Was macht umgekehrt heute jemanden zum Ukrainer, zur Ukrainerin, der Russisch als Muttersprache spricht wie Sie?
Russland bleibt meine Heimat, genauso wie Kiew und die Ukraine. Es ist jetzt eher eine politische Zuordnung aus Solidarität: es ist die Entwicklung in Russland, die für viele immer abschreckender wird, so dass man sich eher
mit der Ukraine solidarisieren möchte.
Die Sprachenfrage ist nicht entscheidend?
Die Sprachenfrage war nie maßgeblich. Diese wird instrumentalisiert, besonders von russischer Seite. In der Ukraine wird sich das wieder beruhigen.
War die westliche Euphorie bezüglich der Demokratisierung Russlands um 1990 naiv? Zu glauben, unser Gesellschaftsmodell politischer Partizipation sei attraktiv - und letztlich überlegen?
Wir haben uns wohl alle getäuscht: Wir haben den Traum vom Wandel der politischen Kultur für die Wirklichkeit gehalten, doch wir haben die Rigidität unterschätzt. Russland war nie eine politisch mündige "Demokratie von unten". Und wir haben lange an der Illusion festgehalten, Russland wäre - trotz aller Rückschläge - auf dem richtigen Weg.
Manches scheint uns im Westen schwer verständlich, etwa die mangelnde Aufarbeitung, ja manchmal Verherrlichung der Stalinzeit.
Gegenüber der Vergangenheit besteht eine seltsame Gefühlsstarre, auch innerhalb der Familien. Bei meinen Befragungen junger Menschen über jene Zeit zeigt sich wenig Mitgefühl, selbst wenn es, wie bei den meisten, Säuberungsopfer in der eigenen Familie gegeben hat. Die 1930er Jahre werden als geradezu idyllische Zeit dargestellt: Es gab kaum Alltagskriminalität, es herrschte Ordnung, auch wenn es eine totalitäre war. Darüber hinaus gibt es irrationale Elemente. Als in Moskau einmal mein Taxi im Stau steckte, explodierte der Fahrer und rief: "Stalin hätte euch alle umgebracht!"
Noch immer aber bedeutet die Stalin-Zeit den Triumph im vaterländischen Krieg, Befreiung, den Sieg einer gerechten Sache. Und sie bedeutete Macht. Heute dagegen wird das Gefühl gefördert, "man hat uns betrogen, hat uns Land und Größe genommen".
Wie sehen Sie den Umgang der westlichen Welt mit der Ukraine-Politik Russlands?
Auch wenn es die Medienhysterie in Russland von angeblichen Faschisten in Kiew und einer westlichen Verschwörung anders darstellt: Putin hat bei seiner Vorgangsweise auf der Krim und dann im Donbass keinen nennenswerten Widerstand des Westens wahrgenommen. Die Wirtschaftskrise in Russland ist nicht Konsequenz der Sanktionen, sondern Ergebnis der einseitigen ökonomischen Abhängigkeit von Rohstoffexporten und des Preisverfalls.
Wie kann, wie sollte der Westen Ihrer Ansicht nach reagieren?
Die internationale Rechtsordnung ist herausgefordert. Wirklich schmerzhaft für Moskau wären spürbare Konsequenzen, wie Ausschluss vom internationalen Bankensystem oder die Vermeidung des russischen Luftraumes, um Einnahmen aus den Überfluggenehmigungen zu reduzieren.
Gerade in Österreich scheint Verständnis für Putins Politik verbreitet zu sein. Nicht nur die heimische Wirtschaft glaubt, in der Vergangenheit mit der Neutralität recht gut gefahren zu sein, und würde gerne wieder so verfahren.
Ich bin immer wieder sehr erstaunt. Es kommt mir so vor, als ob Neutralität hierzulande oft als moralfreie Zone interpretiert wird, wo man es sich mit allen gut stellt und dabei lukrative Geschäfte macht. Ich vermisse jenseits der Medien eine klarere politische Haltung, auch ein Engagement der Zivilgesellschaft zu Putins Politik. Österreichs Menschenrechts-NGOs sollten lauter sein. Auch Studenten sind kaum vernehmbar.
Unser Blick ist oft auf die Großmacht fixiert, auf Putin als Feindbild. Was können wir tun, um die russische Zivilgesellschaft, die letzten verbliebenen unabhängigen Medien und die kritische Kultur zu unterstützen?
Unmittelbar sehr wenig, fürchte ich. Jede direkte Hilfe bringt die Opposition wegen des Gesetzes über "ausländische Agenten" in Gefahr. Der Westen soll vor allem zu seinen Werten stehen. Man erwartet von russischen NGOs, Kulturschaffenden oder Journalisten, Widerstand zu leisten. Aber gleichzeitig zeigen nicht nur ehemalige westliche Politiker mit ihren persönlichen Interessen Verständnis für Lügen, sondern auch Regierungen oder Meinungsbildner sind gegenüber Moskau nachgiebig: dann fühlen sich die kritischen Menschen in Russland verraten. Der Westen als politische Wertegemeinschaft verliert in Russland sowohl bei den Herrschenden wie auch bei der Opposition zunehmend seine Glaubwürdigkeit, und macht die politische Aufklärungsarbeit der Menschenrechtler zunichte.
Ich würde dem Westen sagen: Steht zu euren Werten! Nicht minder wichtig ist, konsequent die Lügen zu entlarven, und nicht selbst Opfer von Propaganda und Manipulation zu werden. Russland diffamiert etwa die Maidan-Bewegung als Faschisten. Und lädt gleichzeitig Rechtsextreme aus ganz Europa zu sich ein.
Die wichtigste Erkenntnis ist aber wahrscheinlich, dass der Westen kein Instrumentarium hat, um einem Diktator mit Atomwaffen entgegenzutreten, der seine territorialen Wünsche umsetzt und die Weltordnung herausfordert. Man muss der Ukraine fast dankbar sein, diese Schwachstelle aufgezeigt zu haben.