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"Mein Denken geht über die Hand"

Von Oliver Bentz

Reflexionen
DIe Künstlerin in ihrer Wiener Umgebung.
© Bentz

Die Wiener Künstlerin Linde Waber berichtet über ihre Umwege zur Kunst, beschreibt das Glück der Zusammenarbeit mit Kollegen - und erklärt, warum es reizvoll ist, in Ateliers befreundeter Künstler zu zeichnen.


"Wiener Zeitung": Frau Waber, wie kamen Sie zur Kunst?

Linde Waber: Das waren große Umwege. Ich habe zwar als Kind sehr gerne gezeichnet, wollte aber eigentlich nie Malerin werden. Schuld daran, dass ich zur Kunst gekommen bin, war meine Mutter. Sie hatte die Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie gemacht, dann aber geheiratet. Ich glaube, sie hat ein Leben lang bereut, nicht studiert zu haben. Sie war es, die mit meinen Zeichnungen auf die Akademie gegangen ist und sie Professor Pauser und Professor Dobrowsky gezeigt hat. Die haben gemeint, dass sie froh wären, wenn ihre Studenten in den höheren Semestern so gut zeichnen würden, wie ich es schon könne. Da stand für meine Mutter fest, dass ich Malerin werden muss.

Oft reagieren Eltern wenig begeistert, wenn ihre Kinder einen künstlerischen Beruf ergreifen wollen - bei Ihnen aber war das gerade umgekehrt!

Das kann man wohl sagen. Ich habe die Aufnahmeprüfung an der Akademie sofort geschafft, war aber dort alles andere als glücklich. Für mich gilt sicherlich, dass mich das Leben mit all seinen Möglichkeiten fasziniert: Ob das jetzt Tanzen, Eislaufen, Skifahren, Ausgehen, Lesen oder das Reisen ist - mir hat immer alles Freude gemacht. Das Zeichnen war schön, aber durchaus nicht das Wichtigste für mich. Ich habe halt mein Studium gemacht. Der Professor Martin war sehr unglücklich mit mir und wollte mich auch hinauswerfen. Ich bin nämlich meist erst mittags gekommen, habe mich hingesetzt und etwa Krawatten für Verehrer gestrickt, bin abends ausgegangen und war überhaupt keine fleißige Akademie-Studentin. Ich habe das Stu-dium aber beendet - und als ich den Lehramtsabschluss hatte, wünschte sich mein Vater - ich stamme aus einer Akademikerfamilie -, dass ich einen "gescheiten" akademischen Abschluss mache. So habe ich Professor Melcher gefragt, ob ich bei ihm das Diplom machen könne - und nachdem er meinte, bei ihm hätten das "schon Deppertere" als ich geschafft, habe ich das Diplom in Malerei und Graphik erlangt.

Während Ihres Studiums haben Sie auch Oskar Kokoschkas "Schule des Sehens" in Salzburg besucht. Welche Erinnerungen haben Sie an diese legendäre Einrichtung?

Dort teilzunehmen war sehr teuer. Meine Großmutter hat mir das bezahlt. Ich bin sehr gerne hingegangen. Ich war damals das erste Mal in Salzburg und empfand dort eine tolle Atmosphäre. Es liefen gerade die Festspiele und ich ging jeden Abend in eine Generalprobe oder Vorstellung. Mir hat auch das Aquarellieren mit dem Kokoschka sehr viel Spaß gemacht. Bei Kokoschka haben sich die Modelle bewegt, man musste schnell arbeiten. Das hat mir besonders gut gelegen. Kokoschka hat mich sehr gelobt. Sein Lob war es wohl auch, das bei mir erstmals so etwas wie den Funken für die Kunst entzündet hat. "Madl, du hast was gesehen", hat er immer zu mir gesagt und mir seine berühmten Heller-Bonbons als Belohnung gegeben. Ich habe dann für meine Arbeiten auch einen Preis bekommen. Kokoschka war schon imponierend, etwa wenn er mit seinem Mitarbeiterstab und den Pressevertretern durch die Räume ging. Er hatte eine große Aura. Es war sehr interessant, diesen Menschen kennen zu lernen. Wenn man es genau nimmt, sind es immer die Menschen, die ich suche. Meine Neugier auf das Leben besteht darin, zu erkunden, was das menschliche Dasein eigentlich ausmacht.

Linde Waber mit dem Interviewer in ihrem Atelier.
© Bentz

Dafür eignet sich die Kunst ja nicht schlecht. Was hat Sie dann endgültig für sie gewonnen?

Die Kunst und die Malerei sind erst 1970 für mich wichtig geworden, als ich ein Stipendium in Japan bekam. Ich muss sagen, dass ich schon sehr viel Glück gehabt habe. Ohne diese ununterbrochenen Glücksfälle wäre das alles nicht so gekommen - etwa dass mir Verehrer Ausstellungen angetragen haben, oder dass ich meinen Mann, der Arzt war, kennen gelernt habe. Ihm waren Pädagogen äußerst unangenehm, er wollte deshalb nicht, dass ich unterrichte, und hat mich in meiner freischaffenden Arbeit großartig unterstützt.

Ich habe mich dann - der Idee von Professor Melcher folgend - auf Farbholzschnitte spezialisiert. Das ist mir sehr entgegengekommen, hat mir von der Technik her sehr gut gefallen, weil man da sehr abstrakt denken und kons-truieren muss und es auch eine harte manuelle Arbeit ist. Melcher war es auch, der gesagt hat, wenn ich Farbholzschnitte mache, müsse ich nach Japan gehen. Ich wollte das gar nicht. Ich war frisch verheiratet. Aber dann hatte ich das Stipendium - und bin gegangen. Und das war der eigentliche Sprung in die Kunst.

Was zeichnet künstlerisches Arbeiten für Sie speziell aus?

Es gehört für mich zum Leben wie Essen, Trinken, Lieben oder Schlafen. Da ich Mutter von zwei Kindern bin und ein Kind Schulschwierigkeiten hatte, habe ich eigentlich gar keine Zeit für die Kunst gehabt. Aber durch dieses unbedingte Arbeiten-Wollen oder -Müssen habe ich oft erst um Mitternacht zu zeichnen begonnen. Eine Freundin, die Schriftstellerin Liesl Ujvary, hat diese Zeichnungen gesehen und sie hochinteressant gefunden. Das war der Beginn des Zyklus meiner Atelierzeichnungen.

In einer "Tageszeichnung" übermalte Linde Waber ein Foto, auf dem sie mit Bodo Hell, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl zu sehen ist.
© Bentz

Diese Atelierzeichnungen, die schon in aller Welt ausgestellt wurden, sind ein großer Bestandteil Ihres künstlerischen Werkes. Wie hat sich das Zeichnen in den Ateliers von Kulturschaffenden ausgebreitet?

Angefangen hat es, wie erwähnt, mit Liesl Ujvary. Sie hat mir mit ihren Ideen und ihren Werken sehr geholfen. In ihrer Wohnung fühlte ich mich zu Hause und es fiel mir gar nicht schwer, dort zu zeichnen. Anfangs ging ich meist zu Menschen, die ich gut kannte. Es kostete mich zunächst große Überwindung, in fremden Räumen die Zeichensachen auszupacken und anzufangen, obwohl jemand anwesend ist. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich wahnsinnig aufgeregt war, als ich das erste Mal bei Friederike Mayröcker zeichnete. Ich bin hingekommen und es klebte ein roter Zettel an ihrer Tür, auf dem stand: "Bitte laut klopfen". Sie machte mir dann auf und ging weg. Ich stand in diesen für mich geheiligten Räumen in der Zentagasse (in Wien Margareten, Anm.). Da stapelten sich Papiertürme. Sie hatte Papierkonvolute mit Wäscheklammern zusammengefügt und übereinander gestapelt. Ich zeichnete das und war dabei unvorstellbar aufgeregt. Wenn ich heute zu ihr zeichnen gehen darf, erfasst mich noch immer der Zauber, der von dieser Frau ausgeht.

Was erfährt man über einen Künstler, wenn man in seinem Atelier zeichnet?

Es ist eine ganz eigenartige Lernerfahrung. Meistens kenne ich die Kollegen, zu denen ich gehe, kenne auch ihre Werke. Das dritte Glied, das Atelier, bringt immer ein Erstaunen mit sich: "Aha, so schaut es hier aus." Auch nach so vielen Jahren - ich habe 1982 damit begonnen - ist das noch eine ganz große Faszination, dort zu sein, wo künstlerische Werke entstehen. Da gibt es oft unerwartete Erfahrungen, Verwunderung und große Überraschungen. Ich war beispielsweise bei Paul Flora. Er hatte aus seinem Atelier in Innsbruck eine sehr schöne Aussicht - die hatte er aber mit Rollos verhängt. Dieser schwere Mann zeichnete mit extrem spitzen Federn und Bleistiften.

Wenn man in den Räumen mit den Werken der Kollegen länger sitzt und zeichnet - der gastgebende Künstler ist ja oft nicht dabei -, erfasst man oft auch das Wesen der Kunst des Anderen. Nach dem Atelierzeichnen verstehe ich die Kunst der Kollegen meist viel besser als vorher. Es ist mir schon passiert, dass ich bei einem Kollegen gezeichnet habe, zu dem ich halt hingegangen bin, weil er ein lieber Kollege war - und nach dem Zeichnen der Räume, in denen seine Kunst entsteht, war ich von seinem Werk total begeistert. Es gab natürlich auch den umgekehrten Fall, dass ich einen Künstler sehr bewundert habe - und nach dem Zeichnen war diese Bewunderung weg. Das ist immer ein spannender Prozess.

Gibt es etwas, das Sie besonders interessiert, wenn Sie den Ate-lierraum eines Kollegen betreten?

Ich gehe hinein und schaue he-rum. Das ist eine vollkommen intuitive Sache. Wobei für mein Arbeiten generell gilt, dass ich ein sehr aus dem Bauch heraus arbeitender Mensch bin; bei mir geht alles nach Gefühl und Intuition. Ich komme in einen Raum hinein - und mir fällt etwas auf. Ob das jetzt eine Postkarte ist, die da liegt, oder ein Kleiderbügel an der Wand, irgendetwas. Es gibt natürlich auch komische Dinge.

Bei Rudolf Hradil stand eine Waschmaschine im Atelier. Das fand ich skurril. Jedes Atelier hat eine andere Stimmung. Florian Pumhösl hatte etwa nur Schachteln, die übereinandergelagert waren. Da hätte man auch mit dem Lineal zeichnen können. Ähnlich bei Hermann Painitz: Da lagen die Lithosteine fugengleich übereinander. Dann gibt es Ateliers, in denen sozusagen alles zugewachsen ist. Etwa bei Balduin Sulzer. Viele Menschen würden sagen, das ist Unordnung. Ich glaube, dass Ordnung und Chaos in irgendeiner Form auf das Gleiche hinauskommen. Es gibt Menschen, die ungeheuer chaotisch wirken, aber in ihrem jeweiligen System sehr geordnet sind.

Der legendäre Sammler und Museumsgründer Rudolf Leopold war über Jahrzehnte der wohl wichtigste Sammler Ihrer Werke. Wie haben Sie ihn erlebt?

Das war eine ganz große Freude für mich, dass Rudolf Leopold meine Sachen geschätzt und gesammelt hat. Ich war sehr aufgeregt, als ich in den 1980er Jahren hörte, dass er in einer Ausstellung von mir in der Galerie Würthle gewesen sei und Bilder gekauft habe.

In meiner Ausstellung in der Albertina 1985 habe ich ihn dann richtig kennen gelernt. Da hat er auch wieder einige Bilder gekauft. Von da an ist er öfter ins Atelier gekommen. Das war immer eine aufregende Sache. Ich hatte ja kein richtiges Atelier, sondern arbeitete in der Wohnung, in der wir mit den zwei Kindern lebten. Mein Sohn, damals ein kleines Bürscherl, hat vor Leopolds erstem Besuch gemerkt, dass ich nervös war. Ich habe ihm erklärt, dass jetzt ein wichtiger Besucher kommt, der Bilder kaufen will. Da ist mein Sohn, als es klingelte, mit allem, was er je gemalt hatte in der Hand, zur Tür gerannt, damit der wichtige Sammler ihm etwas abkauft. Das hat den Leopold köstlich amüsiert.

Ich habe sehr viel von ihm gelernt. Er hat einen ungeheuer treffsicheren Geschmack für meine Arbeiten gehabt und mir Hinweise gegeben, für die ich ihm sehr dankbar war. Meine ersten Ölbilder fand er grässlich. Die habe ich dann alle übermalt. Ich war überglücklich, als er das erste Ölbild von mir kaufte. Sein jahrelanges Sammeln meiner Bilder hat dann dazu geführt, dass ich 2010 eine große Retrospektive im Leopold Museum bekam.

Ein anderes Signum Ihrer Arbeit ist, dass Sie gerne mit Kollegen zusammenarbeiten, etwa mit Friederike Mayröcker oder Bodo Hell. Warum?

Das Schönste an meinem Beruf ist, dass ich durch das künstlerische Tun mit Menschen zusammenkomme, die man normalerweise nicht kennen lernt. Das betrachte ich als großes Glück meines Berufes, dass ich Friederike Mayröcker, Bodo Hell und viele andere Künstler, Schriftsteller und Musiker kennen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten durfte. Ich gehe ja mit diesen Gefährten auch immer ein Stück Weg mit.

Da ich auch seit Jahrzehnten diese Tageszeichnungen mache - also jeden Tag eine Zeichnung zu den Erlebnissen und Geschehnissen -, kommt das, was man mit den Kollegen erlebt, auch in diesen Zeichnungen vor. Wenn ich etwa mit Friederike Mayröcker zusammentreffe, schreibt sie in die Tageszeichnung immer ein "F" hinein. Dieses "F" wird dann von mir umrandet, damit kein anderer in ihren Kosmos hineinschreibt. Oder wenn ich über sie, Bodo Hell oder andere Kollegen etwas in der Zeitung entdecke, dann wird das in die Zeichnung hinein collagiert. Überhaupt lasse ich immer gerne Kollegen an meinen Tageszeichnungen mitarbeiten. Das macht alles viel lebendiger und spannender.

Wie sind Sie darauf gekommen, das aufwändige Projekt der Tageszeichnungen zu starten?

Das hat sich ergeben. Ich hatte überhaupt keine Zeit. Aber der Drang zum Arbeiten war so schmerzhaft, dass ich, wenn ich einen Tag nichts gemacht habe, das Gefühl hatte, dass mir etwas fehlt. Deshalb habe ich einen Zyklus mit täglichen Zeichnungen begonnen. Das habe ich in Singapur angefangen und ein Jahr lang durchgehalten. Dann habe ich nur mehr Wochen- und Monatszeichnungen gemacht und schließlich aufgehört. Aber mir ist diese Tätigkeit so abgegangen, dass ich 1988 wieder mit den Tageszeichnungen begonnen habe. Ich finde das sehr befriedigend. Das ist ein bisschen so, wie jeden Tag einmal tief Luft zu holen. Da denke ich nach, schaue mich um, fange mit einem Strich an - mein Denken geht über die Hand - und dann ist das schon da. Ich werde das sicherlich bis zum Ende meines Lebens machen.

Was haben Künstler, was andere Menschen nicht haben?

Friederike Mayröcker hat einmal in einer Rede gesagt, dass ihre künstlerische Begabung eine Art Rucksack ist, den sie durchs Leben trägt. Die Gabe, das Geistige auszudrücken, ist ein Privileg, das den Künstlern vorbehalten ist. Andererseits ist das ein schwerer Rucksack, den man nicht einfach ablegen kann, denn ein Künstler bleibt immer Künstler.

Linde Waber, 1940 in Zwettl ge-boren, studierte an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und absolvierte die Meisterklasse für Graphik bei Prof. Martin und Prof. Melcher.
Die Malerin, die in Wien lebt und eine der renommiertesten Vertreterinnen der österreichischen Gegenwartskunst ist, hat ihre Arbeiten seit 1970 auf der ganzen Welt, besonders auch in Asien, ausgestellt. Über Jahrzehnte erwarb der Sammler Rudolf Leopold ihre Bilder. Im Leopold Museum sowie im Künstlerhaus und der Albertina hatte sie ihre umfangreichsten Wiener Ausstellungen.
Bei ihren künstlerischen Projekten arbeitet Linde Waber gerne auch mit Vertretern anderer Kunstsparten zusammen, etwa mit der Schriftstellerin Friederike Mayröcker oder dem Autor Bodo Hell, mit denen sie auch mehrere Künstlerbücher herausgab.
Seit 1982 besucht Linde Waber Künstlerkollegen auf der ganzen Welt, um in deren Ateliers zu zeichnen. In vier Jahrzehnten entstand dabei in hunderten von Zeichnungen ein beeindruckendes Panorama von zeichnerisch in Besitz genommenen künstlerischen Produktionsstätten.

Oliver Bentz, geb. 1969, lebt als Germanist. Kulturpublizist und Ausstellungskurator in Speyer.