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"Ich habe eine sehr asiatische Phantasie"

Von Piotr Dobrowolski

Reflexionen

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk wurde heuer mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet. Im Interview erzählt er über seine geheimen Freuden, den Schöpfungsplan Gottes und warum ihn die Mongolei mehr interessiert als Venedig.


"Wiener Zeitung": Ihr jüngstes Buch heißt schlicht "Der Osten". Sie selbst brechen gerade nach Tatarstan auf. Dabei haben Sie unlängst gesagt: Mit dem Osten bin ich fertig, der interessiert mich nicht mehr.

Andrzej Stasiuk: Dann haben Sie mich jetzt erwischt - bei meinen geheimen Freuden und Lustbarkeiten. Ich kann mich allerdings, ehrlich gesagt, nicht erinnern, dass ich je gesagt hätte, ich wäre mit dem Osten fertig. Aber selbst wenn ich diesen Satz tatsächlich einmal gesagt haben sollte: Mich interessieren nun mal Länder, die schwer zu verstehen sind, die uns möglicherweise noch lange Probleme bereiten werden. Russland, China, Zentralasien, das ist die Welt, die mich bewegt. Das hat nichts mit einer bewussten Wahl zu tun, die ich getroffen hätte. Das ist eher eine Frage meines Temperaments, meiner Herkunft. Es ist etwas derart Fundamentales, dass ich darauf in Wirklichkeit gar keinen Einfluss habe. Ich habe das Glück - oder das Pech -, dass mich Paris nicht interessiert, Kasan aber schon. Mich interessiert auch Venedig nicht. Ich bin zwei Mal vor Venedig im Stau gestanden, habe aber nie das Bedürfnis gehabt, mir diese Stadt genauer anzusehen.

Vom Osten hingegen, von dem können Sie nicht genug bekommen.

Der Osten, das ist für mich vor allem die Erfahrung einer metaphysischen Weite, das ist ein Erleben von Raum, das es in dieser Art nirgendwo auf der Welt gibt. Für jemanden, der wie ich aus einem kleinen Land kommt, ist das unglaublich beeindruckend. Ein anderer Punkt ist: Im Kommunismus war es für einen Polen unmöglich, nach China oder quer durch Sibirien zu reisen. Heute geht das. Ich fahre in diese Länder auch deshalb, weil ich gern verstehen würde, wie es zu der Apokalypse des Kommunismus kommen konnte. Wobei ich doch weiß: Ich werde es nie verstehen.

Wenn Sie das ohnehin wissen, wozu fahren Sie dann noch immer hin?

Weil die Wahrheit, die ich suche, eine andere ist als die objektive Wahrheit, nach der Journalisten oder Historiker suchen. Ich suche meine einmalige, persönliche, subjektive Wahrheit, und die kann ich nur im Osten finden. Das ist jetzt keine antiwestliche Haltung, nein. Aber ich bin mir meiner Zugehörigkeit zum Westen so sicher, dass ich mir diese Zugehörigkeit nicht immer wieder durch Reisen nach Italien oder Deutschland beweisen muss. Viele Polen sind nach dem Fall des Kommunismus ja in den Westen gefahren, um zu sehen, wie dieser Westen, nach dem sie so eine große Sehnsucht hatten, nun wirklich ist. Auch ich war inzwischen oft in Deutschland und in Italien, aber immer nur als eine Art literarischer Gastarbeiter, bei Lesungen, bei Buchmessen. Aus eigenem Antrieb fahre ich da nicht hin.

Hat Ihnen Deutschland nicht gefallen?

Doch, es ist sehr nett dort. Ich habe keine antideutschen Vorurteile. Auch Wien ist sehr nett, ich habe meine Tochter einmal sogar bis nach Wien chauffiert, damit sie sieht, wie die melancholische Hauptstadt des ehemaligen Kaiser-Imperiums aussieht. Auch in Rom fand ich es schön. Aber ich habe an keinem dieser Orte das Gefühl gehabt, dass ich wiederkommen müsste. Berlin, Rom, Wien - das sind Plätze, an denen meine Phantasie stillsteht. Von China, von der Mongolei, von Sibirien wird sie hingegen beflügelt. Offenbar habe ich eine sehr asiatische Phantasie. Das mag daran liegen, dass es in meiner Literatur sehr stark um Landschaften geht, weniger um Menschen, die in diesen Landschaften leben. Die sind sozusagen Beiwerk, schon auch Teil des göttlichen Schöpfungsplans, aber eben nur eine Ergänzung zu dieser endlosen Weite. Ich mag diese Weite. Ich mag auch, wie sich die Landschaft, die Architektur, die Gesichter der Menschen verändern, je weiter man nach Osten kommt.

Viele Reporter fahren in den Osten, in die Armut, in Krisengebiete, weil sie meinen, sich dort lebendiger zu fühlen als im sicheren, langweiligen, konsumgetriebenen Westen. Kennen Sie das Gefühl auch?

Also, wenn Sie nach Peking kommen, haben Sie ja nicht unbedingt das Gefühl von Armut. Das ist eher wie Manhattan, nur eines, das unaufhörlich wächst. Außerdem bin ich kein Reporter. Es mag vordergründig Ähnlichkeiten zwischen dem Beruf eines Reporters und meinem Beruf geben: Wir brauchen beide das Wegfahren, um schreiben zu können. Da hören sich die Gemeinsamkeiten aber auch auf. Ich kann mir schon vorstellen, dass Reporter das Gefühl haben, lebendiger zu sein, wenn sie in einer Krisenregion unterwegs sind. Aber nach einiger Zeit gehen sie wieder zurück nach Hause und lassen die Leute dort allein.

Mir geht es um etwas anderes. Ich habe eine sehr plastische, sehr bildhafte Art, die Welt zu sehen. Wenn also Armut schon eine Rolle für mich spielt, dann insofern, dass sich an einer kaputten, nicht so aufgeräumten Oberfläche das Licht ganz anders bricht als an einer hübschen, sauberen. Ich schaue mir das dann an und versuche zu verstehen, was dieses Erlebnis mit mir macht. Das sind meine ganz persönlichen und, wie ich hoffe, einigermaßen tiefe Erfahrungen.

Aber auch Sie gehen irgendwann nach Hause und lassen die Leute zurück.

Ja, stimmt. Ich denke aber, dass sie in meinem Schreiben doch weiter existieren. Und ich kehre auch sehr oft zurück. Bis zu einem Grad sind die Landschaften des Ostens, die ich bereise, meine Heimat. Die sind mir schon sehr vertraut. Ich bin im kommunistischen Polen aufgewachsen, ich kann Russisch besser als Englisch. Das hat heute die angenehme Folge, dass ich weite Teile Asiens ohne Sprachprobleme bereisen kann. Und weil wir eben im Kommunismus aufgewachsen sind, kann ich mich mit einem gleichaltrigen Mongolen völlig problemlos verstehen, nicht nur sprachlich, sondern auch deshalb, weil wir die gleichen Erfahrungen teilen. Was ich im Osten suche, das sind ja meine eigenen Erfahrungen, die Erfahrungen des Kommunismus, nur in ihrer anderen, asiatischen Form. Viele Polen tun heute so, als hätte der Kommunismus nichts mit ihnen zu tun gehabt, als wäre er ein Zufall, ein Betriebsunfall. Doch das ist nicht wahr.

Trauern Sie am Ende dem Kommunismus nach?

Wenn ich in diesem Zusammenhang etwas nachtrauere, dann höchstens der Tatsache, dass ich damals jung war und mich für unverwundbar und unsterblich hielt. Aber es wäre ja völlig krank, einem System nachzutrauern, das Abermillionen von Menschen auf dem Gewissen hat. Zugleich war der Kommunismus aber auch das interessanteste und bedeutendste soziale Experiment der letzten Jahrhunderte. Und er war derart gigantomanisch, dass er eben nur von diesen verrückten Russen, in dieser russischen Weite ausgedacht werden konnte. Deshalb lohnt es sich für mich, dorthin zu fahren. Auch um zu sehen, welche Gefahren auf uns in der Zukunft zukommen könnten. Denn da die Welt niemals perfekt sein wird, wird es immer wieder Versuche geben, sie besser machen zu wollen. Und das kann, wie der Kommunismus gezeigt hat, sehr unangenehm werden.

Vor dem Ende des Kommunismus war Warschau definitiv eine östliche Stadt. Und heute?

Hat sie sich ihr östliches Wesen noch immer bewahrt. Sie brauchen nur über die Weichsel in den Stadtteil Praga zu fahren, und schon ist alles ganz anders: die Gesichter, die Stimmungen, die Häuser. Für mich ist die Weichsel immer noch die Trennlinie zwischen Ost und West. Auf dem rechten Ufer der Weichsel beginnt Asien. Aber Sie haben natürlich recht: Warschau hat sich verändert. Ich finde, das steht der Stadt gut, die Wolkenkratzer, die Glasbauten. Warschau ist wild, schnell, eine Stadt, wo sich junge Leute wohlfühlen. Alle meine Kinder sind von Krakau, wo sie zuerst waren, nach Warschau übersiedelt, weil Krakau ihnen zu langweilig, zu konservativ war.

Afrika hat Sie nie interessiert? Da gibt es doch auch viel freie Fläche, auch endlose Landschaften, auch ein ganz besonderes Licht.

Wenn ich nach Afrika reisen würde, wäre ich dort doch nur ein Tourist. Natürlich könnte ich mich dort hinstellen und sagen: Ach, das Licht! Aber ich hätte trotzdem nichts verstanden. Ich finde, dass man ehrlich reisen muss. Das heißt: man muss natürlich gar nichts, aber ich persönlich möchte ehrlich reisen. Ich möchte auch den Background der Länder, in die ich fahre, kennen. Das kann ich in Afrika nie schaffen. Dazu bräuchte ich schon rein zeitlich ein zweites Leben. Und außerdem: Von Afrika sind wir Europäer - selbst bei Gibraltar - durch Wasser getrennt. Ich bin aber ein Landtier. Nach Wladiwostok, bis an das Ende des Kontinents, kann ich mit dem Auto reisen, das gefällt mir viel besser. Da kann ich die Weite, aus der sich meine Literatur speist, am besten erleben.

Sie sagen, Ihre Literatur speist sich aus der Weite. Ein anderer polnischer Schriftsteller, Andrzej Szczypiorski, hat hingegen behauptet: wahre Literatur kennt nur zwei Themen: die Liebe und den Krieg.

Die Literatur hat die angenehme Eigenschaft, dass jeder etwas anderes darunter versteht. Es gibt zum Beispiel Leute, die sagen, Literatur handelt von der Psychologie, von der Begegnung zweier Menschen. Mich interessiert das nicht. Was mich interessiert, ist die Tatsache, dass die Welt überhaupt existiert, und die unglaubliche physische Dimension dieser Existenz. Es fasziniert mich, dass ich diese Welt sehen kann, sie körperlich erleben kann. Der Mensch ist Teil dieser Welt, Teil des göttlichen Schöpfungsplans, aber er ist auch nicht mehr. Und ich negiere den Menschen ja als Schriftsteller nicht ganz. Immerhin habe ich ein paar Romane geschrieben, wo es durchaus auch menschliche Protagonisten gibt.

Jetzt haben Sie schon zum zweiten Mal den göttlichen Schöpfungsplan angesprochen. Gott gibt es also?

Ich weiß jetzt nicht, ob sich das gehört: über Gott sprechen, in einer westlichen, liberalen, aufgeklärten Zeitung . . . Wie schaut das denn aus? Ihre Zeitung ist doch aufgeklärt und liberal?

Ich denke schon. Sie können mit mir aber trotzdem über Gott sprechen.

Ich habe diesen Glauben daran, dass es etwas gibt, das größer ist als wir selbst, aus meinem Elternhaus mitgenommen. Da bin ich katholisch geprägt. Zugleich bin ich wirklich sehr, sehr weit entfernt von der katholischen Orthodoxie.

Aber ich gebe zu: Ich sehe die Welt in religiösen Kategorien. Das ist ja auch viel interessanter, es macht unsere doch oft enge materielle Existenz spannender. Und dass hinter der Welt, wie sie ist, ein Gott steckt, jetzt nicht unbedingt ein Gott mit einem langen weißen Bart, dieser Gedanke ist mir nahe. Wobei die Intensität dieses Gefühls sehr variiert. Manchmal bin ich fast zur Gänze davon überzeugt, dass es Ihn gibt, und manchmal bin ich zerrissen. Aber das ist jetzt kein Thema, das man so einfach in einem Interview abhandeln kann.

Gut, dann frage ich etwas Irdischeres: Im deutschsprachigen Raum sind Ihre Bücher ganz besonders beliebt. Auch andere wichtige polnische Schriftsteller wie zum Beispiel Stanisław Lem waren in Deutschland populärer als anderswo im Ausland. Haben Sie eine Erklärung für diese Präferenz?

Ehrlich gesagt habe ich nie darüber nachgedacht. Vielleicht ist es wegen dem Zweiten Weltkrieg. Vielleicht glauben die Deutschen, dass sie da eine Verpflichtung haben, sich für polnische Literatur interessieren zu müssen? Keine Ahnung. Vielleicht schreibe ich Dinge, die ihnen in ihr Konzept passen? Vielleicht sage ich etwas, was sie noch nie gehört haben? Ich weiß es nicht. Ich habe ja auch nie darüber nachgedacht, warum meine Bücher in Polen gelesen werden. Ein Schriftsteller, der darüber nachdenkt, wie und warum seine Bücher aufgenommen werden, schaufelt sich sowieso sein künstlerisches Grab. Ein Schriftsteller sollte nie über so etwas nachdenken und er sollte auch niemals Karriereplanung betreiben.

Sagen Sie das einmal einem erfolgshungrigen Jungautor.

Ich bin wirklich davon überzeugt, dass Karriereplanung in der Literatur nicht funktioniert. Als Autor muss man das schreiben, was man glaubt, schreiben zu müssen. Der Rest zeigt sich dann. Das heißt nicht, dass jeder, der es verdient hätte, am Ende auch Erfolg haben wird. Da gehört auch noch eine Portion Glück dazu. Ich zum Beispiel habe sehr viel Glück im Leben gehabt. Ich habe auf meinem Weg immer wieder hilfsbereite, herzliche Menschen getroffen, und so hat sich eins aus dem anderen ergeben. Da waren viele, viele gute Zufälle dabei.

Jetzt bin ich in der glücklichen Situation, dass ich das machen kann, was ich will: reisen und darüber schreiben. Aber hätte ich das zu planen versucht, es hätte nicht funktioniert.

Andrzej Stasiuk wurde 1960 geboren und wuchs im Warschauer Stadtbezirk Praga- Poudnie auf. Er engagierte sich in den frühen Achtzigerjahren in der polnischen Opposition. Nachdem er während seines Militärdienstes desertiert war, wurde er zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Stasiuk, der heute in Woowiec in den Niederen Beskiden lebt, gehört zu den bekanntesten polnischen Gegenwartsautoren. Das Schreiben des 56-Jährigen dreht sich immer wieder um den Osten, um Polens Platz zwischen Ost und West, um die Unterschiede zwischen diesen beiden großen kulturellen Räumen. 2008 hat Stasiuk "Dojczland" geschrieben, ein Buch, das sich kritisch-ironisch mit den gegenseitigen polnisch-deutschen Vorurteilen beschäftigt. Stasiuk ist auch ein erfolgreicher Verleger, der in seinem Verlag "Czarne" vielen polnischen Autoren der jüngeren Generation ein Debüt ermöglicht hat. Andrzej Stasiuk wurde heuer mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet, der ihm am 29. Juli im Rahmen der Salzburger Festspiele übergeben wurde. Vor ihm haben den Preis u. a. Patrick Modiano, A. L. Kennedy, Cees Noteboom und Umberto Eco erhalten. Stasiuk schreibt regelmäßig Essays für internationale Medien, etwa für die "Frankfurter Allgemeine", die "Süddeutsche Zeitung", "L’Espresso" oder "Lettre International". Sein jüngstes auf Deutsch erhältliches Buch: "Der Osten". Suhrkamp Berlin 2016, 297 Seiten, 22,95 Euro.