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"Wer bin ich ohne Handy und Medien?"

Von Rudolf Stumberger

Reflexionen

40 Jahre nach Erscheinen von Erich Fromms Bestseller "Haben oder Sein" spricht der Psychoanalytiker Rainer Funk über die Aktualität des Buches und über heutige Probleme, mit denen er in seiner Praxis konfrontiert ist.


"Wiener Zeitung": Erich Fromms Buch "Haben oder Sein" ist vor 40 Jahren, also 1976, erschienen und wurde schnell ein sehr großer Erfolg, es wurde regelrecht zu einem Kultbuch. Warum stieß es auf so große Resonanz?Rainer Funk: Die meisten Leute haben es damals verstanden als einen Aufruf weg vom kapitalistischen Denken, quasi als eine Art Bibel für postmaterialistische Werte. In der breiten Öffentlichkeit war eine große Bereitschaft spürbar, nach Alternativen zur Wohlstandsgesellschaft zu suchen. Es war die Zeit des Ausprobierens: Öko-Landwirtschaft, Kommunen, alternative Lebensweise. Der Grundtenor lautete: weg von diesem materialistischen Streben. Fromm hat mit diesem Buch den Zeitgeist getroffen. Allerdings wurde die psychologische Dimension des Buches oft nicht verstanden. Die damalige Interpretation ging in Richtung Askese, Verzicht - und das war überhaupt nicht die Intention von Fromm gewesen. Er saß im schönen Locarno, war mit einer reichen Amerikanerin verheiratet und lebte keineswegs asketisch. In "Haben oder Sein" geht es vielmehr um zwei Grundeinstellungen zum Leben: Entweder man orientiert sich an etwas, an dem man sich festhalten kann, an Dingen, und damit ist immer eine Orientierung von außen nach innen gemeint. Oder man lebt aus seinen eigenen geistigen, emotionalen und körperlichen Kräften heraus und steht so quasi auf eigenen Füßen.

Wie aktuell ist "Haben oder Sein" heute noch?

Die Aktualität hängt davon ab, wie man diese Alternative versteht. Geht man von dem Verständnis von vor 40 Jahren aus, nämlich, dass die Menschen von einer großen Habgier bestimmt sind, dann stimmt das in Einzelfällen auch heute noch. Die breite Bevölkerung ist aber nicht habgierig. Im Gegenteil, die heranwachsende Jugend hat es mit dem Teilen und will alles gemeinsam machen. Sieht man die Botschaft des Buches so, wie die meisten es vor 40 Jahren verstanden haben, dann würde ich sagen, ist es ein Buch der Vergangenheit. Wenn man es aber von der psychologischen Ebene her begreift, so wie Fromm das Buch auch gemeint hat, dann ist es immer noch sehr aktuell. Die Orientierung am Sein meint eben keine Orientierung am Nicht-Haben, sondern an den mir eigenen körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten. Am Sein orientiert zu sein, meint, selbst zu denken, selbst zu fühlen, selbst zu wollen, selbst zu urteilen, ein eigenes Interesse zu spüren und aus eigenen Antrieben zu leben. Versteht man das Buch so, dann hat es eine ganz hohe Aktualität, weil über die neuen medialen Möglichkeiten wir in zunehmenden Maße von außen nach innen leben.

Man muss auch die Frage der Orientierung am Haben von der Gegenwart aus stellen und fragen: Was bedeuten uns heute die sozialen Medien, was bedeuten uns die Unterhaltungsmedien? Wie sehr definieren sie mein Fühlen, mein Denken? Was und wer bin ich ohne diese Medien? Was kann ich noch mit mir und anderen anfangen, wenn ich kein Handy habe, keine Unterhaltungsmöglichkeiten? Kann ich aus mir selbst schöpfen und sein?

Mit welchen Leiden kommen die Menschen heute zu Ihnen in Psychotherapie?

In der Regel geht es darum, dass sie mit den realen Anforderungen, mit der Arbeitswelt, in Beziehungen, in der Erziehung, nicht mehr richtig klar kommen. Das heißt, dass sie sich getrieben fühlen und in eine Beschleunigung hineingeraten, die sie immer hektischer werden lässt und unter Druck bringt. Das führt dazu, dass dieses beschleunigte Leben irgendwie aus der Bahn gerät. Aus psychologischer Perspektive kommt es dann zu dem, was man heute gern "Burn Out" nennt: Angst- und depressive Störungen mit einer ganz eigenen Dynamik. Jede Kraft, jede Energie geht verloren, die Leute sind völlig "ausgepowert".

Das hat ja wohl weniger mit der individuellen Situation der Menschen als mit dem zu tun, was in unserer Gesellschaft vor sich geht?

Heute soll jeder sein eigener "Unternehmer" sein - und das überfordert die Menschen. Beruf heißt heute, Höchstleistungen zu bringen. Aus meiner therapeutischen Erfahrung würde ich sagen, dass psychische Krankheiten heute viel mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben. Deshalb spielt in der Therapie die reale Arbeitssituation der Patienten eine große Rolle, denn diese Situation wirkt sich ja auf die innerpsychische Dynamik aus.

Kann man wirklich sagen, dass sich soziale und wirtschaftliche Verhältnisse als Spuren in den psychischen Befindlichkeiten wiederfinden?

Fromm konnte zeigen, dass sich die Verhältnisse in den psychischen Strukturen - in dem, was er "Charakter" nennt - wiederfinden. Als Fromm den "autoritären Charakter" untersuchte, war die Beziehung klar. Dort der autoritäre Fabrikant - und da der unterwürfige Arbeiter oder Angestellte, dem gar nichts anders übrig blieb, als zu gehorchen. Bei dem späteren "Marketing-Charakter" ging es dann vor allem um die Anpassung an den Markt und darum, sich selbst am besten zu verkaufen. Dieser Charakter reagiert wie ein Chamäleon auf die sich ändernden Anforderungen der Umwelt. Die Frage ist, zu welcher Sozialcharakterbildung es heute kommt.

Sie sprechen bezüglich der Gegenwart vom Charakter des "selbstbestimmten Menschen". Was meinen Sie damit?

Das meint, dass Menschen sich heute so definieren, sich so "aufstellen", sich so neu erfinden können, wie sie das wollen - ohne Rücksicht auf Vorgaben der Natur oder Maßgaben der Gesellschaft. Heute entwickelt sich zunehmend eine innere Grundstrebung, die total selbstbestimmt ist und sich neu konstruieren will. Die Entwicklung lässt sich nur verstehen, wenn man begriffen hat, was durch die digitale Revolution möglich wurde. Heute lässt sich über virtuelle, simulierte und inszenierte Wirklichkeiten fast alles anders machen und neu erfinden. Das große Problem ist dann, mit der doch immer noch widerständigen Realität klarzukommen. Aber auch hier gibt es die Möglichkeit, in eine virtuelle Wirklichkeit auszuweichen. Durch die Digitalisierung, die elektronischen Medien und die Vernetzung haben viele Menschen den Eindruck, alles sei möglich. Das führt zu einer Art Konstruktivismus, wobei die Konfrontation mit der rauen Wirklichkeit dann zum Problem wird.

Es heißt ja: Auch wenn man verreist, man nimmt sich selbst immer mit. Gilt dies auch für Reisen in die virtuelle Welt?

Für Menschen, die von konstruierbaren anderen Welten fasziniert sind, glaube ich, dass das nicht gilt. Sie wollen tatsächlich ein Stück weit in diese andere Wirklichkeit eintauchen und darin sich neu erfinden oder neu erleben können. Das heiß aber nicht, dass das für alle Menschen gilt. Viele kommen mit einer Situation, bei der alles zur Disposition steht, gar nicht klar und suchen sich an der gewohnten Realität festzuhalten, um sich nicht völlig aufzulösen. In der aktuellen Flüchtlingsdebatte kann das dann etwa das "Deutschtum" oder unsere "abendländischen Leitkultur" sein. Auch die fundamentalistischen Bewegungen - in den USA etwa die "Teaparty-Bewegung" - sind ein Zeichen dafür, dass die Menschen mit diesen völlig flexibilisierten Verhältnissen nicht klar kommen. Deshalb ist diese Charakterorientierung des "Selbstbestimmten" auch noch nicht bei der Mehrheit zu beobachten. Sie betrifft derzeit etwa 20 bis 25 Prozent der Menschen, ist vor allem in kreativen Berufen und in der IT-Branche zu finden und bei allen, die mit der digitalen Revolution groß geworden sind. Die heute dominierende Sozialcharakterorientierung ist noch immer die des Marketing-Charakters.

Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist entgrenzt wie nie. Wie schätzen Sie diesen Prozess ein?

Entgrenzen heißt, dass man Grenzen beseitigen will. Man kann das auf zweierlei Weise tun. Entweder man beseitigt die Grenzen, zum Beispiel Ländergrenzen, real - oder man beseitigt Grenzen virtuell, indem man Wirklichkeiten produziert, in denen diese Grenzen nicht mehr gegeben sind. Diese Art der Entgrenzung gab es im kulturellen Bereich schon immer, etwa in der Barockzeit. Das, was mit der digitalen Revolution möglich geworden ist, ist ganz umfassend und für jeden erfahrbar und realisierbar, man denke nur an die Entgrenzung von Raum und Zeit durch die Vernetzungstechnik und die elektronischen Me-dien. Für mich sind es vor allem die heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten, warum Menschen eine so starke Leidenschaftlichkeit entwickelt haben, selbst auch alles entgrenzen zu wollen.

Die zweite Quelle für dieses Streben nach Entgrenzung sind die Forderungen von Wirtschaft und Gesellschaft, selbst zur Entgrenzung beizutragen. Man muss flexibel sein und trägt für das Projekt selbst unternehmerische Verantwortung. Auch für die Rente und die soziale Absicherung muss man immer mehr selbst aufkommen. Hier gibt es keine schützenden Grenzen mehr und die Menschen beginnen, sich mit diesen Forderungen zu identifizieren, obwohl sie darunter leiden, dass es keinen Schutz mehr gibt. Die Identifizierung mit den Entgrenzungsforderungen ist der zweite psychische Mechanismus, der dazu führt, selbst auch alles entgrenzen zu wollen.

Das Entgrenzungsstreben wird vor allem dann problematisch, wenn der Wunsch, alle Grenzen zu beseitigen, sich auch auf die eigene geistige und psychische Ausstattung bezieht: Wenn alles, was mich einschränkt - meine Müdigkeit, meine Antriebslosigkeit etwa - auch entgrenzt werden soll, etwa durch leistungssteigernde Mittel oder dadurch, dass eine simulierte Persönlichkeit antrainiert wird, in der man immer nur ‚gut drauf‘ ist, keine negativen Gefühle anderen gegenüber entwickelt, alles nur großartig ist - bis man selbst auch gar nicht mehr merkt, dass nur noch simulierte Gefühle ausgetauscht werden. Wenn man sich auf diese Weise völlig neu erfindet, dann halte ich das für problematisch.

Sie schreiben, dass Grenzen für die Entwicklung des Ichs wichtig sind. Ist das Internet mit seiner Grenzenlosigkeit eine Art Hybris des Menschen?

Ich werde mich hüten, zu einem kulturpessimistischen Kritiker zu werden, weil ich selbst diese technischen Segnungen doch auch sehr genieße und nicht auf sie verzichten möchte. Aber es ist zu fragen, wo sie an die Substanz gehen. Ich halte es psychologisch für unerlässlich, dass der Mensch auch einen Zugang zu seinen negativen Wahrnehmungen hat, weil er sonst mit Schicksalsschlägen und widrigen Umständen nicht mehr fertig wird. Ich halte es zum Beispiel in der Erziehung für fatal, wenn man dem Kind keinen realitätsgerechten Spiegel vorhält. Man tut niemandem einen Gefallen, ihm immer nur in idealisierender Weise zu begegnen. Und man kann jemanden nur lieben, wenn man ihn in der Ambivalenz seines Lebens sieht und spiegelt.

Was wir in vielen Therapie machen, ist meist nichts anderes als die Menschen wieder auf den Boden der begrenzten Realität zurückzuholen. Dass sie auch Enttäuschungen wahrnehmen können und lernen, damit zu leben. Das Leben ist nun einmal positiv und negativ gestrickt.

Politisch gesehen wird derzeit der Prozess der Entgrenzung im europäischen Schengen-Raum durch einen Prozess neuer Grenzsetzungen abgelöst. Die Zäune werden wieder hochgezogen. Gibt es auch in der Politik eine Grenze der Entgrenzung?

Für viele Menschen führt ein entgrenztes Leben zu einer Orientierungslosigkeit, auf die manchmal mit einer Zuflucht bei erneuten Abgrenzungen reagiert wird. Regeln bieten auch Sicherheit. Wenn es um die eigene Identität und die eigene Emotionalität geht, kommen wir nicht umhin, mit Grenzen zu leben. Je entgrenzter Menschen leben, desto größer ist die Gefahr der völligen Atomisierung und Isolierung. Eben darum suchen entgrenzte Menschen die Verbundenheit. Nur so lässt sich das ungeheure Bedürfnis der Menschen heute verstehen, über die sozialen Medien permanent verbunden zu sein - um ja nicht aus der Gesellschaft zu fallen.

Gibt es Orte in der Gesellschaft, in denen sich ein Leben aus dem Inneren heraus besser realisieren lässt?

Es gibt viele Arten an Heilungsversuchen. Ein Phänomen zum Beispiel ist, wenn immer mehr Menschen in Chören singen. Singen ist überhaupt eine großartige Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Stimmungen zu artikulieren. Auch über Literaturzirkel oder Selbsthilfegruppen gibt es Möglichkeiten, sich in geschützten Gruppen mit wohlwollender Atmosphäre auszutauschen. Es gibt viele dieser Nischen, in denen Menschen versuchen, das Eigene wiederzugewinnen und sich zu erhalten.

Rainer Funk wurde 1943 geboren, studierte Philosophie und Theologie, und lebt als Psychoanalytiker in Tübingen. Von 1974 bis 1980 war er Assistent des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers und Sozialpsychologen Erich Fromm (1900-1980), über den er 1977 promovierte und dessen zehnbändige Gesamtausgabe er von 1975 bis 1981 editierte. Fromm setzte Funk als seinen Nachlassverwalter ein. Seitdem baut dieser aus dem Nachlass und der Bibliothek Fromms in Tübingen das Erich-Fromm-Archiv auf. Er ist Inhaber der Rechte an Fromms Schriften und im Vorstand der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft tätig.

1976 erschien das Buch Fromms, das den Nerv der damaligen Zeit traf: "Haben oder Sein" . Das gesellschaftskritische Werk wurde rasch zu einem Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Welche Auswege gibt es aus der Krise der Gesellschaft und des Individuums? lautete die grundsätzliche Frage - und Fromm beantwortet sie mit dem Hinweis auf eine Seins-Orientierung des Menschen. Solidarität, Erfüllung wahrer Bedürfnisse anstatt Ersatzbefriedung durch Konsum, Kooperation zwischen Mensch und Natur waren einige seiner Stichworte dazu. Heute wird Erich Fromm wieder vermehrt gelesen, in China etwa beschäftigen sich mehrere hundert wissenschaftliche Abschlussarbeiten mit seinem Werk. 40 Jahre nach dem Erscheinen von "Haben oder Sein" gibt es an Krisen keinen Mangel . . .

www.erich-fromm-online.de/

RudolfStumberger,geboren 1956, arbeitet als Journalist und freiberuflicher Dozent für Soziologie und Wirtschaft in München.