
"Wiener Zeitung": Herr Schlage, nehmen wir an, ich komme zu Ihnen in Therapie - verleiht es mir einen Startvorteil, vorher beim Ahnenforscher gewesen zu sein?
Bernhard Schlage: Ich möchte Ihnen diese Frage mit einer Geschichte über die neuseeländischen Maori beantworten. Für die Maori steht am Anfang jeder seelischen Unterstützung immer die Beantwortung der Frage, ob der Betroffene die Personen der letzten vier Generationen seiner Familie kennt - andernfalls gehen sie bereits von einer psychischen Instabilität des Hilfesuchenden aus. Ich würde natürlich nicht jeden automatisch zum Ahnenforscher schicken, aber wenn anamnestisch der Eindruck entsteht, dass ein Klient stark vorbelastet oder seine Persönlichkeit seelisch mit Themen aus der Herkunftsfamilie überlagert worden ist, kann das sehr sinnvoll sein!
Erklären Sie mir das mit den Maori doch gleich noch ein bisschen genauer: Was muss man über seine vergangenen vier Generationen wissen, um gesund zu sein? Ich nehme an Name und Geburtsdatum werden da nicht reichen . . .
Nein, für die Maori umfasst dieses Wissen in der Tat viel mehr als den Namen, zum Beispiel die Rolle im Stamm, Beruf oder Begabungen der Vorfahren, et cetera ... Ihre Frage hört sich - wie für uns Westler typisch - staunend an. In der heutigen Zeit wissen zivilisierte Großstadtbewohner oft nicht einmal mehr Details aus dem Leben der Großeltern und können sich gar nicht vorstellen, eine Erinnerung über mehrere Generationen zu hüten. Und folgerichtig gelten die durchschnittlichen Großstadtbewohner gemäß einer aktuellen Studie der WHO auch als deutlich höher gefährdet, an einer Depression zu erkranken. Viele meiner Klienten sind überrascht, wenn ich ihnen davon erzähle, dass es Kulturen gibt, in denen kein Weltkrieg die Ahnengeschichte unterbricht. Die Maori beginnen ihre therapeutisch-seelische Arbeit immer damit, die Ahnen-Erinnerung wiederherzustellen. Da sie natürlich keine Genealogien haben, tun sie dies mithilfe verwandter Sippenmitglieder und in Form von Trance-Reisen zu ihrer seelischen Familie - ein nicht vorstellbares Vorgehen für uns rationale Westler.
Trance-Reisen sind im Westen tatsächlich nicht jedermanns Sache, könnte Stammbaum-Arbeit da möglicherweise wirklich ein "westliches Pendant" für die Suche nach den eigenen Wurzeln darstellen?
Ja, aber nur wenn sie Ihren Stammbaum eben nicht als reines Skelett aus Daten und Fakten auffassen, sondern sich stattdessen ins "Fleisch" der Genealogie begeben. Das bedeutet konkret gesagt, sich mit dem sozialen Hintergrund der eigenen Vorfahren vertraut zu machen. Dabei geht es darum, einen anderen Zugang zum eigenen Leiden bzw. einem seelischen Symptom zu finden, oder vielleicht sogar festzustellen: Das ist ja gar nicht mein Thema, sondern ich übernehme hier etwas, das eigentlich meinen Großvater betroffen hat. Sobald eine Person dies erkannt hat, kann die unbewusste Suche zu einem Ende kommen.
Haben Sie selbst schon einmal einen Klienten zum Ahnenforscher geschickt?
Nein, aber die Leute haben von selbst begonnen nachzuforschen. In der Regel ging es dabei um die Rekonstruktion einer möglichen Beteiligung der väterlichen Linien an Kriegsgeschehnissen oder familiären Belastungen durch Flucht und Vertreibung. Hierzu gibt es in Deutschland eine Behörde, die Auskunft über die Funktionen früherer Wehrmachtmitglieder erteilt. Ich leite die Klienten also eher an, sich entsprechend zu informieren. Unter www.dd-wast.de gibt es Auskünfte über Dienstgrade, Aufenthaltsorte und Kriegsbeteiligungen von Angehörigen in den beiden europäisch Weltkriegen. Auch die Befragung noch lebender Angehöriger ist möglich sowie die Einsicht in Chroniken, die in den letzten Jahren von immer mehr Orten erstellt wurden. Das mühsame Recherchieren via Geburtsurkunde oder Standesamt, das meine eigenen genealogischen Studien in den achtziger Jahren noch begleitet hat, entfällt ja immer mehr, da Registerauszüge und Kirchenbücher zunehmend digital zur Verfügung gestellt werden.
Viele Leute werden die Weitergabe von Generationenthemen oder Konflikten vermutlich als Hokuspokus abtun. Gibt es ein Beispiel aus Ihrer Praxis?
Ich hatte vor einigen Jahren einmal einen jungen Mann, Anfang 20, bei mir in der Praxis, der immer wieder denselben Albtraum hatte, nämlich, dass er von einer Gestalt mit Maschinenpistole verfolgt wird. Dieser junge Mann war weder beim Heer gewesen, noch gab es sonst irgendeinen Anlass zu glauben, er hätte eine derartige Gewalterfahrung in der Realität gemacht. Also habe ich ihm empfohlen, sich von einem Genealogen, der auf Militärgeschichte spezialisiert war, die Kriegsbeteiligung seines Vaters und Großvaters möglichst genau rekonstruieren zu lassen. Der Großvater war verstorben, der Kontakt zum Vater nicht so gut, also gab es nur diesen Weg. Dabei stellte sich tatsächlich heraus, dass sowohl der Vater, als auch der Großvater, nicht nur im Ersten und Zweiten Weltkrieg kämpfen mussten, sondern dabei auch im Frontdienst eingesetzt waren. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass beide einer ähnlich realen Bedrohung ausgesetzt waren, wie sie mein Klient immer im Traum vor Augen hatte. Der Genealoge konnte zum Glück noch weitere Details über die Einsätze der beiden "Ahnen" herausfinden, etwa wo sie wann stationiert waren - allein diese unmittelbare Betrachtung der Geschehnisse entlastete den jungen Mann so sehr, dass seine Albträume verschwanden. Dieser Mann ist aber kein Einzelfall, so etwas passiert immer wieder.