Wiener Zeitung": In Ihren Büchern erzählen Sie Geschichten aus Ghana, Ihrer afrikanischen Heimat. Dabei sagt die Spinne in dem Buch "Eine Kalebasse voller Weisheit": "Geheimnisse und Überraschungen stärken die Fantasie des Menschen, um mehr über das spätere Leben zu erfahren." Ist das auch die Funktion von Märchen?
Patrick Addai: Nun, die Spinne ist ein Symbol für Weisheit und Klugheit. Dieses Tier wird für die menschlichen Zuhörer personifiziert - wie überhaupt alle diese Tiergeschichten wegen des Verhaltens der Menschen erzählt werden, um etwa Kinder auf das spätere Leben vorzubereiten. Die Geschichten erzählen daher nicht nur die schönen Seiten des Lebens.
Wie weit sind das aber überhaupt Geschichten für Kinder? Sie sind oft grausam - in einem der Märchen will der Löwe den Hasen fressen, in einem anderen kommt ein Eichhörnchen um, weil es sich als schlechter Freund erwiesen hat . . .
Die Kinder lernen auf diese Art und Weise die Welt, in der sie leben werden, kennen. In der europäischen, pädagogischen Denkweise lässt man das in letzter Zeit außer Acht, es gilt hier, dass eine Geschichte immer schön erzählt werden muss. Dabei vergisst man, dass die Kinder auch mit der anderen Seite des Lebens konfrontiert werden. Die Geschichten, die ich erzähle, sind nicht zu hart oder zu grausam, vielmehr lassen sie Kinder zwischen Gut und Böse unterscheiden - und das ist für Kinder ganz wichtig.

Sie präsentieren Ihre Geschichten in Schulen und bei Veranstaltungen. Wie sind die Reaktionen der Kinder?
Kinder lieben Tiergeschichten - vor allem, wenn sie nicht vorgelesen, sondern lebendig erzählt werden. Ich erzähle die Geschichten, wie es der afrikanischen Tradition entspricht, weshalb die Kinder dann etwas anderes erleben, als sie gewohnt sind. Bei einer afrikanischen Erzählung wird mit Musik, Klatschen und Pantomime gearbeitet, sie wird theatralisch inszeniert. Wenn ein Vogel im Märchen schreit, dann schreit auch der Erzähler.
Sind das Geschichten, die ausschließlich für Kinder erzählt werden?
Die Geschichten werden für alle Altersgruppen erzählt, denn in den Dörfern, aus denen diese Tradition stammt, sitzen am Abend alle zusammen, Erwachsene und Kinder. Schließlich haben ja auch Erwachsene sie erfunden.
Wie wird man Geschichtenerzähler?
Bei uns heißt es, dass man als Geschichtenerzähler geboren wird. Es ist eine Kunstform, für die man Talent mitbringen muss. In manchen Familien ist das stark ausgeprägt: Jemand wird geboren - und erzählt. Eine Erklärung dafür gibt es nicht. Im Laufe des Tages sind die Menschen in der Landwirtschaft tätig, am Abend kommen sie dann zusammen. Und alles, was man untertags erlebt hat, kann man auch als Geschichte erzählen. Es gibt auch Erzähler, die von Dorf zu Dorf gehen. Sie haben einen Brotberuf, und das Erzählen ist ihre Berufung, sie wollen die Menschen zusammenbringen. Sie bekommen keine Bezahlung, nur Geschenke.
Aber der Geschichtenerzähler kommuniziert ja offenbar nicht nur verbal . . .
Bei uns wird auch die Trommel verwendet, und jeder Klang hat eine Bedeutung, die das Publikum kennt. Auch die traditionellen Kleider sind Teil der Geschichte. Bereits wenn ich die Kleider anziehe, habe ich mich in die Rolle des Geschichtenerzählers begeben. Das Publikum wiederum weiß, warum der Erzähler heute diese Kleidung trägt. Mit gewissen Kleidern sende ich spezielle Botschaften - etwa: Gott ist allmächtig. Wenn ich dieses Kleid anziehe, hat die Erzählung an diesem Tag mehr einen spirituellen Charakter. Und wenn ich durch die Symbolik meiner Kleidung die Botschaft "Vermeidet Konflikte" aussende, dann will ich etwas über das Zusammenleben der Menschen erzählen.
Bedienen sich die Geschichtenerzähler der Tradition oder erfinden sie auch neue Stoffe?
Die Geschichten beruhen gewöhnlich auf einer mündlichen Überlieferung, die von Generation zu Generation weitergereicht wird. Man kann die Geschichten adaptieren, Figuren einfügen, die Handlung aktualisieren, aber die Moral bleibt aufrecht. Auch ich kenne die meisten Geschichten, die ich erzähle oder in meinen Büchern präsentiere, aus der mündlichen Tradition. Aber auch ich adaptiere die Geschichten immer wieder: So lasse ich im Buch "Eine Kalebasse voller Weisheit" etwa Wien vorkommen. In der Schweiz fragte man mich, warum. Und ich antwortete: Weil ich hier dahoam bin (lacht).
Wie weit ist diese Tradition des Erzählens noch erhalten? Sie kommt ja vom Land und wird von zwei Seiten angegriffen: Von Medien wie Fernsehen und Internet und von der zunehmenden Urbanisierung.
Ich habe in den letzten Jahren immer wieder Lesungen in Ghana gemacht, weil man spürt, dass vor allem in den Städten, wo man Fernsehen und Internet schnell zur Verfügung hat, die traditionellen Erzählungen zusehends verloren gehen. Man versucht, diese Tradition wieder lebendiger zu machen. Diese ist aber ohnehin in vielen Dörfern weiterhin vorhanden. Dort steht noch immer der Mensch - und nicht das Fernsehen im Mittelpunkt.
"Nur wer unterwegs ist, kann ankommen", heißt es in dem Buch, in welchem Sie afrikanische Sprichwörter sammeln. Gilt das auch für Ihr Leben? Mussten Sie nach Österreich gehen, um wieder in Ghana anzukommen?