
"Wiener Zeitung": Frau Schor-Tschudnowskaja, der Historiker Eric Hobsbawm hat vom "kurzen 20. Jahrhundert" gesprochen, das von 1914 bis 1989 dauerte. Doch sind wir aus dem 20. Jahrhundert je herausgekommen?
Anna Schor-Tschudnowskaja: Ich glaube eher nicht an solche Abgrenzungen. Der soziale Wandel ist immerwährend, wenn auch nicht unbedingt linear. Aber dennoch würde ich zustimmen: wir sind noch nicht aus dem 20. Jahrhundert herausgekommen. Sollte es ein Jahrhundert der linken Ideen und des Versuchs sein, die Welt danach umzugestalten, so ist dieser Versuch noch nicht vorbei. Aber auch Lager, Lüge, Manipulation, totalitäres Denken und politische Irrationalität haben ihr Werk nicht abgeschlossen. Und vieles in der Zukunft wird davon abhängen, welche Lehren wir aus dem 20. Jahrhundert ziehen können und wollen.

Politische Entwicklungen verlangen oft nach Festlegungen, die man selbst früher vielleicht nicht treffen wollte oder musste: Russin, Ukrainerin: Wie würden Sie sich selbst sehen?
Ich wurde in Kiew geboren. Nach dem Tschernobyl-Desaster übersiedelten meine Eltern mit uns nach St. Petersburg. Ich bin ein Kind der Sowjetunion. Nachkriegskinder etwa in Deutschland bezeichnen sich 60 Jahre später noch immer als solche, auch ohne dass sie dem Krieg oder der Nachkriegszeit nachtrauern. Es ist eine eigene Prägung.
Wie können Sie uns im Westen diese Prägung veranschaulichen? "Nur ein Sowjetmensch kann einen Sowjetmenschen verstehen", schreibt die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch.
Es ist tatsächlich schwer zu erklären, verbunden mit all dem Sinnlichen, den Bildern und Worten der Kindheit. Ich versuche, meine eigenen Rätsel zu entziffern. Bis zum Alter von 10, 11 Jahren erschien es mir fast peinlich, so ein glückliches Land wie die Sowjetunion ergattert zu haben, bei all dem Elend in anderen Teilen der Welt. Es fußte auf allgegenwärtiger Propaganda, war eine Prägung aus dem Kindergarten, später der Schule. Wir fühlten uns als glückliche Kinder, harmonisch geborgen. Meine Eltern wussten natürlich mehr von der Schreckensgeschichte. Und nicht nur Geschichte, mein Vater wurde vom KGB vorgeladen, als ich schon in der Schule war. Aber meine Eltern schonten mich - um mich nicht zu verunsichern, und um mir Schwierigkeiten in der Schule zu ersparen.
Und später? Gab es eine Zäsur?
Der Stolz hielt auch während meiner Jugend, durch die Zeit der Perestroika. Ein erster Knacks passierte 1991, mit dem Moskauer Putschversuch. Der endgültige Einbruch kam für mich, aber auch viele andere mit den Bildern des ersten Tschetschenienkrieges 1994-96. Es war ein Gefühl von Unglauben: "Das ist nicht mein Land, das hier bombardiert."
Wie freiwillig waren denn je die Verbindungen der Sowjetrepubliken?
Natürlich sehr unterschiedlich, vom Baltikum über den Kaukasus bis Zentralasien. Am attraktivsten erschien es klarerweise für Russland, es war ein Identitätsgewinn: Wir sind die Urheber der Befreiung, einer tollen Ideologie, einer Gesellschaftsordnung, die für alle verheißungsvoll ist, verbunden durch Russisch als der Sprache Lenins.
Und heute?
Gerade für Russen bedeutete der Zerfall der Sowjetunion den größten Verlustschmerz: Verlust von Boden, von Einfluss, aber auch von Anziehungskraft. Der Umgang mit dem Verlust heute sind irrationale Versuche, die Einflusssphäre und Stärke wieder herzustellen. Es bleibt bei der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, aber auch nach dem Gefühl, über andere dominieren zu können, ein Imperium zu sein: es fehlt die Wertebasis.
Kommt Putins Mission für russische Werte, für ein besseres, konservatives, traditionelles Europa im Verein mit westlichen Rechtsparteien bei den Menschen an?
Es kommt sehr gut an! Aber das Gerede von einer Alternative zum verfaulten Westen ist inhaltsleere Propaganda. Es ist, als ob man vor einem Haufen Ziegelsteinen steht und ohne Fundament und Fugenmasse ein neues Gebäude errichten will.
Und wie ist die Einstellung in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken?
Dort hat Russland durch die Entwicklung der letzten Jahre keine Freunde mehr, auch nicht jenseits des Russland-kritischen Baltikums oder Georgiens. Es bleiben einzig massive ökonomische Abhängigkeiten, von Weißrussland über Armenien bis zu manchen Republiken Zentralasiens.
Wirtschaftlichen Druck hat Moskau auch gegenüber der Ukraine versucht.
Ja. Doch trotz unserer traurig hohen Gewaltbereitschaft in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Familie, bei der Kindererziehung, in Geschäftsbeziehungen, gegenüber abtrünnigen Republiken, innerhalb der Armee gegenüber Rekruten: Russland will dennoch auch bewundert, beneidet, ja geliebt werden. Gegenüber der Ukraine hat Russland daher mit paternalistisch-männlicher Eifersucht wie ein enttäuschter Liebhaber reagiert.
Wie sieht Russland die Ukraine?
Bei all den unterschiedlichen Wahrnehmungen dominiert die Überzeugung: "Eigentlich" gehört die Ukraine zu uns, wir sind geschichtlich so eng verbunden. Die Unabhängigkeit der Ukraine wurde lange als kindliche Laune abgetan.