"Wiener Zeitung": Ohne nachgezählt zu haben: Bei der Frankfurter Buchmesse wird es wieder Zigtausende von Neuerscheinungen geben. Und wieder einmal wird sich die Frage stellen: Wer soll das alles lesen?

Klaus Kastberger: Es gibt für jedes dieser Bücher Abnehmer, sonst würden sie nicht gemacht werden. Und in der Mehrzahl sind es ohnehin Sachbücher. Bei der Literatur sind es zwar noch immer wahrscheinlich einige tausend Neuerscheinungen, aber am Ende bleiben pro Buchmesse vielleicht zehn, fünfzehn Titel übrig, die die großen Feuilletons alle auf einmal besprochen haben wollen und wo es eine künstlich hergestellte mediale Aufregung gibt. Der Rest geht unter. Das heißt: Wir haben es trotz einer oberflächlichen Fülle in Wirklichkeit mit einer unglaublichen Verengung zu tun.

Einer Verengung, an der Sie als Kritiker selbst tatkräftig mitwirken.

"Wir haben es am Buchmarkt trotz einer oberflächlichen Fülle in Wirklichkeit mit einer unglaublichen Verengung zu tun", erklärt Klaus Kastberger (l.) Piotr Dobrowolski. Foto: J. J. Kucek
"Wir haben es am Buchmarkt trotz einer oberflächlichen Fülle in Wirklichkeit mit einer unglaublichen Verengung zu tun", erklärt Klaus Kastberger (l.) Piotr Dobrowolski. Foto: J. J. Kucek

Also ich persönlich verenge gar nichts. Ich würde viel lieber Marianne Fritz oder Adalbert Stifter lesen und besprechen als die erwähnten fünfzehn Neuerscheinungen. Ich habe ja nichts dagegen, dass Bücher zu einem medialen Ereignis werden. Aber es gibt auch Autoren, die es wert sind, dass man sich abseits von Neuerscheinungen oder Jahrestagen mit ihnen beschäftigt. Weil sie gesellschaftlich relevant sind. Wolfi Bauer wäre so ein Autor. Das ist der Raum, in dem sich Institutionen wie das von mir geleitete Literaturhaus Graz Freiheit bewahren müssen. Sonst sind wir nur noch Vollzugsgehilfen der Verlage.

Warum soll aber ein Herr Kastberger den Leuten sagen, was sie abseits der Buchempfehlungen der Verlage lesen sollen, und nicht zum Beispiel die Frau Huber von nebenan?

Weil der Kastberger, wie fünfzig andere in Österreich auch, seit dreißig Jahren nichts anderes tut, als sich mit Literatur zu beschäftigen. Ich verstehe nicht, warum im Bereich Literatur Expertentum nicht anerkannt wird. Als ich anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien an Friederike Mayröcker gesagt habe, dass sie mit ihrem Schreiben jedes Mal volles Risiko eingeht, während Thomas Bernhard bloß immer wieder das gleiche Buch geschrieben hat, da hat sich ein Anwalt beschwert, wie denn jemand mit meinen Ansichten ein Literaturhaus leiten kann. Das ist übrigens ein Anwalt, der dadurch bekannt wurde, dass er Tigerbabys befreit. Ich habe ihm dann zurückgeschrieben, dass ich nie auf die Idee kommen würde, ihm Ratschläge zu geben, wie er Tigerbabys besser befreien kann.

Das heißt: Zur Literatur sollten sich nur von Amts wegen dazu befugte Personen öffentlich äußern?

Nein, natürlich nicht. Die reale Entwicklung ist ja auch eine ganz andere. Heute kann ja praktisch jeder seine Meinung zu Büchern öffentlich kundtun, auf Amazon, in Blogs, in sozialen Netzwerken, wo auch immer. Die klassische bürgerliche Öffentlichkeit, die früher einmal die Rezeption von Literatur bestimmte, gibt es ja längst nicht mehr. Komischerweise gibt es aber trotzdem das Bedürfnis danach, von jemandem, dem man Fachkompetenz zugesteht, eine Orientierung zu bekommen. Deshalb braucht es Kritiker. Meine Erfahrung ist übrigens, dass Kritik dann gut ankommt, wenn sie Bücher nicht an den persönlichen Ansprüchen des Kritikers misst, sondern an den Ansprüchen, die der Autor selbst an sein Buch stellt.

Klaus Kastberger, wurde 1963 geboren, leitet seit März 2015 das Literaturhaus Graz und ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz. Davor war der Oberösterreicher und Bachmannpreis-Juror Mitarbeiter am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, als Privatdozent an der Uni Wien und als Literaturkritiker tätig. Als Literaturwissenschafter hat sich Kastberger unter anderem mit Marianne Fitz, Friederike Mayröcker, der Wiener Avantgarde und Ödon von Horváth beschäftigt.
Klaus Kastberger, wurde 1963 geboren, leitet seit März 2015 das Literaturhaus Graz und ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Franz-Nabl-Institut der Universität Graz. Davor war der Oberösterreicher und Bachmannpreis-Juror Mitarbeiter am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, als Privatdozent an der Uni Wien und als Literaturkritiker tätig. Als Literaturwissenschafter hat sich Kastberger unter anderem mit Marianne Fitz, Friederike Mayröcker, der Wiener Avantgarde und Ödon von Horváth beschäftigt.

Das ist dann aber sehr beliebig. In irgendeiner Form löst ja fast jedes Buch den Anspruch seines Autors ein.

Überhaupt nicht! Jeder zweite 22-jährige Autor will den Roman seiner Generation schreiben - und scheitert daran. Die meisten Ansprüche scheitern an der Realität. Was aber auch Einfluss auf den negativen Zustand der Gegenwartsliteratur hat, ist die Tatsache, dass die Verlage sich darauf verlassen, dass das, was im Vorjahr funktioniert hat, auch im nächsten Jahr funktionieren wird. Wir haben daher derzeit eine totale Überbetonung des Handwerklichen. Leipzig, Hildesheim, Wien, überall gibt es Literaturschulen, die den Autoren beibringen, wie sie möglichst glatt und ohne Kanten schreiben. Da wird schon beim Schreiben unglaublich viel darüber diskutiert, wie man einen Text noch besser, noch perfekter machen kann. Der Dozent gibt Ratschläge, die Kollegen geben Ratschläge, alle haben dazu eine Meinung. Literatur ist aber in ihrer Produktion nicht demokratisch. Und sie ist auch kein pures Handwerk.

Literatur, die aus Autorenschulen kommt, ist also schlecht, weil sie zu handwerklich ist. Welche Literatur ist gut?

Ich kann Ihnen nur sagen, was ich persönlich gut finde. Mich interessieren Bücher, wenn sie mich überraschen und formal eben nicht das bieten, was ich mir erwarte. Valerie Fritsch und ihr Buch "Winters Garten" ist so ein Beispiel. Da liest man und kommt allmählich drauf: Hier geht es um den Weltuntergang. Und dieser Weltuntergang wird unter anderem mit den rhetorischen Mitteln der Antike geschildert. Klar fragt man sich dann: Wie kommt eine 25-Jährige zu diesem Thema? Was hat eine 25-Jährige über Weltuntergang zu sagen und wieso nimmt man ihr das ab? Und dann kommt man drauf, dass Fritsch eben keine normale 25-Jährige ist, dass sie, wie sie in Interviews erzählt, eine Krankheit hat, wegen der sie sich drei, vier Tage im Monat vor Schmerzen krümmt und ihr keiner helfen kann. Man kommt auch drauf, dass sie schon mit 17 alleine in den Voodoo-Gegenden der Welt unterwegs war und sie das fasziniert hat. All das spürt man in ihrem Buch. Das lernt man aber nicht in der Autorenschule von Hildesheim oder im Literaturinstitut in Leipzig. . .