-Konzern und reiste in den 1930er Jahren ein paar Mal nach Deutschland, wo er zum überzeugten Eugeniker wurde. Später schenkte er Maria Kehl Hitlers "Mein Kampf".

Maria Kehl ging einen anderen Weg, studierte Psychologie und gab noch während der Militärdiktatur eine linke Zeitschrift heraus. Ihre Doktorarbeit hatte den Titel: "Die Rolle des Globo-Medienkonzerns und seiner Telenovelas bei der Domestizierung Brasiliens unter der Militärdiktatur." Sie arbeitete als Psychoanalytikerin, Journalistin und Dichterin. Auf ihrer Homepage finden sich Essays zu den unterschiedlichsten Themen, von Kunst über Märchen und Marxismus bis zu Humor. Eine erste Krise überwand sie, als sich zwei ihrer Patienten umbrachten.

Vor wenigen Jahren stand sie im Mittelpunkt einer Polemik, weil die renommierte Zeitung "Estado de São Paulo" sie als Kolumnistin entließ. Kehl hatte entgegen der Wahlempfehlung des Blattes die Sozialprogramme der linken Regierung von Dilma Rousseff verteidigt. Für den Rausschmiss findet Maria Kehl heute nur ein Schulterzucken. "Man muss Frieden mit seiner Vergangenheit machen", sagt sie, "dann kann man leichter nach vorne schauen". Das steht Brasilien noch bevor.