Ist das nicht ein unglaublich elitäres Literaturverständnis? Damit sprechen Sie eigentlich jedem Leser, dem Spannung und Unterhaltung wichtig sind, ab, Literatur zu konsumieren. Was er konsumiert, ist in dieser Logik bestenfalls ein Ersatzmittel, eine Nicht-Literatur.

Ich habe über meine speziellen Interessen gesprochen. Und wenn ich die in einem Buch erfüllt finde, dann kann ich die Begeisterung darüber in einer Rezension wiedergeben und damit kann ich vielleicht jemand dazu bringen, statt den zwanzigsten Krimi einmal etwas zu lesen, das in irgendeiner Form gesellschaftlich relevant ist, etwas mit seiner sozialen Wirklichkeit oder mit seiner Psyche zu tun hat. Aber ich bin nicht der Richter, der urteilt: Du bist dumm, weil du das und das liest. Es schadet auch niemandem, ausschließlich Thomas Bernhard zu lesen. Ich persönlich kann halt mit diesem stets so kulinarisch aufbereiteten Geistesmenschen-Genietum immer weniger anfangen.

Und Sie haben nicht das Gefühl, dass es einen Bereich der Literaturkritik gibt, in dem der sogenannte Mainstream so massiv abgelehnt wird, dass alles, was anders ist, aus reiner Widerspruchshaltung für gut befunden wird?

Das mag es schon geben. Ich will auch nicht behaupten, dass ich selbst davon völlig frei wäre. Als Kritiker steht man schließlich nicht nur Büchern, sondern auch hundert anderen Kritikern gegenüber - und da muss man sich auch positionieren. Und manchmal hat das nicht nur mit Inhalten oder Werturteilen zu tun, sondern auch damit, was Bourdieu ausführlich als die Besetzung eines symbolischen Feldes beschrieben hat. Für einen Kritiker geht es ja immer auch darum, seinen eigenen Status im symbolischen Feld Literaturkritik zu definieren. Als es Marcel Reich-Ranicki noch gab, musste man sich für oder gegen ihn positionieren. Die Begriffe Mainstream und Avantgarde sind auch so eine Möglichkeit, um sich zu positionieren. Die heutige Wirklichkeit des Literaturbetriebes beschreiben sie allerdings nicht mehr. Denn da gibt es viel mehr. Die Kritik war sich heuer zum Beispiel weitgehend einig, dass Clemens Setz’ "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" ein richtungsweisender Roman ist, an dem man einfach nicht vorbei kann, auch wenn es so konventionell wie nur irgendetwas erzählt wird.

Warum kann man an Clemens Setz nicht vorbei?

Weil es zweifelsohne das wichtigste Buch der Saison ist. Und weil fünfzehn relevante Kritiker von "FAZ" über "NZZ" bis zur "Zeit", auch alle österreichischen Medien, das Buch für lesenswert halten. Die können gemeinsam nicht irren. Das ist wie bei den Rolling Stones: Da könnte sogar einer falsch spielen und anderer Meinung sein, aber die Musik stimmt in Summe trotzdem. Wenn also fünfzehn oder zwanzig Kritiker, deren Rezensionen man es ansieht, dass sie sich mit diesem Buch ausführlich beschäftigt haben, einhellig sagen: Dieses Buch wird uns auch noch in den nächsten Jahren begleiten, dieses Buch sollte jeder, die sich für Literatur interessiert, gelesen haben, dann ist man ganz gut beraten, das auch zu tun.

Dann hat sozusagen der kollektive Literaturpapst gesprochen - und der Papst ist unfehlbar.

Aber entschuldigen Sie! Der Papst und ein Kollektiv, das sind doch zwei völlig unterschiedliche Instanzen. Ein Literaturpapst, das ist eine autoritäre, pseudofaschistische oder zumindest monarchische Kreation. Ein Kollektiv ist das nicht, denn es vertritt eine demokratische Expertenmeinung. Umso auffälliger ist es, dass diese Leute, was Setz betrifft, dennoch alle zu einer ähnlich positiven Meinung gekommen sind.

Warum ist Setz dann aber nicht auf die Shortlist des diesjährigen Buchpreises gekommen?

Haben Sie sich die Jury des Buchpreises einmal angeschaut? Da ist ja kein einziger relevanter deutscher oder österreichischer Kritiker dabei! Wer sitzt denn drinnen? Zum Beispiel der Intendant der Wiener Festwochen. Der hat bestimmt keine Zeit, sich 250 Bücher im Vorfeld anzuschauen. Oder eine Buchhändlerin. Na klar ist die eher für ein Buch, das sich noch besser verkauft als der Setz. Die Idee, dass man in der Jury des Deutschen Buchpreises nur einmal sein darf, hat ja was für sich. Sie hat allerdings mit der Zeit dazu geführt, dass alle einschlägigen Fachleute irgendwann einmal schon in der Jury waren.

Ich versuche jetzt einmal zusammenzufassen: Literatur ist dann gut, wenn sie von möglichst vielen fachkundigen Experten möglichst einhellig für gut befunden wird und obendrein auch noch gesellschaftliche Relevanz aufweist. Stimmt das? Und wenn ja: Wann ist Literatur gesellschaftlich relevant?

Das erste Kriterium ist ja ein rein äußerliches. Ich habe damit nur zu erklären versucht, wie Kritik und Buchpreise funktionieren. Ich schaue nämlich gern hinter die Dinge und auf die Strukturen. Das halte ich für spannender als nur zu sagen: Ätsch, der Setz ist nicht auf die Shortlist gekommen. Und was die soziale Relevanz betrifft: Ich finde schon, dass sich Literatur mit realen Problemen und Wirklichkeiten beschäftigen soll - und das bestenfalls in einer formal spannenden Art. Es ist ja nichts gegen einen Fantasy-Wälzer zu sagen, den ich vor lauter Spannung drei Stunden lang am Strand nicht aus der Hand geben kann. Aber in ihrem Kern sollte Literatur verstörend sein, Eigenständiges umsetzen. Ihre Relevanz ergibt sich auch daraus, dass sie ein singuläres Ausdrucksmittel ist. Da ist einer und kann etwas nicht anders sagen als durch Literatur. Und zugleich braucht er dazu so gut wie nichts an Hilfsmitteln: keinen Strom, kein Internet, nur diesen einen depperten Stift und Papier. Das ist so archaisch und niederschwellig zugleich, dass ich mir um die Zukunft der Literatur keine Sorgen mache. Die ist gesichert. Das sieht man auch an den zahlreichen Einreichungen für die Literaturpreise und Stipendien. Das Bedürfnis, sich in dieser Weise auszudrücken, wird ja eher noch stärker, je mehr die gesellschaftlichen Probleme wachsen.