- © Peter Jungwirth
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"Wiener Zeitung": Herr Nüchtern, Sie haben gerade den "Kontinent Doderer" - so der Titel Ihres Buches - durchquert. Gibt es auf diesem Kontinent Regionen, die man Doderer-Neulingen empfehlen kann, und welche, für die man eine Reise-Warnung aussprechen sollte?

Klaus Nüchtern: Meine Kollegin Eva Menasse ist da ganz strikt: Sie meint, dass man als Nicht-Wiener keinesfalls mit der "Strudlhof-
stiege" beginnen darf. Das ist mir zu streng. Man kann es sich halt generell leichter oder schwerer machen: Mit den "Dämonen" anzufangen, ist die Hardcore-Variante. "Ein Mord den jeder begeht" ist hingegen eine gute Einstiegslektüre, auch werkbiographisch, obwohl es nicht mein Lieblingsroman ist. Ich empfinde "Die Wasserfälle von Slunj" als das gelungenste Werk. Das Einzige, was dagegen spricht, ist, dass man - wenn man damit beginnt - das Beste schon hinter sich hat. Denn dieser Roman ist "Doderer in a nutshell" - darin ist alles enthalten, was er kann. Was ich, sollte ich es nochmals lesen müssen, auslassen würde, ist der spätmittelalterliche "SM-Porno" in den "Dämonen". Dieses Kapitel hat so etwas Angeberisches: "Das kann ich auch noch - ich kann Frühneuhochdeutsch schreiben"!

Warum sollte man Doderer heute überhaupt noch lesen?

Klaus Nüchtern im Gespräch mit den "Wiener Zeitung"-Redakteuren. - © Peter Jungwirth
Klaus Nüchtern im Gespräch mit den "Wiener Zeitung"-Redakteuren. - © Peter Jungwirth

Weil er einer der größten Autoren des vergangenen Jahrhunderts ist - und man sehr viel verpasst, wenn man ihn nicht liest. Wobei mir die Frage, ob der jetzt einen halben Kopf größer oder kleiner ist als Thomas Mann, Proust bis zur Nasenspitze oder gar bis zum Scheitel reicht, herzlich egal ist. Man muss halt eine spezifische Affinität zu diesem Autor haben. Und die habe ich definitiv: Erstens, weil ich ihn für einen unglaublich witzigen, ja einen der komischsten Autoren der Weltliteratur halte. Und was mich, zweitens, sehr beeindruckt, sind die Genauigkeit und der Aufwand, den dieser Autor betreibt. Da ist kein Halbsatz unbedacht hingeschrieben, nichts "hingenudelt". Das bizarre System der Reißbrettskizzen, die symphonischen Konstruktionen und all das - daran glaube ich freilich nicht. . .

. . . Das war halt seine "Schreib-Ideologie" . . .

" . . .wie ständige Hinweise auf die Uhrzeit in der "Strudlhofstiege" dem Ganzen einen Takt, einen Rhythmus geben - das finde ich genial!". - © Peter Jungwirth
" . . .wie ständige Hinweise auf die Uhrzeit in der "Strudlhofstiege" dem Ganzen einen Takt, einen Rhythmus geben - das finde ich genial!". - © Peter Jungwirth

. . . Genau, das war seine Schreib-Ideologie, die er wohl für sich selbst gebraucht hat. Wenn man sich diese umständlichen Figurenskizzen etwa zum "Grenzwald" ansieht, oder das Pathos in den Tagebüchern, das alles geht mir ziemlich auf die Nerven. Doderer war haltlos apodiktisch - und trotzdem: Wenn man sich das fade Hauptsatz-Geklapper ansieht, das in der Gegenwartsprosa vorherrscht, war dieser syntaktische Aufwand eine enorme Leistung. Doderer kann einfach alles: Es gibt ein herrliches Figuren-Arsenal, jede Menge Handlung, spannende Krimi-Plots, fantastische Wetterbeschreibungen. Er kann Landschaft genauso gut wie Stadt - und ist sicher einer der besten urbanen Schriftsteller, die es je gegeben hat.

Trotzdem schreiben Sie im Vorwort, dass Doderer noch immer ein "dezidiertes Minderheitenprogramm" ist.

Ich zitiere diese Meinung eher, als dass ich ihr selber anhänge. Außerdem sind wir als Kritiker nicht für Quoten zuständig. Mir ist es egal, ob er 100.000 Leser hat - oder nur 17.000, das ändert nichts an meiner Wertschätzung. Er hat zumindest eine "Ge-
meinde": Doderer-Leser gibt es immer; das sind vielleicht nicht sehr viele, aber dafür sehr treue und hingebungsvolle Leser. Aber ich sage ja zu niemandem: Du musst das lesen!

Ein bisschen schon, denn in dem Buch zeigen Sie ja anhand vieler Stellen, warum sich die Lektüre auszahlt - und auch großes Vergnügen macht.

Ja, ich verstehe mich in der Tat ein bisschen als Doderer-Animateur. Ursprünglich sollte der Titel des Buches ja lauten: "Heimito von Doderer - eine Gebrauchsanweisung". Damit wollte ich darauf hinweisen, dass man diesen Autor benutzen kann, und etwas dafür bekommt, nämlich Lese-Vergnügen. Ich habe schon den Ehrgeiz zu zeigen, wie raffiniert diese "Literaturmaschine" funktioniert. Daher auch - in einem Kapitel - der Truffaut’sche Titel: "Herr von Doderer, wie haben Sie das gemacht?" Wie schon in meinem Buch über Buster Keaton wollte ich auch hier zeigen, wie das "Werkl" rennt und funktioniert.

Apropos Buster Keaton: Der hatte ja fast die gleichen Lebensdaten wie Doderer, 1895 geboren, 1966 gestorben (Doderer: 1896 -1966, Anm.).

Das ist mir auch aufgefallen, allerdings erst im Laufe der Arbeit am Doderer-Buch! Jetzt muss ich mir noch eine dritte Figur suchen, die ebenfalls diese Lebensdaten hat. Weit bin ich damit noch nicht gekommen - aber wenn jemand einen Tipp für mich hat . . . (lacht)

Auf den ersten Blick haben Keaton und Doderer ja nicht viel gemeinsam, aber was verbindet die beiden vielleicht doch?

Also beide haben ziemlich ungesund gelebt und ziemlich viel gesoffen, sonst haben sie wahrscheinlich nur gemeinsam, dass sie in ihrem Handwerk jeweils Weltklasse waren. Und beide waren ziemliche Tüftler.