Der russischen Kultur wird eine hohe Leidensfähigkeit nachgesagt. Stimmt das?

Vielleicht. Aber selbst wenn es stimmt: diese Leidensbereitschaft gilt nicht für die Eliten. Die sind kaum bereit, bei ihrem neuen Luxus zurückzustecken, wenn der "kleptokratische Karneval", wie es ein Journalist einmal nannte, zu Ende geht. Von unten sehe ich kaum Veränderung.

Das klingt nicht sehr optimistisch.

Leider. In Russland herrscht eine Opferhaltung, die wohl auch anderswo nicht gänzlich unbekannt ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den eher chaotischen 90er Jahren fühlt man sich als Opfer: als Opfer der Oligarchen, der liberalen Reformer, des Westens. Diese Opferhaltung macht die Gesellschaft passiv und dem Staat ergeben. Feindbilder wechseln, einmal Juden, dann Oligarchen, dann Kaukasier, jetzt Ukrainer. Propaganda dekretiert, wen ich zu hassen habe.

Und wie sehen Sie die weitere Entwicklung in Russland?

Der Fall des sowjetischen Regimes und der Zerfall des Imperiums waren nicht die einzigen Herausforderungen. Angesichts der Postmoderne und der Globalisierung gibt es in Russland eine starke Sehnsucht nach festen Werten und klaren Orientierungen. Die derzeitige gemachte Hysterie wird wieder schwächer werden, die Euphorie über die Krim- annexion wird verblassen, und Putin wird eine neue Legitimation seiner Macht brauchen. Vision zur Entwicklung des Landes hat er aber keine.

AnnaSchor-Tschudnowskaja wurde 1974 in Kiew geboren, 1986 übersiedelte die Familie nach Leningrad. Sie ist Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial". Die Soziologin und Psychologin hat zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Publikationen zu Gesellschaft und Politik in der UdSSR und in Russland verfasst, vor allem zu den Themen sowjetische bzw. postsowjetische Mentalitäten und aktuelle politische Entwicklungen in Russland, kollektives Gedächtnis und Massenpsychologie. Sie ist zu diesen Themen eine international gefragte Expertin. Zur Zeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, und arbeitet u.a. an einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF über Erinnerungskultur, selektive Wahrnehmungen und Deutungsmuster über die Sowjetzeit als Beeinflussungsfaktor für die zukünftige Entwicklung Russlands.