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Ortrud Grön

Von Sonja Panthöfer

Reflexionen
Ortrud Grön im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiterin Sonja Panthöfer. Foto: Dieter Mayr

Die Traumforscherin Ortrud Grön erklärt, warum sie auf den Begriff "Traumdeutung" allergisch reagiert, weshalb Träume nicht nur von Spezialisten entschlüsselt werden können - und erzählt von ihrem eigenen aktiven Nachtleben.


Wiener Zeitung: Frau Grön, wie sehen die Nächte einer Traumforscherin aus? Ortrud Grön: Ganz unterschiedlich. Jede Nacht hat ihre eigene Geschichte. In manchen Nächten schlafe ich, in manchen bin ich recht lange wach. Dann denke ich gerne über neue Fragen für meine Forschung nach. Das ist ein Prozess des intensiven inneren Hörens und Fragens. Dabei empfange ich oft "Traumtexte", die meine Gedanken vertiefen.

Wann schreiben Sie Ihre Träume auf? Auch mitten in der Nacht?

Wenn ich nach einem Traum aufwache, schreibe ich ihn sofort auf. Denn Träume sind flüchtige Besucher. Danach schlafe ich aber problemlos wieder ein.

Ehrlich gesagt, klingt das nicht nach erholsamen Nächten.

Es verlangt viel Selbstüberwindung. Ich habe das lange genug geübt, und jetzt fällt es mir nicht mehr schwer, weil ich mich auf das Ergebnis freue.

Was gefällt Ihnen denn so gut an Träumen?

Ich liebe die provozierenden, oft surrealistischen Einfälle der Träume. Manchmal genieße ich ihren überraschenden Humor, der in den allermeisten Fällen ja uns selbst betrifft.

Aber oft träumen wir doch von anderen Menschen, oder nicht?

Wenn ich diese Menschen kenne, geht es darum, dass ich mir bewusst mache, ob die Eigenschaften, die sie haben, mir sympathisch oder unsympathisch sind. Denn diese Eigenschaften will mir der Traum als Anteil von mir selbst bewusst machen.

Wenn ich also von meiner bösen Nachbarin träume oder von meinem Chef, der sich schlecht benimmt . . .

(Lacht) Genau! Wenn ich von negativen Bezugspersonen träume, geht es in Wahrheit um mich selbst. Ich lasse den Träumenden in solchen Fällen gerne lang erzählen, damit die Erfahrung auch wirklich greift.

Gefühle wie etwa Wut empfinde ich deshalb im Traum, weil ich mich selbst, zumindest in bestimmten Bereichen meines Lebens, ähnlich verhalte.

Ortrud Grön. Foto: Dieter Mayr

Wie läuft eine Traumsitzung bei Ihnen ab? Wie deuten Sie Träume?

Auf den Begriff Traumdeutung reagiere ich sehr allergisch.

Was ist daran so schlimm?

In der sogenannten esoterischen Literatur gibt es sehr viele schwammige Erklärungen über Träume, die gern den Terminus Traumdeutung verwenden. Die Traumlexika sind häufig eine Komposition aus Einfällen, die dem Bildinhalt nicht gerecht werden, sondern nur der eigenen Phantasie folgen. Beides aber gehört unbedingt zusammen, damit wir erkennen, wie wir mit dem realen Bildinhalt in unserem Leben umgehen.

Wie arbeiten Sie persönlich mit Träumen?

Mein Weg besteht darin, mich über den sachlichen Inhalt der Bilder in das Persönliche des Träumers hinein zu fragen. Und was dabei herauskommt, erfahre ich ja nur vom Träumer selbst. Also deute ich nicht, sondern wir arbeiten gemeinsam an einem Traum.

Viele Leute erinnern sich jedoch nicht an ihre Träume. Was raten sie denen?

Das habe ich hier in der Lauterbacher Mühle oft erlebt. Patienten haben gesagt: "Frau Grön, ich soll mit Ihnen über meine Träume sprechen. Ich träume aber nicht." Dann habe ich ihnen erklärt, dass sie sich dem Träumen aufmerksam zuwenden sollten. Und spätestens nach zwei Tagen konnten sich die Patienten in der Regel an einen Traum erinnern.

Häufig hört man: "Ich habe schlecht geträumt." Wozu träumen wir überhaupt? Oft erinnert es ja eher an absurdes Theater.

Absurd ist das Theater nur oberflächlich betrachtet. Im Grunde geht es darum, dass wir uns mit unserem Leben beschäftigen. Träume wollen uns helfen, dass wir uns von Ängsten befreien und Probleme lösen. Gerade mit erschreckenden Träumen sollte man sich also intensiv befassen.

Was muss ich denn wissen, um so eine "Theatervorstellung" zu verstehen, vielleicht sogar zu genießen?

Träume sind ungeheuer logisch und häufig gibt es einen Dreier-Rhythmus, den man im Auge behalten sollte. Der erste Teil des Traums beschreibt das Problemumfeld, der zweite zeigt auf, wie ich mit dem inneren Zwiespalt zwischen Gefühlen und Gedanken umgehe, und im dritten Teil geht es um die Problemlösung.

Das klingt aber recht anspruchsvoll.

Doch Traumbilder können nicht nur von Spezialisten entschlüsselt werden. Träume verwenden eine Gleichnissprache, und je mehr man über die Wesen und Dinge weiß, die in unseren Träumen auftauchen, desto besser vermag man sie zu verstehen. Wenn ich etwa von einem Pferd träume, muss ich mir das Wesen dieses Tieres klar machen. Können Sie reiten?

Nein. Sie?

Reiten ist etwas Wunderbares! Dabei spüre ich eine unbändige Lust von Freiheit und Vitalität. Das ist die Grundaussage. Wenn nun ein Pferd in dem Traum, der für mein Leben prägend war, verlaust und müde im Stall steht, ist das ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass die Vitalität meiner Gefühle verkümmert ist.

Inwiefern haben Träume Ihr eigenes Leben verändert?

Einst steckte ich in einer tiefen Krise, wusste nicht mehr weiter und erzählte diesen Traum dem Psychotherapeuten Karlfried Graf Dürckheim. Er half mir, diesen Traum zu interpretieren, und ich begriff, dass ich vor lauter Pflichten, die ich auf mich genommen hatte, keine Freude mehr an mir selbst empfand.

Sind Sie dadurch sozusagen auf den Geschmack gekommen? Das kann man so sagen. Ein Jahr später gebar ich im Traum ein Fohlen. Da war ich glücklich, weil ich verstanden hatte, was die Vitalität meiner Gefühle mir bedeutet. Außerdem erkannte ich, dass Träume einer Gesetzmäßigkeit folgen. Und die wollte ich dann unbedingt erforschen.

Bei Traumforschung denken viele ja zunächst einmal an Freud. Was ist denn dessen Verdienst?

Freud hat erkannt, dass Träume uns auf geheime Wünsche aufmerksam machen, die wir in unserer Kindheit aus Angst verdrängen mussten. Doch er hat zu viel auf der sexuellen Ebene erklärt. Denn wer denkt schon an Sex, wenn im Traum ein Schornstein auftaucht? (lacht)

Wie verstehen Sie dann erotische Träume?

Ich habe immer wieder festgestellt, dass die Sexualität im Traum meistens dazu dient, die Beziehung zwischen den männlichen und weiblichen Anteilen in uns selbst darzustellen. Und dabei geht es überhaupt nicht um Sex.

Sondern worum?

Es ist eine Metapher. Biologisch betrachtet, empfängt eine Frau neues Leben im Inneren. In der Gleichnissprache ist damit das Erkennen neuen Lebens gemeint. Ein Mann zeugt aus sich heraus. Dem entspricht in der Gleichnissprache die Leben erzeugende Tat. Der Traum fordert uns auf, die weiblichen und männlichen Kräfte in uns in Einklang zu bringen, damit wir uns weiter entwickeln können. "Erkennen" und "Tun" ist die Aufgabe des Menschen.

Können Sie dazu ein Beispiel geben?

Ich erinnere mich an einen Teilnehmer in einem meiner Traumseminare. Der hatte einen sehr schönen sexuellen Traum, aber tatsächlich ging es um ein Erlebnis tags zuvor im Seminar. Dieser Mann hatte nämlich zum ersten Mal in seinem Leben über seine Gefühle gesprochen, noch dazu vor Publikum. Die liebevolle Aufnahme seiner Worte durch die Gruppe hat ihn tief berührt.

Wofür stand dann die Partnerin im Traum dieses Mannes?

Die Frau im Traum stand für seinen weiblichen Erkenntnisanteil, der sich freute, endlich einmal ohne Angst über Gefühle sprechen zu dürfen.

Verfängliche Situationen im Traum sind also eher harmlos?

(lacht) Na ja, wie man´s nimmt. Ich musste im Traum einmal mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin schlafen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wütend ich war!

Warum denn?

Na ja, dieser "Eisschrank" hat mich schon sehr aus der Reserve gelockt. Es ging darum, zu begreifen, dass ich wieder einmal meine Gefühle nicht gezeigt habe. Wie ich schon sagte, der Traum hat oft provozierende Einfälle. Das mag ich sehr.

Ist das ein Beispiel dafür, wie wir in Träumen unsere Kindheit aufarbeiten?

Genau, es ging in Wahrheit um die seelischen Nöte meiner Kindheit. Ich bin im Berlin der zwanziger Jahre geboren und meine Eltern waren abends häufig auf Veranstaltungen der NSDAP, wo mein Vater Reden hielt. Ich kleiner Wurm lag allein zu Hause, mein Weinen und Schreien hörte niemand. Damals schon habe ich offenbar beschlossen: Gefühle zeigen bringt nichts, denn keiner hört mich. Das ist ein Beispiel für eine Schutzhaltung, die man sehr lange beibehält.

Sie sagen, es geht im Traum um die großen Themen. Wenn man sich die Bücher-Bestsellerlisten anschaut, finden sich dort auffällig viele Titel über Liebe. Wie können Träume uns dabei helfen, uns selbst und andere zu lieben?

Es geht darum, das Leben in uns selbst und im Anderen zu lieben. Das Ziel ist doch, den Weg zum Glück zu finden. Glücklich sind wir aber nur, wenn wir uns frei und kreativ fühlen.

Muss jeder Mensch kreativ sein?

Ja, das macht uns wirklich glücklich. Wenn ein Mensch gar nichts kreativ gestaltet, bleibt er unerfüllt. Sie können ihre Gestaltungsfreude in der Familie ausleben, in Beziehungen zu anderen Menschen, am Arbeitsplatz, in der Forschung usw. Dazu brauche ich aber Liebe zum Lebendigen in mir selbst.

Was passiert, wenn ich nicht kreativ bin? Werde ich dann depressiv?

Ja, und leider passiert das gerade bei vielen alten Menschen, die das Gefühl haben, ihr Leben liege schon hinter ihnen.

Woran erkenne ich an einem Traum, ob es um die Liebe zu mir selbst geht?

Zum Beispiel, wenn ein Hund auftaucht. Gleichnishaft gesprochen, liebt ein Hund sein Herrchen oder Frauchen und ist ihnen treu. Im Traum spiegelt so ein Tier, wie ich mit mir selbst umgehe. Wenn ich die Liebe zu mir selbst verletze, kann es sein, dass der Hund im Traum abgemagert ist oder verletzt am Straßenrand liegt. Erscheint mir jedoch ein positives Hundetraumbild, ist das ein gutes Zeichen für den Umgang mit mir selbst.

Wovon sonst träumen Menschen?

Oft geht es natürlich um Fahrzeuge. Ein Auto bedeutet, dass ich mich selbst durchs Leben steuern kann. Verursache ich im Traum einen Unfall, muss ich mich fragen, wodurch ich mich selber oder jemand anderen seelisch verletzt habe. Oft wird auch von Blumen geträumt. Blüten wollen Früchte oder Samen erzeugen. Wenn ich von Blüten träume, blüht in mir ein Wunsch auf, der zur Frucht werden will.

Wann machen Träume glücklich?

Glücklich macht mich ein Traum dann, wenn ich ein Problem in meinem Leben gerade gut bewältigt habe. Dann belohnt mich der Traum. Eine Frau träumte beispielsweise von einem Pferd, das mit ihr im Bett schmuste. (lacht).

Lassen Sie mich raten: Ging es um Vitalität?

Genau!

Wovon träumen Sie denn eigentlich noch?

Ach, ich wünsche mir immerzu etwas. Ganz tief in meinem Herzen habe ich vor allem einen Wunsch: Träume sind für mich ein Gespräch mit Gott. Dieses Vertrauen möchte ich den Menschen vermitteln.

Nun gibt es aber viele Menschen, die mit Gott nichts anfangen können, die sich als atheistisch bezeichnen und aus der Kirche ausgetreten sind.

Aus der Kirche bin ich auch ausgetreten. Es ärgert mich, dass sie so dogmatisch ist. Aber es gibt natürlich auch Atheisten. Unsere wissenschaftlich geprägte Zeit lässt den Begriff Gott als Schöpfer des Lebens nicht zu, um nicht in den Verdacht der Unwissenschaftlichkeit zu geraten. Ich bin mir aber sicher: Fast jeder Mensch, der sich als nicht gläubig betrachtet, hat sich zumindest schon einmal gefragt, ob es nicht doch eine höhere Ordnung gibt.

Dennoch stoßen Sie mit Ihrer Überzeugung ja sicherlich auf Widerstände. Wie gehen Sie damit um?

Es stimmt, dass ich auf Ablehnung stoße, allerdings auch auf viel Neugier. So schön und nützlich die Wissenschaften auch sein mögen, so brauchen wir doch auch wieder ein Gesamtkonzept des Lebens.

Die Schöpfung dient in unseren Träumen als Gleichnis für unsere geistige Entwicklung. Ich glaube, dass wir uns in einer Zeit des Umbruchs befinden. Die Sehnsucht der Menschen nach einem Lebenssinn wächst wieder.

Sie haben also keine Angst, als unwissenschaftlich zu gelten?

Diese Angst hatte ich lange. Aber jetzt freue ich mich auf kreative Auseinandersetzungen über dieses Thema.

Was ist an wissenschaftlichen Theorien abwegig?

Wissen Sie, ich habe sehr lange darüber nachgedacht, woher die Träume kommen. Für mich ist die Annahme absurd, dass mein Bewusstsein für meine Träume verantwortlich sein soll. Wozu sollte mein Gehirn meine Träume erst kunstvoll in Rätsel packen, nur damit ich sie hinterher selbst wieder entschlüssle? Das würde bedeuten, dass ich mir selbst ein Theaterstück vorspiele, um herauszufinden, dass ich gerade einen Fehler mache. Das ist mir zu absurd. Logik ist für mich immer sehr wichtig gewesen.

Wie viele Träume haben Sie eigentlich im Laufe der Jahre gesammelt?

65 Ordner mit Tausenden unterschiedlicher Traummotive. In den siebziger Jahren habe ich angefangen, mir systematisch Notizen zu machen, um die Träume für meine Forschungsarbeit nutzen zu können.

Wie ist das für Sie, wenn Sie diese Aufzeichnungen heute wieder lesen?

Ich kann meine Entwicklung gut nachvollziehen. Dabei ist vor allem Demut entstanden, weil es sehr lange dauert, um eine in der Kindheit angenommene Schutzhaltung abzulegen. Ich habe lange gebraucht, bis ich mit meinen Gefühlen vertrauter geworden bin; und auf diesem Weg haben mich meine Träume liebevoll begleitet.

Zur Person

Ortrud Grön gilt als eine der angesehensten Traumtherapeutinnen Deutschlands. Sie begreift Träume als Weg zur Selbsterkenntnis und Selbsthilfe. Die bis heute praktizierende Psychotherapeutin sagt: "Träume sind Botschaften, die Konflikte sichtbar machen."

Ortrud Grön wurde 1925 in Berlin geboren. Ihr Vater war überzeugter Nationalsozialist und bis 1933 Stellvertreter von Goebbels. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er zum Oberbürgermeister von Görlitz ernannt. 1948 wurde er in Görlitz wegen seiner Rolle im Dritten Reich hingerichtet. Ortrud Grön floh nach dem Krieg aus der sowjetischen Besatzungszone nach Hamburg. Dort lernte sie ihren späteren Mann, den Juristen und Landwirt Rudolf Grön, kennen. 1952 heiratete sie und lernte die Lauterbacher Mühle in der Nähe des Starnberger Sees kennen, die Ortrud Grön zu einer psychosomatischen Klinik für Herz- und Kreislaufbeschwerden ausbaute. Zur Traumarbeit kam Ortrud Grön durch den Psychotherapeuten, Zen-Meister und Schriftsteller Karlfried Graf Dürckheim. Er machte sie auf die Botschaft der Träume aufmerksam.

Seit über 40 Jahren erforscht Ortrud Grön systematisch die menschliche Traumwelt. In der von ihr mitbegründeten Bayerischen Akademie für Gesundheit hält Ortrud Grön bis heute regelmäßig Traumseminare ab und bildet Ärzte sowie Therapeuten in Traumarbeit aus. Ortrud Grön hat mehrere wissenschaftliche Bücher über Träume verfasst. Zuletzt ist von ihr das Buch "Ich habe einen Traum. Was hat er zu bedeuten" im Ludwig-Verlag erschienen. Erhältlich ist außerdem die DVD "Dem Traum des Lebens auf der Spur" und ihr Lehrbuch "Pflück dir den Traum vom Baum der Erkenntnis - Träume im Spiegel von Naturgesetzen", ehp Verlag 2007, sowie eine Sammlung mit Traumtexten, "Leben ist eine Kuh, die dauernd ihr Euter füllt", ehp 2008.

Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin und Coach in München. Zuletzt ist von ihr (gemeinsam mit Andreas Wirthensohn) das Buch "Keine Zeit zum Älterwerden. 16 Porträts von aktiven Menschen" (Verlag Knesebeck) erschienen.