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"Kein Verbrechen ist ganz schlüssig erklärbar"

Von Christine Dobretsberger

Reflexionen

Die Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner über allzu große mediale Plattformen für Täter, das Wahrheitsbedürfnis der Angehörigen von Opfern, die wirksamste Prävention von Verbrechen - und über haltlose Spekulationen im Falle des "Selbstmord"-Flugzeug-Copiloten.


"Wiener Zeitung": Frau Kastner, Irrsinnstaten haben Hochkonjunktur. Menschen werden vor laufender Kamera von IS-Terroristen enthauptet, auch steht nicht zum ersten Mal ein Pilot unter Verdacht, ein Flugzeug mit Absicht zum Absturz gebracht zu haben. Sie befassen sich seit vielen Jahren mit Tätern und ihren Motiven. Nimmt der Wahnsinn zu oder ist man aufgrund der medialen Berichterstattung nur besser informiert?Heidi Kastner: Aufgrund der Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung partizipieren wir in einem ungleich höheren Maß am globalen Wahnsinn, als wir das früher getan haben. Wobei sich oft die Frage stellt: Welche Relevanz haben diese Meldungen für das Publikum, dem sie zugedacht sind? Ich denke nicht, dass der Wahnsinn zugenommen hat, nur die Berichterstattung darüber.

Wie bewerten Sie generell die Tatsache, dass Tätern diese Bühne der Aufmerksamkeit geschenkt wird?

Problematisch. Täter weisen oft narzisstische Persönlichkeitsanteile auf und genießen die Plattform, die sie bekommen. Es werden Sammelmappen angelegt mit den Artikeln, in denen sie erwähnt werden. Gerade Amokläufern geht es oft explizit um dieses Wahrgenommen-Werden. Wenn der Amokläufer von Emsdetten ankündigte: "Ich will, dass sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt", dann ist die Frage, warum man ihm diese narzisstische Gratifikation zuteil werden lässt? Man könnte die Täter auch anonymisieren und ihnen diese Plattform nicht bieten. Und somit allen Epigonen vermitteln, dass man sich mit solch einer Tat medial nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit katapultieren kann.

Aus der Perspektive der Angehörigen von Terror- oder Unglücksopfern stellt sich die Frage, ob das berühmte Zitat von Ingeborg Bachmann, wonach die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist, noch zutreffend ist?

Die Wahrheit ist dem Angehörigen nicht nur zumutbar, man ist sie ihm schuldig. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, die Hintergründe über ein Geschehnis zu erfahren, in verstärktem Maße, wenn uns jemand nahe steht. Es kommt nicht von ungefähr, dass Angehörige von Vermissten nach einiger Zeit gelegentlich sagen: Ich kann mit allem leben, nur Gewissheit will ich haben. Die Wahrheit zu erfahren ist eine ganz wesentliche Voraussetzung, um die Situation handhabbar zu machen und den Spekulationen ein Ende zu setzen. Im Kopf Szenarien zu entwerfen und Spekulationen anzustellen ist der unerträglichste Zustand. Wenn ich weiß, wie es war, kann ich damit aufhören.

Das heißt, erst ab dem Moment, in dem man Gewissheit hat, kann die Trauerbewältigung beginnen?

Beim Begriff "Trauerbewältigung" bin ich immer sehr skeptisch. Ich denke, Trauer ist Trauer, jeder erlebt sie anders, sie kann unterschiedlich lange dauern und ist immer extrem belastend. Wenn Eltern ihre Kinder verlieren, hört diese Trauer wohl ein Leben lang nie auf. Es ist eine völlig überzogene Erwartung, dass diese Trauer irgendwann völlig "bewältigt" und abgeschlossen ist, weil es für einen Elternteil völlig wider die Natur ist, ein Kind zu verlieren. Randy Newman schrieb aus diesem Gedanken sein Lied "Losing you". Sein Bruder war Arzt, er hatte einen jungen Patienten, der mit 20 an einem Hirntumor starb. Danach kamen seine Eltern und sagten, wir haben unsere Angehörigen im Holocaust verloren, damit sind wir mit den Jahrzehnten fertig geworden. Nun haben wir unseren Sohn verloren, wir leben nicht mehr lange genug, um damit fertig zu werden. Ich denke, dieses Bild, so furchtbar es ist, trifft den Kern der Problematik. Wie zuvor erwähnt: Hinsichtlich der Bewältigung von Trauer bin ich skeptisch, aber die Wahrheit darüber zu erfahren, was geschehen ist, ist eine wesentliche Voraussetzung, um die inneren quälenden Fragen bewältigen zu können.

Beängstigendes in eine rationale Erklärungsform zu bringen, um besser damit umgehen zu können, zählt ebenfalls zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Wie könnte Ihrer Ansicht nach eine konstruktive mediale Katastrophenberichterstattung aussehen?

Indem Fakten vermittelt werden und nicht vermeintliche Bedürfnisse befriedigt werden, die me-dial in Menschen geweckt werden. Welche Farbe die Socken hatten, die der Copilot getragen hat, der das Flugzeug in Südfrankreich in die Felswand gesteuert hat, bringt niemanden auch nur einen Millimeter weiter. Man sollte über die facts of life informiert werden. Weltweit gibt es 38 Millionen Flüge pro Jahr, also rund 100.000 Flüge pro Tag. Von dieser enormen Zahl endet ein ganz ganz kleiner Bruchteil im Desaster. Meiner Ansicht nach wäre es wichtig, die Relationen herzustellen - und diese auch zu betonen. Panikmachen bringt niemandem etwas und schürt nur die Angst. Es gibt eine Untersuchung über Kanada und Amerika, wo es ähnliche Waffengesetze, aber ganz unterschiedliche Kriminalitätsstatistiken gibt, was Tötungsdelikte mit Schusswaffen betrifft. Man kam zum Ergebnis, dass ein wesentlicher Grund dafür die unterschiedliche Berichterstattung ist.

In Amerika überwiegt eine hysterisierende Berichterstattung und es wird das Bild allgegenwärtiger Bedrohung vermittelt. In Kanada ist eher das Gegenteil der Fall. Das spielt offensichtlich eine ganz wesentliche Rolle, wie man sich dann verhält, wenn man sich in einer vermeintlichen Abwehrsituation befindet. Menschen mit hoher Angstbereitschaft reagieren aggressiver als Leute, bei denen die Angst nicht so geschürt
wurde.

Sie sind Primaria an der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik in Linz. Was unterscheidet Forensische Psychiatrie von Allgemeinpsychiatrie?

Sie unterscheidet sich in den Bedingungen, unter denen die Patienten, die ich behandle, hier sind. Forensische Patienten sind immer unfreiwillig da, weil sie vom Gericht zur Behandlung zugewiesen wurden, und haben im Gegensatz zu Patienten der Allgemeinpsychiatrie zuvor eine Tat begangen, die diesen Gerichtszugriff auf sie ermöglicht hat.

Was war für Sie persönlich ausschlaggebend, dass Sie sich dafür entschieden haben, sich vorwiegend mit den Innenwelten von Straftätern auseinander zu setzen? War Ihnen das bereits im Rahmen des Medizinstudiums klar?

Dass ich im Gerichtsbereich arbeiten möchte, war mir schon vor dem Medizinstudium klar. Ursprünglich wollte ich Gerichtsmedizinerin werden, aber dieser Wunsch scheiterte an der geringen Zahl an Ausbildungsplätzen. So kam ich über Umwege zur Forensischen Psychiatrie.

Können Sie abschätzen, mit wie vielen Mördern Sie im Laufe der Zeit bereits zu tun hatten?

Ich bin seit 20 Jahren in diesem Bereich tätig, es werden schon ein paar Hundert gewesen sein.

Seit 1997 fungieren Sie auch als Gerichtsgutachterin und analysieren die Hintergründe von Straftaten. Hat Ihrer Einschätzung nach jedes Verbrechen eine gewisse Logik?

Kriminelle Taten weisen, zumindest aus Sicht des Täters, eine gewisse Schlüssigkeit auf, ja.

Gab es auch Fälle, die trotz dieser Schlüssigkeit für Sie persönlich nicht nachvollziehbar waren?

Was für mich zwar erklärbar ist, aber nicht nachvollziehbar, ist die Lust daran, den Anderen zu quälen und vielleicht am Ende zu töten. Das ist aus einer sadistischen Disposition mitunter erklärbar, aber nachvollziehbar ist es nicht. Manche Entwicklungen lassen sich aus der Biographie des Täters psychodynamisch ableiten, etwa warum dieser Mensch in eine Situation gerät, wo diese sadistische Vorgehensweise eine Op- tion wird. Es lässt sich aber nie erklären, warum er tatsächlich diese Option dann auch wählt.

Die Entscheidung, warum ein Mensch tatsächlich zum Täter wird, ist also in gewisser Weise ein Rätsel?

Diese Entscheidung ist weder erklärbar, vorhersehbar noch begründbar. Ich kann zwar sagen, mir ist klar, warum dieser Mensch vielleicht auf diese Idee kommen könnte, aber warum er sich dann genau so entscheidet, das weiß man nicht.

Gibt es trotzdem Dinge, die man im Rahmen einer Therapie zwecks Verbrechensprävention tun kann?

Man kann die kognitiven Faktoren stärken, vor allem kann man versuchen, denjenigen zu ermächtigen, jene Situationen, die problematisch werden könnten, im Vorfeld zu erkennen und zu meiden.

Nach dem Absturz des Germanwings-Airbus ist eine Diskussion rund um die Frage entflammt, welche technischen Maßnahmen gesetzt werden könnten, um in Zukunft ähnliche Verbrechen zu vermeiden. Gibt es aus psychia-trischer Sicht tiefergreifende Möglichkeiten der Verbrechensprävention?

Die einzig sinnvolle oder wirklich tiefergreifende Verbrechensprävention wäre die Ausbildung von Beziehungsfähigkeit. Als beziehungsfähiges Wesen tue ich mir maßlos schwer, jemand Anderem zu schaden. Wenn ich begreife, dass der Andere genauso leidensfähig ist wie ich, dieselben Rechte hat wie ich und auch nicht in der Hierarchie unter mir steht, wenn ich also nicht nur kognitiv begreifen, sondern auch emotional nachempfinden kann, dass es nicht Abstufungen an Bedeutsamkeit oder Wertigkeit zwischen Leuten gibt, dann tue ich mir schwer, jemandem etwas anzutun. Wenn sich das etablieren ließe, wäre das nach meiner Einschätzung ein sehr effizientes Mittel der Verbrechensprävention.

Gesetzt den Fall, ein Mensch ist eben nicht mit dieser Fähigkeit zur Empathie ausgestattet, weil dieser Entwicklungsprozess im Rahmen der Erziehung nicht stattgefunden hat: Inwieweit ist Mitgefühl im Nachhinein erlernbar?

Kaum. Die Fähigkeit, sich in Andere hineinzufühlen, ist bis zu einem gewissen Grad trainierbar, wird dem Betroffenen aber kaum zur Selbstverständlichkeit.

Mit anderen Worten: Man kann höchstens an den Verstand appellieren?

Das macht man ohnedies, nur wissen wir aus Erfahrung, dass uns der Verstand bisweilen auch im Stich lässt. Die effizienteste Methode, Verbrechen zu reduzieren, ist das Gesetz. Der Bosnienkrieg ist beispielhaft dafür, was geschehen kann, wenn dieses Regelwerk wegbricht. Das waren ja keine Menschen, die bis dato hinter der Zivilisation gelebt haben, aber kaum wurde die Möglichkeit eines gesetzfreien Raumes geschaffen, war es mit der Zivilisa-tion vorbei. Ich glaube, man tut nicht gut daran, ausschließlich auf das unreglementierte Gute im Menschen zu vertrauen. Sobald das äußere Regelwerk wegbricht, wird es sehr schnell ungemütlich. In Ihrem Buch "Schuldhaft - Täter und ihre Innenwelten" weisen Sie darauf hin, dass die furchtbarsten Handlungen zumeist scheinbar aus dem Nichts entstehen können und von Leuten begangen werden, die sich bis dahin nicht wesentlich von uns selbst unterschieden haben. Sind sich diese Menschen ihrer zerstörerischen Dynamik bewusst?

Sie sind sich zumindest bewusst, dass sie Regeln verletzen. Das rationale Wissen über das faktische Unrecht ist meist da. Gleichzeitig aber auch die Annahme, schlauer zu sein als die Ordnungsmacht. Die wenigsten Menschen begehen Delikte in der Annahme, dass sie erwischt und für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Daher bringen auch härtere Strafen nichts. Kein Verbrecher kalkuliert vorher anhand des Strafgesetzbuches, was er tut oder besser nicht tut. Das machen vielleicht Berufsverbrecher, aber keine Menschen, die aus einer Emotion heraus agieren.

Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs wurde immer wieder die Vermutung geäußert, dass Depressionen die Ursache dafür sein könnten, warum der Copilot das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hat. Was halten Sie von dieser These?

Als Begründung für eine absichtliche Tötung der vielen Anderen halte ich gar nichts davon. Ein depressiver Mensch nimmt höchstens dann gezielt einen Anderen in den Tod mit, wenn er glaubt, dieser Mensch ist ohne ihn nicht lebensfähig. Dann spricht man von erweitertem Suizid. Kein Mensch auf der Welt kann ernsthaft der Ansicht sein, dass dieser Pilot geglaubt hat, diese 149 Anderen könnten ohne ihn nicht leben. Ein schwer Depressiver, der dann suizidal wird, ist überdies zumeist auffällig. Er ist antriebsgemindert, kommunikationsgestört, stark in seiner Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt und kann schwerlich im Beruf makellos funktionieren, schon gar nicht in einem Metier, in dem es genau auf diese Fähigkeiten ankommt. Depression ist eine schwere Erkrankung - und kein "Stimmungsproblem".

Rein hypothetisch: Welche fatalen Parameter müssen bei einem Menschen zusammentreffen, dass er im Moment des Suizids in Kauf nimmt, fremde Menschen mit in den Tod zu reißen?

Das ist eine schwierige Frage, weil man zu solchen Fällen wenig gesicherte Fakten hat. Es sind viele Szenarien vorstellbar. Jemand kann eine schwere narzisstische Krise gekränkt-depressiv erleben und sich denken, ich bringe mich jetzt um, was mit den Anderen geschieht, ist mir egal. Das wäre auch eine schwere egozentrische Persönlichkeitsstörung, die ein großflächiges Ausblenden der Rechte Anderer und eine absolute Priorisierung der eigenen Bedürfnisse bedingt.

Es ist übrigens durchaus vorstellbar, dass aus solchen Gründen schon andere Katastrophen stattgefunden haben, die zwar unter technischem Debakel firmieren, aber vielleicht auch auf absichtlich herbeigeführten Handlungen beruhen. Alles was vorstellbar ist, wird auch schon passiert sein. Andererseits bedingt Depression natürlich eine gedankliche Einengung auf das eigene Elend; dass diese Einengung allerdings dann so weit geht, dass sie gänzlich unbeteiligten Anderen in großer Zahl das Leben kostet, ist eine erschreckende, wenngleich mit Sicherheit äußerst seltene Variante, die kein pauschales Misstrauen gegenüber Depressiven rechtfertigt.

Unabhängig davon, welche Ursachen hinter Gewaltverbrechen stecken, geht der Umgang mit diesen Nachrichten mit einer gewissen Abstumpfung einher . . .

Abstumpfung ist eine unvermeidbare Folge dieser Überfütterung. Ich denke, hier stellt sich nicht die Frage, ob das moralisch gut oder schlecht ist, es ist schlichtweg notwendig, andernfalls käme man aus dem Betroffenheitsstatus nicht mehr heraus. Man darf nicht vergessen, dass der Mensch eines vermag: Er kann auch unter den widrigsten Bedingungen einen Modus finden, zu überleben. Darauf sind wir programmiert, das ist eine unserer herausragendsten Fähigkeiten, die wir schon unter den unwahrscheinlichsten Bedingungen unter Beweis gestellt haben. Selbst im KZ sind die Menschen nicht suizidal geworden, sie wollten überleben und haben sich Strategien überlegt, um das zu schaffen. Der Überlebenswille ist im Zustand psychischer Gesundheit die zen-trale Eigenschaft, die uns auszeichnet.

Heidi Kastner, 1962 in Linz geboren, ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, seit 1997 Gerichtspsychiaterin. Sie ist Primaria der forensischen Abteilung der Landesnervenklinik Wagner-Jauregg in Linz.

Kastner promovierte 1986 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. Nach Abschluss ihrer Facharztausbildung in Psychiatrie und Neurologie (1998) nahm sie eine Tätigkeit im psychiatrischen Konsiliardienst der Justizanstalt Garsten, später dann an den Justizanstalten Linz und Steyr auf. 1999 baute Kastner die Forensische Nachbetreuungsambulanz Linz (FORAM) auf, es folgten später die Ambulanzen in Salzburg und Amstetten. Als anerkannte Expertin im Bereich der Forensischen Psychiatrie war sie unter anderem als Gerichtsgutachterin im Fall Fritzl tätig.

Bücher von Heidi Kastner:

Schuldhaft – Täter und ihre Innenwelten.
Verlag Kremayr & Scheriau, 2012.
Wut: Plädoyer für ein verpöntes Gefühl.
Kremayr & Scheriau, 2014.