"Wiener Zeitung": In Ihrer Biografie ist zu lesen, dass Sie im Jahr 1944 in Paterson, New Jersey, geboren wurden. Dort hatte der Arzt und Dichter William Carlos Williams gelebt, ein monumentales "episches Poem" namens "Paterson" geschrieben, und Allen Ginsberg verbrachte dort seine Jugendjahre.Gordon Ball: Aber schon nach neun Monaten in New Jersey zog meine Familie nach West Virginia. Dann folgt eine etwas komplizierte Geschichte. Mein Vater arbeitete für eine New Yorker Bank, kehrte nach China zurück, wo meine Familie schon vorher gelebt hatte. Ab 1926 war mein Vater in Schanghai tätig gewesen, später in Bejing und Kanton. Als die Japaner China überfielen, war er in Schanghai. Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder waren vorher in die USA zurückgekehrt. Die Japaner besetzten Schanghai, mein Vater war ein Jahr lang unter Hausarrest, danach sieben Monate lang in einem Konzentrationslager. Ende 1943 wurde er durch einen Austausch von Kriegsgefangenen freigelassen, kam in die USA, ein Jahr später wurde ich geboren.
Aber 1946 wurde er wieder nach China gesandt. Er blieb dort bis 1949, als er mit dem vorletzten Flugzeug ausreiste, bevor Maos Truppen Schanghai einnahmen. Der Flug ging nach Tokio, und die Familie traf meinen Vater dort im Jahr 1950. Zwölf Jahre später reiste ich von Tokio in die USA, um am Davidson College (North Carolina) zu studieren.
Ihr Buch "’66 Frames" erschien 1999. Beschreiben Sie darin Ihr Leben im Jahr 1966?
1966, und das Jahr 1967.
Der amerikanische Schriftsteller Andrei Codrescu schrieb über dieses Buch: "Gordon Ball schreibt mit Mitgefühl und Nos-talgie über eine einzigartige und kaum mehr beschreibbare Epoche." Wie lässt sich die Bemerkung verstehen?
Es ist etwas komisch, weil über die 1960er Jahre schon so viel geschrieben wurde, eben auch, um sie zu erklären, um neue Einsichten zu gewinnen.
Ist "’66 Frames" ein Prosawerk?
Eine chronologische, autobiografische Erzählung.
Wie lebten Sie damals in New York?
Ich hatte zuvor Davidson College abgeschlossen. Im Frühling des letzten Jahres lud ich den Filmemacher Jonas Mekas ins College ein. Dort leitete ich damals das Filmprogramm, und ein Artikel in der "New York Times" brachte mich auf die Filme von Mekas. Im Frühling traf ich ihn in New York. Dann kam er nach North Carolina, stieg aus dem Zug und überreichte mir eine Filmkamera als Geschenk, eine normale 8mm-Box-Kamera. Die beeindruckte mich ebenso wie seine Persönlichkeit und die Filme, die er vorstellte: eigene Werke und die anderer Filmkünstler. Nach dem College-Abschluss verbrachte ich den Sommer im Staat New York, im Norden. Im September war ich unterwegs nach New York City, auf der Suche nach Jonas, mit sechs Dollar in der Tasche. Ich wollte für ihn arbeiten, aber das war an sich eine Tätigkeit, die man nicht für Geld machte. Im Herbst arbeitete ich einige Monate für ihn, wurde aber bezahlt.
Als Sekretär?
Ja, ich war zuständig für alles Mögliche, ich transportierte Film-Equipment, schrieb Interviews ab, was sehr zeitaufwendig ist.
Hat dieser intensive Kontakt mit Jonas Mekas Ihr eigenes Filmemachen beeinflusst?
Jonas ermutigte mich. Als ich von North Carolina nach Norden reiste, drehte ich einen Kurzfilm. In New York zeigte ich ihm den Film, er gefiel ihm und er schrieb einen kurzen Text dazu.
Ihr Interesse gilt seit Jahrzehnten dem Experimentalfilm. Interessierten Sie sich zuerst für Filme und dann für das Schreiben von Büchern?
Nein, ich hatte vorher schon einiges geschrieben und sah mich auch als Schreibenden. Am College hatte ich einen Literaturpreis bekommen und eine gewisse Förderung durch ein bekanntes Schriftstellerpaar erfahren. Aber da ich das Film-Programm am Davidson College leitete und mit Filmen regelmäßig zu tun hatte, wurde mein Interesse am Filmen stärker, auch durch den Besuch von Jonas Mekas.
Im Winter 1966/67 erschien ein Artikel in der "New York Times" zum Thema Film und da wurde ich interviewt. Damals sagte ich "Wörter sind passé" - so etwa in dem Sinn, dass Wörter nicht mehr wirken würden und der Film spannender wäre. Aber später arbeitete ich mit beiden Me-dien, und es gibt Werke, die alles verbinden: gesprochenes Wort, bewegtes Bild und fotografisches Bild.
Sie sind Schriftsteller, Essayist, und Herausgeber mehrerer umfangreicher Tagebücher von Allen Ginsberg. Dazu kommt Ihr Werk als Filmemacher. Und seit langer Zeit unterrichten Sie Literatur . . .
. . .englische und amerikanische Literatur und Film.
Wie verbinden Sie diese Tätigkeiten?
Grundsätzlich arbeite ich fast immer, manchmal bin ich auch etwas zerstreut. Ich verbringe meine Zeit mit Bildern und mit Schreiben, und ich habe Filme gemacht, die Bilder mit geschriebenen Texten verbinden. Oder ich verbinde eine gesprochene Erzählung mit Film-Sequenzen. Auf diese Weise entstanden die Filme "Mexican Jail Footage" (1980), "Enthusiasm" (1979) - ein Film über den Tod meiner Mutter -, und "Do Poznania" (1991). Diesen Film habe ich gemacht, als ich in Polen in der Zeit von Glasnost in den 1980er Jahren unterrichtet habe.
In den Jahren 1966/67, als Sie in New York lebten, lernten Sie auch Allen Ginsberg kennen.
Ja, in der Wohnung von Panna Grady im Dakota-Gebäude am Central Park. Sie war eine ungarische Gräfin und Mäzenin, und ich wohnte dort eine gewisse Zeit, West 72. Straße. Panna gab einige große Parties, und Allen besuchte eine davon - ich beschreibe das in "’66 Frames". Aber es war ein anderes Ereignis, das zu einer näheren Bekanntschaft mit Ginsberg führte: Im März 1968, als ich von Mexiko zurückkehrte, erfuhr ich, dass Barbara Rubin, eine Freundin und Filmkünstlerin, Allen dabei half, eine Farm zu suchen. Die große Neuigkeit war aber, dass sie und Allen heiraten wollten. Meine Freundin Candy und ich erhielten das Angebot, auf dieser Farm als Hausverwalter zu leben. Innerhalb eines Monats zogen wir nach Cherry Valley, in das Zentrum des Staats New York, etwa hundert Kilometer westlich von Albany. In der Nähe liegt Cooperstown, wo sich die "Baseball Hall of Fame" befindet. Die Stadt ist nach dem Romancier James Fenimore Cooper benannt, und einige seiner Bücher beziehen sich auf diese Re-gion.
Im Jahr 2011 publizierten Sie das Buch "East Hill Farm, Seasons with Allen Ginsberg". Ist das ein Bericht über Ihre Jahre auf der dieser Farm?
Ja, es handelt von den Jahren 1968 bis 71, die ich dort verbrachte.
Nach diesen Jahren beschlossen Sie, wieder an einer Universität zu studieren, und später wurden Sie Lehrer und ordentlicher Professor.
Auch während der Jahre auf der Farm hatte ich mein Interesse an Literatur nie verloren, obwohl ich damals kein großer Leser war. Aber ich musste mir überlegen, was ich nachher tun sollte. Ich beschloss im Jahr 1971, die Farm zu verlassen, und studierte an einer Universität.
Damals gab es größere Probleme mit dem Leben auf der Farm, die Leute verstanden sich nicht mehr. Aber das hauptsächliche Problem war Peter Orlovsky (1933-2010, Anm.), der Allen Ginsbergs Lebenspartner über viele Jahre gewesen war. Orlovsky nahm viel Amphetamin und verhielt sich manisch. Damals tauchte auf der Farm eine junge Frau auf, wurde seine Freundin, und sie hatte einen besänftigenden Einfluss auf seine Sucht. Ich sah, dass er wieder mit den Füßen am Boden gelandet war. Da war meine Tätigkeit als Hausverwalter oder Farm-Manager nicht mehr notwendig, und ich verließ die Farm nach drei Jahren.
Im Frühling 1971 traf Ginsberg Vorbereitungen für eine große Lese-Reise durch die USA. Er fragte mich, ob ich für ihn arbeiten wollte, als Sekretär und "Road Manager" (lacht). Ich begleitete ihn auf dieser Tour, die bis an die Westküste, nach Kalifornien führte. Während der Lesungen und Gespräche machte ich Tonband-Aufnahmen in Hörsälen und während informeller Diskussionen mit Studenten. Nach einigen Jahren wurde aus diesen vielen Aufnahmen ein Buch: "Allen Verbatim" (Allen wörtlich), das ich 1974 veröffentlichte.
Wie kamen Sie dazu, Ginsbergs frühe Tagebücher zu bearbeiten?
Schon während der Zeit auf der Farm begann ich, seine Aufzeichnungen aufzuarbeiten, aber das geschah nicht kontinuierlich. Es gab dort zu viel Arbeit, um die ich mich kümmern musste.
Ich habe jetzt in den "Journals Early Fifties Early Sixties" wieder Ihr Vorwort und die lange Einleitung gelesen. Sie beschreiben, dass dieses umfangreiche Buch aus achtzehn Notizbüchern mit handschriftlichen Aufzeichnungen seit 1952 zusammengefasst wurde. Dazu benötigt man Zeit.
Ja, sehr viel Zeit. Ich hatte auch viele Fragen an Allen, die nur er beantworten konnte. Aber ich hatte das Glück, ihn fragen zu können, als er noch lebte.
Im Jahr 1974 gründeten Allen Ginsberg und die junge New Yorker Dichterin Anne Waldman die erste Sommer-Akademie für Literatur am damaligen Naropa-Institut in Boulder, Colorado. Die Einladung dazu kam durch den Gründer von Naropa, den exilierten tibetischen Lama Chögyam Trungpa. Was bedeutete dieser Wechsel nach Boulder im Leben Ginsbergs?
Als Lehrender für Poetik und Literatur in Boulder nahm er diese Einladung sehr ernst. Er verlangte nicht einmal ein Honorar, seine Wohnung wurde von Trungpa bezahlt. Ginsberg lebte sehr bescheiden.
Und später wurde er Professor für Literatur in Brooklyn, New York.
Ja, er war ein sogenannter "ordentlicher Professor" bis zu seinem Tod.
Ihre Freundschaft mit Allen Ginsberg bestand demnach über viele Jahre?
Nachdem ich die Farm im Frühling 1971 verlassen hatte, blieben wir weiterhin in Kontakt. Ich reiste oft nach New York, um ihn zu treffen. In den späteren Jahren fotografierten wir uns öfter gegenseitig.
Hatte sein literarisches Werk Einfluss auf Ihre eigene Arbeit als Schriftsteller?
Zum Teil sehr. Einerseits hielt ich seine Prosa-Werke für sehr gut. Als ich die Tagebücher bearbeitete und herausgab, beschrieb ich das in den Einleitungen. Ginsberg ist ein sehr guter Stilist, seine Prosa ist verdichtet, enthält kondensierte Beobachtungen und viele Überraschungen, wie auch seine Lyrik. Das ist ein großer Wert.
Als Sie sich später Ihren eigenen Büchern widmeten, hatten Sie da das Gefühl, Sie müssten sich von Allen Ginsbergs Einfluss befreien, von seinem modernen Stil, der zugleich avantgardistisch und romantisch ist?
Nein, das geschah nicht bewusst oder mit bestimmter Absicht. Ich hatte auch andere literarische Eindrücke. In meinem Buch "Dark Music" (Prosa-Gedichte) beziehe ich mich in der Einleitung auf einen frühen Einfluss, nämlich auf den von James Joyce. Der war, was das Schreiben betrifft, schon wichtig, als meine Freundschaft mit Ginsberg noch nicht bestand.
Allens Werk hatte allerdings einen starken Einfluss auf mein Werk über einen längeren Zeitraum. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich diese Wirkung bewusst unterdrücken müsste.
Hat Ginsberg Sie unterstützt, was Ihr eigenes Werk betrifft, Ihre Filme oder Ihr Schreiben?
Teilweise. Er schrieb einen Kurztext über meinen Film "Enthusiasm", in dem er mich ermutigte. Während der Zeit auf der Farm war er nicht immer angetan von dem, was ich filmte. Das beschreibe ich im Buch "East Hill Farm". Als er den Film "Mexican Jail Footage" sah, sagte er - das war etwa 1981 - "Ich wünschte, Reagan könnte das sehen!" Reagan war damals Präsident der USA. Meine eigenen Texte zeigte ich ihm nur selten. Ich hatte eine Sammlung von Kurzgeschichten, die mit meiner Jugend in Tokio zu tun hatten. Er wollte sie lesen, aber damals war ich zu schüchtern, um sie ihm zu geben. Aber das war in späteren Jahren.
Sie besuchen jetzt zum ersten Mal Österreich. Ihr früherer Student, der steirische Künstler Josef Schützenhöfer, hat ein größeres Projekt in der Oststeiermark initiiert, das seit Jahren läuft. Was planen Sie dabei?
Es ist ein Projekt, das als "Liberation Arts Project" bezeichnet wird. Es geht dabei darum, amerikanische Piloten zu ehren, die 1943/44 mit ihren großen Bombern in der Oststeiermark abgestürzt sind. Es handelt sich um mindestens drei große Flugzeuge, aber es waren mehr. Die Mannschaften umfassten acht bis elf Personen. Die meisten Insassen starben während des Absturzes, aber nicht alle.
Josef Schützenhöfer beschäftigt sich seit Jahren mit diesen Denkmälern der großen Kriege. Da gibt es die Denkmäler für die Toten von 1914-1918, und dann für 1939-1945. Aber es gibt dort kein Denkmal für die amerikanischen Opfer, die damals mit den Bombern abstürzten und starben.
Jahrzehnte später versuchte Josef, ein Denkmal für die toten Piloten zu installieren, auch mit anderen Künstlern. Die Reaktion der Gemeinde war generell negativ. Die Leute dort wollen das nicht, und es gab beim ersten Denkmal einige Versuche, es zu zerstören. In Graz hat Herbert Nichols-Schweiger vor zwei Jahren ein Buch darüber veröffentlicht. ("Liberation in Progress". Ein Projekt von Josef Schützenhöfer und Klaus Zeyringer, Leykam Verlag, Anm.) Es ist eine neue Auflage geplant, Herbert will eine neue Einführung schreiben, die auch mit meinem Besuch zu tun hat. In diesem Sinn arbeiten Josef und ich jetzt gemeinsam. Er wird mir die Orte zeigen, wo die amerikanischen Bomber abgestürzt sind, und das neue Denkmal in Pöllau.
Bernhard Widder, geboren 1955, lebt in Wien und arbeitet als freier Schriftsteller, Lyriker, Essayist, Übersetzer und Architekt.
Zur Person
Gordon Ball, geboren 1944 in New Jersey, verlebte seine Kindheit und Jugend in West Virginia und in Tokio. Er studierte in North Carolina, und unterrichtet seit 1975 Literatur und Film. Seit 1993 ist er Professor am Virginia Military Institute in Lexington, Virginia.
Gordon Balls Fotografien zur "Beat Generation" wurden seit 1994 in zahlreichen Ausstellungen gezeigt und in Bildbänden publiziert. Er hat seit 1966 vierzehn experimentelle Filme gedreht, die unter anderem in New York am Museum of Modern Art, dem Guggenheim Museum und den Anthology Film Archives und auch international gezeigt wurden.
Gordon Ball ist seit 1974 der Herausgeber von Werken Allen Ginsbergs:
"Allen Verbatim: Lectures on Poetry, Politics, Consciousness" ("Allen wörtlich", 1974);
"Journals Early Fifties Early Sixties" (1977, erschien 1980 auf deutsch: "Allen Ginsbergs Notizbücher"); "Journals Mid-Fifties, l954-l958" (1995).
Zu seinen literarischen Werken zählen die Bücher: "’66 Frames: A Memoir" (1999); "Dark Music" (2006); "East Hill Farm: Seasons with Allen Ginsberg" (2011).
Im Juni 2014 besuchte Gordon Ball Wien und die Steiermark auf Einladung des Künstlers Josef Schützenhöfer ("Liberation Arts Project", Pöllau), Walter Famler (Kunstverein Alte Schmiede Wien) und der "Schule für Dichtung". Am 24. Juni stellte Ball in Wien seine Bücher vor und zeigte den Film "Mexican Jail Footage" (1980), der auf seinem Aufenthalt in einem mexikanischen Gefängnis im März 1968 basiert. Im Rahmen dieses Besuches wurde auch dieses Interview geführt.