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"Der tragische Held geht vielen Jugendlichen nahe"

Von Kerstin Kellermann

Reflexionen
Von den Gespenstern der Vergangenheit nicht überwältigt, sondern ihnen mit forschendem Interesse entgegen getreten: Andreas Peham.
© Foto: Christof Moderbacher

"Wiener Zeitung": Herr Peham, können Sie sich an das Ereignis erinnern, das Ihr Engagement gegen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus auslöste?

Andreas Peham: Das war schon sehr früh, ungefähr mit 14 Jahren. Ich bin acht Kilometer entfernt vom ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen aufgewachsen. Was aber in Mauthausen passiert ist, war zugedeckt und kein Thema, ein Tabu. Es gab damals zwar schon vereinzelte Lehrer, die das Schweigegebot durchbrochen haben, aber aufgrund der räumlichen Nähe war dieser Skandal des Verschweigens für uns Jugendliche noch größer. Wie das oft ist unter Jugendlichen, wurden wir von unserem Gespür angeleitet: Da muss etwas sein, worüber nicht gesprochen wird. Es machte uns neugierig, in welcher Weise nicht berichtet wird. Teil unserer Politisierung war es dann, uns kollektiv dieses Wissen über Mauthausen und den Nationalsozialismus anzueignen. Wir verspürten Wut gegenüber den Erwachsenen, dass sie uns so ein wichtiges, zentrales Wissen vorenthalten haben, und damit bin ich bei der adoleszenten Auflehnung gegen die Erwachsenenwelt. Seit damals bin ich an dem Thema dran geblieben.

Haben Ihnen die Eltern keine Kinderbücher gegeben? Meine Mutter schenkte mir "Jack handelt für alle" von Janus Korczak oder "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" von Judith Kerr . . .

Ich möchte meinen Eltern persönlich keinen Vorwurf machen.

Sie haben einmal erzählt, dass Sie einen "schweigenden Opa" im Kinderzimmer hatten.

Räumlich bin ich auf Distanz zum Großvater aufgewachsen, was ich aber in Erinnerung habe, ist, dass er sich durch Nicht-Sprechen auszeichnete. Dieses Schweigen über das, was er als junger Mann mutmaßlich an Verbrechen im nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg im Osten gesehen hat, dehnte sich dann immer weiter aus. Auf das Private, auf das Politische. . . Bei vielen aus dieser Generation der Großväter und Großmütter herrschte eine leidenschaftliche, fast hysterische Zustimmung zum nationalsozialistischen Programm vor, eine abgöttische, beinahe fanatische Verklärung des Führers in der Zeit seiner Erfolge, und dann eben, ab 1943 oder spätestens ab 1945 die totale Enttäuschung, die dazu führt, dass die ganze seelische Energie, die dem Führer geschenkt wurde, komplett abgezogen wird von allem Politischen. Wenn man einmal so "enttäuscht" wurde, hörte man überhaupt auf, über Politik zu sprechen. Ausgehend von der Tabuisierung des Nationalsozialismus wurde Politik dann überhaupt zum Tabu in den Familien, es herrschte Resigna- tion und komplette Apathie vor.

Kann es sein, dass Ihr Opa so viele Tote gesehen hat und deswegen nicht mehr reden wollte? War er enttäuscht von der Menschheit?

Das ist eine Vermutung, der ich leider nicht mehr nachgehen kann, weil er tot ist. Diejenigen, die nach 1945 in diesen Kameradschaftsverbänden eingebunden blieben, waren insofern besser dran, weil sie sich gegenseitig Illusionen aufrechterhielten, ihre Geschichten von Heldenhaftigkeit. Die anderen zogen sich zurück. Die Traditionsverbände boten Schutzräume vor der Verantwortung, vor der Schuldeinsicht, dass der Vernichtungs- und Angriffskrieg barbarisch und ein Verbrechen war.

Die Oma hat nicht dagegen aufbegehrt, dass ihr Mann nichts redet?

Nein, man gewöhnt sich auch an so etwas. Er ist wirklich schweigend gestorben.

Wie war Ihr Gefühl als Kind? Sie konnten ja nicht wissen, dass es einen Zusammenhang zum Krieg gibt.

Mein Großvater war mir unheimlich, er war rätselhaft und unnahbar. Wir hatten eher Angst. Ich könnte es nicht genau benennen, welchen Inhalt diese Angst hatte, aber geheuer war uns dieses Schweigen nicht. Wir Kinder haben immer wieder seine Grenzen überschritten, aber er reagierte auch gegenüber Kindern nicht. Völlig emotionslos und apathisch. Schweigend.

Ich habe als Jugendliche in Kärnten viele Widerstandskämpferinnen kennen gelernt und die waren für mich total wichtig - quasi wie Götter. Als Jugendlicher denkt man gerne in den Kategorien schwarz/weiß.

Jugendliche haben ein extremes Faible für alte Leute und ihre Erzählungen - bis heute merke ich das. Wir haben in der Schülerzeitung Interviews rund um Mauthausen gemacht. Bei der "Mühlviertler Hasenjagd" versteckte eine Bäurin gegen den Widerstand ihres Mannes zwei geflohene sowjetische Gefangene, fast die einzigen, die das Abschlachten überlebt haben. Die übrigen rund 500 Geflohenen sind erschlagen und niedergemetzelt worden und auch gleich verscharrt vor Ort. Auf jeden Fall sind wir mit 14, 15 Jahren zu der damals noch lebenden Zeitzeugin hingefahren und machten ein Interview für die Schülerzeitung.

Auch die Befreiungsfeiern in Mauthausen waren ganz wichtig im Alter ab 14 Jahren. Sich selbst einzureihen in diese Generationenabfolge. Welches Gefühl und welche Kraft uns das gegeben hat, uns Jungen - vorne gehen die Überlebenden und Delegationen, stellen sich dann auf und am Schluss kommen die Junggruppen herein, SJ, KJÖ. Ein Meer von roten Fahnen, und alle singen die "Moorsoldaten" gemeinsam und ziehen auf den Appellplatz. Am Rande stehen die Überlebenden und klatschen und halten die Faust in die Höhe und man erlebt das als Jugendlicher extrem aufwertend. Also das wurde zum Sinn meines Lebens: Diese Hoffnung, die die Überlebenden in uns steckten, dieses "Nie wieder!", das an uns delegiert wurde, das sie damals geschworen hatten und von dem sie hofften, dass wir diesen Schwur übernehmen.


Gab es auch Widerstand in Ihrer Familie?

Es gibt zwar mütterlicherseits Widerstands-Traditionen und Gestapo-Haft, aber auch da gab es kaum Erzählungen. Mein anderer Großvater war bis zum Schluss Kommunist. Der hat versucht, in sowjetischer Gefangenschaft befindliche österreichische Wehrmachtsoldaten umzuerziehen. Es war eine Propagandatätigkeit in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. Die Oma war viel jünger, Jahrgang 1928. Die hat den Nationalsozialismus als Jugendliche kennen gelernt und als einzige wirklich gerne und viel gesprochen. Sie erzählte vom Arbeitszwang in Rüstungsfabriken für Jugendliche, der Angst vor Bomben und den Todesmärschen von ungarischen Juden von Ost nach West Richtung Mauthausen, die sie mitgekriegt hat. Böswillig könnte man von der Kartoffel-Legende sprechen, denn es gibt in Oberösterreich oder Niederösterreich kaum ältere Leute, die nicht behaupten, dass sie unter höchster Gefahr - denn wenn die bewachende SS das gesehen hätte, hätte sie gleich geschossen - Kartoffeln zugesteckt hätten. Meine Oma hatte aber eine grundlegende Menschlichkeit und Mitgefühl: "Wenn du angesichts dieser Todesmärsche siehst, wie Leute leiden" - ihr mag ich es glauben, dass sie es wirklich gesehen und ihnen Kartoffeln zugesteckt hat.

Wie sieht die Hauptverbindung zwischen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus aus? Oder sind das für Sie völlig getrennte Themenbereiche?

Ich bin ein Anhänger der Kontinuitätsthese, wonach sehr viele der Probleme, die wir heute mit dem Rechtsextremismus haben, mit dem Fortwesen, dem Weiterleben des Nationalsozialismus zu tun haben, nicht nur mit dem Nationalsozialismus an sich, sondern auch einzelner Elemente. Es besteht eine Beziehung in diesem Sinne, dass die Nichtbearbeitung des Nationalsozialismus, seine Verdrängung, seine Tabuisierung den Rechtsextremismus begünstigt hat. Der Ausdruck "Neonazis" ist etwas irreführend, denn das waren zum Teil welche, die schon vor 1945 Nazis und nach 1945 etwas vorsichtiger waren - Stichwort Verbotsgesetz -, aber doch weiterhin Nazis blieben. Und die gaben, wie es im Milieu heißt, das Schwert oder die Flamme an die nächste Generation weiter.

Ranghöchster Neonazi war der vor ein paar Jahren verstorbene Herbert Schweiger. Sein Rang innerhalb der Neonazi-Szene leitete sich von der Tatsache ab, dass er schon in der "Leibstandarte Adolf Hitler" diente. Ich habe bei einer "Heldenehrung" in Niederösterreich mit eigenen Augen gesehen, dass zwölf- oder dreizehnjährige vor Ehrfurcht erschaudern. Jugendliche, die du normalerweise als Gruppe nicht ruhig an einem Ort halten kannst. Skinheads, die plötzlich stramm stehen, und mit großen Augen Herbert Schweiger anstarren, der am Stock kommt, und von der glorrreichen NS-Zeit erzählt. Die fast Tränen in den Augen haben.

"Die Generation der Großväter ist geschlagen worden, Das sind die gefallenen Helden. Das ist für den Rechtsextremismus ganz wichtig, das Stehenbleiben auf verlorenem Posten." Andreas Peham
© Foto: Christof Moderbacher

Welche Sehnsucht nach einer bestimmten Männlichkeit, nämlich einer soldatischen Männlichkeit, sich ausdrückt in dieser Begeisterung der Jugendlichen gegenüber den alten Nazis! 2002 am Heldenplatz sah ich wieder sehr junge, ungefähr Dreizehnjährige mit dementsprechendem Gesichtsausdruck, und mit Schildern, die sie nicht selber gemacht, aber gerne getragen und hochgehalten haben, auf denen Wehrmachtssoldaten zu sehen waren und geschrieben stand: "Mein Großvater war kein Verbrecher".

Es klingt jetzt so, als ob der Rechtsextremismus eine jugendliche Tradition wäre, und mit Emotionen und Sehnsucht zu tun hätte, denn viele dieser NS-Täter waren ja ebenfalls Jugendliche, als sie in den Reichsarbeitsdienst oder in die Wehrmacht gekommen sind.

Unbedingt. Ich würde auch sagen, dass die Bindung an die "Erlebnisgeneration", wie sie im Nazi-Milieu heißt, eine ganz tiefe emotionale Bindung ist.

Worum geht es? Welches Erlebnis? Ist "das" Erlebnis - ist damit also der Tod gemeint?

Zur männlichen Adoleszenz gehört vor allem eine Phase, in der der Tod und die Zerstückelung eine große Rolle spielen! Der Körper verändert sich rasant und das Unbewusste kommt mit dieser Entwicklung nicht mit, die Psyche hinkt diesen rasanten Veränderungen hinterher und reagiert sozusagen phobisch: mit starken Ängsten vor Verstümmelung, vor dem Tod. Das sind irrationale Ängste der Adoleszenz, die mit den rasanten körperlichen Veränderungen zusammenhängen.

Man kennt sich selber nicht mehr?

Man wird sich selber fremd und darum auch diese oftmalige affektive Bindung an äußere Fremdheit. In kaum einer anderen Lebensphase sind die Menschen dem Fremden gegenüber positiv und vor allem negativ anfälliger - weil es eben auch um eine Möglichkeit der Verarbeitung der eigenen inneren Fremdheit geht.

Was die großen, feuchten Augen angesichts der Kriegsversehrten betrifft - diese Männer personalisieren auch eine Figur, die Jugendlichen sehr nahe steht: der tragische Held. Die Generation der Großväter ist geschlagen worden, nicht in der Familie, sondern im Krieg. Das sind die gefallenen Helden. Das ist für den Rechtsex-tremismus ganz wichtig, diese Pose, das Stehenbleibens auf verlorenem Posten. Diese Bereitschaft mit dem üblichen Pathos, sehenden Auges, erhobenen Hauptes in den Untergang zu gehen.


Ist das nicht auch etwas Jugendliches? Denn eigentlich haben Jugendliche gegen die Eltern wenig Chancen, sie rebellieren zwar, aber sie haben weder Macht noch Geld.

Genau, Jugendliche haben Ohnmachtsgefühle, Todessehnsucht, irrsinnig viele Ängste und dieser Kontakt mit diesen Besiegten, aber immerhin noch Helden, gibt ihnen offensichtlich emotional sehr viel.

Was glauben Sie, ist das mehr Zufall, ob man mit Widerstandskämpfern zu tun hat oder mit Altnazis?

Nein, das ist kein Zufall. Das hängt von Stadt oder Land ab, davon, wo man lebt. Am Land ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer, auf Überlebende, auf Widerstandskämpfer zu treffen - außer in Kärnten mit seinen slowenischen Traditionen. Dementsprechend haben wir auch, was den Rechtsextremismus, den Antisemitismus, den Rassismus betrifft, ein ganz starkes Stadt-Land-Gefälle. Viel Antisemitismus am Land, deutlich weniger in der Stadt, aber auch in den Schulen ist ein Gefälle dabei zu verzeichnen, welcher Stellenwert der Zeitgeschichte und der Holocaust-Memory-Arbeit zukommt.

Europaweit ist es ein Unterschied, ob man hier lebt oder in einem Land wie Frankreich oder Italien, wo der Widerstand Staatsraison ist, bis hin zur Rechten. Umberto Bossi von der Lega Nord erklärte einmal in den 90er Jahren auf die Frage, warum er mit Haider nichts zu tun haben will: "Haider ist das Kind von Nazis, wir sind die Kinder von Partisanen". Die italienischen Rechtspopulisten versuchen immer, sich auch positiv auf diesen Widerstand zu beziehen, während in Österreich - Stichwort "Vaterlandsverräter" - der Widerstand, vor allem ab 1955, herunter gemacht wird. Kaum hatte man den Staatsvertrag in der Tasche, kaum hatten die Alliierten ihr Versprechen wahr gemacht und Österreich in die Unabhängigkeit entlassen. Das war übrigens auch ein wichtiger Grund für die Gründung des DÖW, dass man es sich nicht gefallen lassen wollte, als "Vaterlandsverräter" bezeichnet zu werden, an den Rand gedrängt, vergessen und beschimpft zu werden.

Kerstin Kellermann lebt in Wien und arbeitet als freie Journalistin für Zeitungen und Zeitschriften, vor allem für das Musikmagazin "skug". Vor kurzem hat sie ein Festival zur jüdischen Musik der zweiten und dritten Generation nach der Shoah kuratiert.

Zur Person
Andreas Peham, geboren 1967, studierte von 1990 bis 2000 Politikwissenschaften an der Universität Wien. Seit 1996 ist er als Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) tätig, mit den Forschungsschwerpunkten Rechtsextremismus, Neonazismus unter Jugendlichen, Burschenschaften, Antisemitismus und Rassismus, Holocaust-Education.

Er betreut außerdem die 1995 gegründete Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich. Peham war langjähriger Berichterstatter für das Stephen Roth Institut für die Erforschung des zeitgenössischen Antisemitismus und Rassismus an der Universität Tel Aviv und arbeitete als Redakteur und Autor des Wiener Magazins "Context XXI".

Seit Ende der 1990er Jahre ist Peham zudem in der Lehrerfortbildung und im Rahmen der politischen Bildung an Schulen tätig, seine Schwerpunkte sind Rassismus und Antisemitismus, Adoleszenz und pathologische Gruppenbildungen.

2007 legte er (unter dem Autorennamen Heribert Schiedel) eine Studie über den Rechtsextremismus in Österreich unter dem Titel "Der rechte Rand" (Edition Steinbauer) vor. In seiner Monografie "Ex-treme Rechte in Europa" (Edition Steinbauer, 2011) schildert Peham die personellen und inhaltlichen Vernetzungen europäischer Rechtsextremer.