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"Den Farben der Sonne lauschen"

Von Silvia Cachafeiro und Martin Zinggl

Reflexionen

Der Cyborg Neil Harbisson plädiert dafür, den menschlichen Organismus technologisch zu optimieren.


"Wiener Zeitung": Mr. Harbisson, was ist ein Cyborg?Neil Harbisson: Cyborg setzt sich aus den Wörtern "Kybernetik" und "Organismus" zusammen. Abhängig davon, wie man "Kybernetik", "Organismus" und "zusammensetzen" interpretiert, bezeichnet man unterschiedliche Dinge und Konzepte als Cyborg. So komplex ist der Begriff geworden - er verliert immer mehr an Bedeutung, da man ihn so weit gestreut verwendet. Ursprünglich wurde der Terminus 1960 kreiert. Manfred Clynes und Nathan Kline bezeichneten damit die Verbindung zwischen dem menschlichen Verstand und Computern oder in anderen Worten, die Erweiterung unserer Sinneswahrnehmung durch Technologie - im Unterschied zur Bionik, wo es um den Zusammenschluss von Körper und Technologie geht. Würde meine Antenne nur mein Leben filmen, wäre ich kein Cyborg, sondern bionisch, aufgrund der Elektronik in meiner Biologie. Dennoch gäbe es keine Kommunikation zwischen der Antenne und meinem Verstand, und meine Sinne werden auch nicht erweitert.

Bei Cyborgs denken viele an Terminator.

Dabei hat das überhaupt nichts mit dem Ursprung des Wortes oder des Konzepts zu tun. Filme und Bücher haben sehr negativ über die Verbindung zwischen Mensch und Technologie gesprochen und eine Dystopie prophezeit, die dem Bild des Cyborg nachhaltig schadet. Ich hingegen denke sehr positiv über diesen Zusammenschluss.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein Cyborg zu sein, bedeutet nicht, dass sich der Mensch in eine Maschine verwandelt. Ganz im Gegenteil. Cyborgs brauchen keine technischen Hilfsmittel mehr. Technologie als Werkzeug entfremdet uns in Wahrheit von der Natur. Wenn man nun selbst zur Technologie wird, kann man die erweiterten Sinne anwenden, um sich anderen Tierarten verbunden zu fühlen und die Natur von einer anderen Seite kennenzulernen.

Wie groß ist die Tendenz der Menschen, Cyborgs zu werden?

Viele Leute interessieren sich ernsthaft dafür. Wenn es dann so weit ist, merken einige jedoch, dass sie mental doch noch nicht bereit sind. Dennoch gibt es viele Projekte, wo wir Sensoren entwickeln, die vorerst außerhalb des Körpers getragen werden. Bevor es zu einem endgültigen Implantat kommt, ist das ratsam. Wenn man sich daran gewöhnt hat, kann man sich operieren lassen. Es gibt unterschiedliche Projekte: den Magnetsinn, den Seismischen Sinn, den Sinn, um zu erkennen, was hinter einem passiert. Ein Freund hat uns gebeten, einen Sensor zu entwickeln, um seinen Sinn für Humor zu erweitern. Aber das geht einfach nicht.

Warum nicht?

Um einen Sinn zu erweitern, muss ein Organ vorhanden sein. Die Nase für den Geruchssinn, Ohren fürs Gehör etc. Aber es gibt Sinne, für die wir keine Organe haben. Der Sinn für Humor ist einer davon.

Wie viele Cyborgs gibt es?

Das ist genauso unmöglich zu beantworten, wie die Frage, wie viele Männer sich als Frauen fühlen. Es geht dabei auch um Identität.

Inwiefern?

Die einen fühlen sich als Cyborg, auch ohne Implantate. Die anderen sind biologische Cyborgs, da sie diese physische Verbindung zwischen Kybernetik und Organismus haben. Das impliziert aber nicht automatisch, dass sie sich als Cyborg fühlen. Ich bin sowohl physisch als auch mental mit Kybernetik verbunden.

Warum haben Sie sich dazu entschieden, Technologie in Ihren Körper einzubinden?

Das war nie meine Absicht. Ich wollte vielmehr meine Farbwahrnehmung erweitern. (Harbisson ist farbenblind, Anm.) Über die Jahre habe ich dazu mehrere Methoden versucht: Zunächst personifizierte ich Farben mit spezifischen Menschen, an die ich gedacht habe. Danach versuchte ich es mit Musik und gab jeder Farbe eine eigene Note. Mein Piano war wie eine Farbpalette. Als ich Musik studierte, besuchte ich eine Vorlesung über Kybernetik und realisierte, dass Kybernetik die Sinne erweitern bzw. neue Sinne schaffen kann. Ich fragte den Vortragenden, Adam Montandon, ob wir an einem Projekt arbeiten wollen und bald darauf entwickelten wir einen Prototyp, den ich tatsächlich tragen konnte. Aber schließlich wollte ich selbst zur Technologie werden.

Darum bemühten Sie sich um die Antenne?

Der Prototyp bestand aus einem fünf Kilogramm schweren Computer, einer Webkamera und einem Paar Kopfhörer. Äußerst unpraktisch und unangenehm zu tragen. Ich forschte weiter, um ein neues, unabhängiges Körperteil zu schaffen und wurde in der Natur fündig. Viele Tiere, vor allem Insekten, sind mit Fühlern ausgestattet. Warum also nicht auch ich? Ich entwarf eine Antenne und fand einen Arzt, der mir diese an den Kopf schraubte. Auch wenn die Grundstruktur meiner Antenne permanent ist, entwickelt sie sich ständig weiter.

In welcher Form?

Momentan wird die Antenne von einem Magneten betrieben, der alle drei Monate ausgewechselt wird. Das Ziel ist aber, mit meiner eigenen Körperenergie, den Chip intern aufzuladen, damit ich autonom agieren kann. Ich arbeite daran, die Antenne mit meiner Blutzirkulation zu betreiben.

Denken Sie sich all diese Erfindungen selbst aus?

Wir entwickeln die Ideen, da wir haargenau wissen, was wir wollen. Erst dann suchen wir einen Arzt, um unsere Pläne umzusetzen. Leider ist das nicht so einfach. Jedes Spital hat ein bioethisches Komitee, das die Operationen bewilligen muss. Nach wie vor stufen konservative Ärzte unsere Anliegen als gefährlich ein. Sie haben Angst, diese Tür zu öffnen, da sie glauben, damit etwas auszulösen, das außer Kontrolle gerät. Sie fürchten sich vor der Zukunft, nicht vor der Gegenwart.

Viele Ihrer Ideen wären also theoretisch möglich, sind aber nicht erlaubt?

Genau wie bei den Geschlechtsumwandlungen in den 1950er und 1960er Jahren. Die Begründungen, warum diese Operationen damals nicht erlaubt wurden, sind die gleichen, die heute für Cyborgs angegeben werden: Es ist medizinisch nicht notwendig, auch wenn man sich als Cyborg fühlt und auf dieser Operationen besteht. Die Menschen würden das Spital nicht mehr ernst nehmen, wenn man mit einer Antenne im Kopf aus einem Krankenhaus herausspaziert. Und drittens: Jede Operation birgt Risiken in sich. Dennoch kann man sich heute in vielen Spitälern problemlos einer Geschlechtsumwandlung unterziehen. Darum bin ich überzeugt, dass auch Cyborg-Operationen zur Normalität werden.

Wie sehen Sie die Zukunft der Menschheit?

Ich denke, dass wir uns in einem Übergangsprozess befinden und alle irgendwann Cyborgs werden. Vor 15 Jahren haben wir Technologie nur genutzt. Heute tragen wir sie bereits permanent in unseren Körpern. Die nächste Stufe kann also nur lauten, dass wir selbst zur Technologie werden. Das wird ein großer Schritt in der Evolutionsgeschichte.

Haben Sie darum die Cyborg Foundation gegründet?

Seitdem ich die Antenne trage, erhalte ich unendlich viele Nachrichten von Menschen, die auch ihre Sinne erweitern wollen. Also gründeten Moon Ribas und ich die Cyborg Foundation. Wir wollen Menschen helfen, Cyborgs zu werden, den Cyborgismus als Kunst- und Sozialbewegung bewerben und Cyborgrechte verteidigen.

Cyborgrechte?

Ja, das Recht, Cyborg zu werden, Operationen zu haben, in Reisepässen genannt und damit anerkannt zu werden.

Gerade letzteres ist beispielsweise auf Flughäfen nicht immer einfach, oder?

Elektronisches Equipment ist auf Passfotos nicht erlaubt und muss daher entfernt werden. Aber neue Körperteile und Sinneserweiterungen kann man nicht entfernen, selbst wenn man wollte. Immer noch werde ich bei Sicherheitskontrollen zur Seite genommen, inspiziert und auf Explosives getestet. Das wollen wir als Cyborg Foundation ändern.

Wie wirbt Ihre Organisation für Cyborgs?

Die Cyborg Foundation arbeitet momentan mit der Non-Profit-Organisation Hyphen Hub an einem neuen Projekt. Wir bringen Freiwillige, die Cyborgs werden wollen, für einen Monat nach New York. Wir geben ihnen eine Unterkunft und konvertieren sie in Cyborgs, damit sie ihren neuen Wahrnehmungssinn durch Kunst ausdrücken. Später machen wir mit den gesammelten Kunstwerken eine große Ausstellung.

Ihr erweiterter Sinn ist das Wahrnehmen von Farben durch Ihre Antenne. Wie geht das?

Grundsätzlich nimmt die Antenne Lichtfrequenzen vor mir wahr. Über einen Chip in meinem Schädel werden diese Lichtfrequenzen in Tonfrequenzen umgesetzt, die als Vibrationen in meinem Innenohr enden. Selbst wenn ich taub wäre, könnte ich noch Farben durch Vibrationen fühlen. Durch Internetverbindung in meinem Schädel kann ich auch Farben von externen Zuspielern empfangen. Dadurch höre ich beispielsweise die Farben eines Sonnenuntergangs in Australien in Echtzeit und stelle mir das Bild dazu vor.

Damit sind Sie den Menschen einen gewaltigen Schritt voraus.

Ich will meine Farbwahrnehmung kontinuierlich verbessern. Nachdem mein Sensor das Maximum von 360 Mikrotönen erreicht hatte, inkludierten wir Farben, die über die Kapazität des menschlichen Auges hinaus gehen.

Wie sehen Sie Farben, die wir nicht sehen können?

Durch Noten, da der Spielraum im Gehör einfach größer ist als in der Sicht. Die für das menschliche Auge visuellen Farben liegen alle innerhalb einer Oktave, aber Infrarot und Ultraviolett sprengen diese und gehen sogar noch weiter. Ich hingegen nehme viel mehr Noten wahr, sogenannte Mikrotöne. Durch Töne kann man das gesamte visuelle Spektrum akustisch aufnehmen, auch X-Wellen, Gammawellen, Radiowellen und Mikrowellen, Ich kann mich außerdem über meinen Internetzugang mit einem Satelliten verbinden und außerirdische Farben des Alls empfangen.

Welche Farben hat das All?

Abertausende ultraviolette und infrarote Farben, für die wir noch nicht einmal Namen haben.

Funktioniert Ihre Antenne auch unter Wasser?

Sie ist wasserdicht, aber nicht tauchbar. Mein Problem ist, dass ich nicht so gut mit Wasser kann. Das liegt bei uns in der Familie. Ich würde gerne schwimmen, aber genetisch funktioniert das bei mir irgendwie nicht.

Wie haben Sie sich an all diese Farb-Klänge gewöhnt?

Zu Beginn blockierte ich meinen Hörsinn, um meinen Farbwahrnehmungssinn zu gewinnen. Durch die Kopfhörer hörte ich zwar Farben, aber nichts von dem, was um mich herum passierte. Erst als ich die Farbwahrnehmung vom Hören trennte, endete die Verwirrung in meinem Kopf. Als ich die Farben durch Vibrationen an meinem Schädel zu hören begann, dauerte es gut fünf Wochen, bevor die Kopfschmerzen aufhörten. Nach rund fünf Monaten gewöhnte ich mich daran und begann sogar in Farben zu träumen. Das war der Moment, wo ich mich endgültig als Cyborg fühlte. Ich empfand meine Sinneserweiterung als neuen Körperteil.

Wie reagierte Ihr Umfeld?

Es war unglaublich peinlich, vor allem in den ersten Tagen. Einige Bekannte meinten, ich mache mich selbst zum Idioten. Das hat mich sehr getroffen. Seitdem rede ich nicht mehr mit diesen Leuten. Es vergeht kein Tag, wo nicht über mich gelacht wird. Mittlerweile bin ich aber daran gewöhnt, Ich könnte eine Sozialstudie darüber schreiben, wie Menschen reagieren, wenn jemand eine Antenne am Kopf trägt.

Geben Sie uns einen Einblick!

Kleine Kinder sehen meine Antenne und wünschen sich auch eine, obwohl sie keine Ahnung haben, was das ist. Teenager lachen oft, und lästern auch. Junge Menschen amüsieren sich oder fragen nach, was das ist bzw. gibt es viele, die mich bereits kennen. Erwachsene glauben zu wissen, was es ist und fragen: "Ist es ein Telefon oder eine Stirnlampe?" Und ältere Menschen kümmert die Antenne nicht, da sie daran gewöhnt sind, täglich etwas Neues zu sehen. Auch reagiert jede Region unterschiedlich. In Europa lachen viele über meine Antenne, vor allem in Frankreich und Italien kommt es häufig zu Beleidigungen. In New York hingegen fühle ich mich wohl. Auch dort amüsiert man sich, aber das sind meistens Touristen.

Aber die Wissenschaft schätzt Ihre Qualitäten. Sie planen eine extraterrestrische Aufgabe?

SETI ("Search for Extraterrestial Intelligence"), ein Kooperationspartner der NASA, hat zwei Kameras im All installiert, die permanent auf die Sonne gerichtet sind, um mögliche Sonnenstürme frühzeitig zu erkennen. Für diese manuelle Überwachung benötigt das Institut etliche Mitarbeiter. Da es kein Computerprogramm gibt, schauen sich Freiwillige auf der ganzen Welt rund um die Uhr diese Bilder an. Ich plane, meinen Kopf mit diesen Kameras zu verbinden, sodass ich die Farben der Sonne hören kann. Wenn ich dann einen Farbunterschied wahrnehme, weiß ich, dass sich etwas tut. Ich muss mich also nur daran gewöhnen, dass ich für den Rest meines Lebens den Farben der Sonne lauschen werde.

Das kann anstrengend werden.

Aber es ist einzigartig, und der Körper passt sich auch an. An die Antenne war ich nach rund fünf Monaten gewöhnt. Da ich nun zehn Jahre älter bin, dauert es wahrscheinlich doppelt so lange. Spätestens nach einem Jahr werde ich so weit sein, die Farben der Sonne und der Erde gleichzeitig zu hören. Das wäre ideal.

Neil Harbisson, geboren 1982, war von Geburt an farbenblind. Aufgewachsen ist der gebürtige Brite in der katalanischen Stadt Mataró. Im Alter von 22 Jahren ließ er sich eine Antenne in die hintere Schädeldecke implantierten, die ihm fortan erlaubte, Farben akustisch aufzunehmen, indem sie in vibrierende Töne umgewandelt werden. Durch diesen Aufsatz in seinem Kopf wurde Harbisson zum ersten Cyborg. 2010 gründete er mit seiner Cyborg-Kollegin Moon Ribas 2010 die Cyborg Foundation. Diese internationale Organisation mit Sitz in New York setzt sich für Cyborgrechte ein.