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"Menschenzüchtung ist völlig unrealistisch"

Von Ingeborg Hirsch

Reflexionen

Der Stammzellen-Experte Jürgen Knoblich über medizinische Hoffnungen, die mit seinem Forschungszweig verbunden sind, und über absurde Vorstellungen, Vorwürfe und Ängste.


"Wiener Zeitung": Herr Professor Knoblich, was sind Stammzellen?

Jürgen Knoblich: Stammzelle ist ein Sammelbegriff für sehr viele Zellen, die alle etwas gemeinsam haben, nämlich, dass sie sich teilen und erneuern können. Zunächst muss man zwischen em-bryonalen und adulten Stammzellen unterscheiden. Die embryonalen sind pluripotent, das heißt, sie können alle Gewebe im Körper herstellen. Diese embryonalen Stammzellen sind ein Zwischenprodukt unserer Embryonalentwicklung, damit ein Em-bryo wachsen und ausreifen kann. Dem gegenüber stehen adulte Stammzellen, die es in so gut wie jedem Gewebe gibt, also in der Haut etwa Hautstammzellen, die permanent das Hautgewebe erneuern. Im Darm gibt es Darmstammzellen, die innerhalb von einer Woche mehr oder weniger den kompletten Darm austauschen. Und auch in unserem Gehirn gibt es Stammzellen, die sich vielleicht einmal pro Woche teilen und neue Nervenzellen erzeugen können.

So hat jedes Gewebe seine eigenen Stammzellen - und die sind quasi ein Perpetuum mobile für zelluläre Ersatzteile, und das macht sie für die Medizin so interessant.

So überlegt, hat ein Mensch sehr viele verschiedene Alter: Der Darm ist etwa jünger als die Zähne. Kann man das so sehen?

Die Darmzellen sind vielleicht jünger, aber das Alter unseres Körpers ist eine Systemeigenschaft. Es ist ja nicht so, dass unsere Zellen nur deswegen altern, weil sie verbraucht werden. Das Altern ist ein gezielter Prozess, unser Körper braucht sich selbst auf und entscheidet sich ganz bewusst, Dinge kaputt zu machen, das ist leider so. Es ist in der Natur so gewollt, dass wir älter werden.

Heißt das, dass man sich mit einer Stammzelltherapie nicht jünger machen kann?

Zumindest nicht den ganzen Körper; das Altern ist ein gewollter Prozess, den man auch mit Stammzellen nicht unbedingt aufhalten kann. Es gibt Abnutzungserscheinungen im Laufe des Alterns, unsere Haut verändert sich, Nervenzellen sterben ab, und diesen Defekten könnte man theoretisch mit Stammzellen begegnen. Aber ich glaube, dass das Poten- tial der Stammzellen nicht darin liegt, gesunde Menschen jünger zu machen, sondern bei Menschen mit schweren und schwersten Krankheiten einzelne Organe funktionell wieder herzustellen.

Eine Leberzirrhose, zum Beispiel, ist eine schreckliche Krankheit, und es gibt als Behandlung nur die Möglichkeit einer Lebertransplantation. Jeder, der mit dieser Situation konfrontiert ist, weiß, wie unglaublich schwer ein Spenderorgan zu bekommen ist. Da gibt es nun Hoffnungen in der Stammzellforschung, dass man ein Organ oder Teile davon in Kultur herstellen und damit das kranke Organ ersetzen kann.

Das ginge dann in Richtung personalisierte Medizin und Ersatzteilproduktion: Wie weit ist diese Entwicklung fortgeschritten?

Ich mag das Wort "Ersatzteilmedizin" nicht, weil es ein bisschen einen abfälligen Unterton hat. Wenn man irgendwann einmal Diabetes Typ 1 heilen kann, indem man funktionierende Inselzellen (Insulin-produzierende Zellen, Anm.) züchten und dem Patienten geben kann, wird man wahrscheinlich erkennen, dass das Ganze ein unglaublicher Durchbruch ist.

Der aktuelle Stand ist, dass man im Labor Hautgewebe aus Hautstammzellen züchten kann, das bei großen schweren Brandverletzungen oder bei bestimmten Formen der Schmetterlingskrankheit dem Patienten transplantiert wird. Aber ansonsten gibt es, was den Ersatz kompletter Gewebe und Körperteile betrifft, keine Art der Therapie, die wirklich routinemäßig in der Klinik angewandt würde. Es gibt eine Reihe von Erfolg versprechenden Studien, und man wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren sehr viel davon hören, aber im Augenblick ist es nicht soweit, dass man ins Krankenhaus gehen und sagen kann, dieser Körperteil ist verletzt und ich möchte ihn durch Stammzellen ersetzt haben.

In welchen Bereichen zeichnen sich Erfolge ab?

Bei Makula-Degeneration (Erkrankung der Netzhaut des Auges, Anm.) gibt es klinische Studien, in denen eine neue Netzhaut gezüchtet oder auch embryonale Stammzellen in die kranke Netzhaut eingebracht werden. Es gibt vielversprechende Versuche, Knorpelgewebe durch adulte Stammzellen wieder heranzuziehen und für beschädigte oder abgenutzte Strukturen einzusetzen. Und bei der Parkinson-Erkrankung, bei der ganz bestimmte Neuronen absterben, kann man im Labor aus Stammzellen neue Nervenzellen herstellen. Ins Gehirn eingebracht - und das ist sehr interessant -, wandern sie an die richtige Stelle und ersetzen die erkrankten Neuronen.

Wie kommt man als Forscher an embryonale Stammzellen?

Bei einer künstlichen Befruchtung wird im Labor eine Eizelle mit einem Spermium zusammengebracht, man lässt die befruchtete Zelle ein oder zwei Teilungen machen, bevor sie in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Weil die Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter nicht immer funktioniert, werden bei der In-vitro-Fertilisation gleich mehrere Eizellen befruchtet und eingefroren. War der Implantationsprozess erfolgreich, werden die überschüssigen Zellen entweder weggeworfen oder der Forschung überlassen. In Österreich ist eine solche Gewinnung von Stammzellen verboten, aber die Arbeit mit Stammzellen ist erlaubt. Wir arbeiten mit Stammzelllinien, die es seit Jahrzehnten gibt, die man einfrieren kann und die immer wieder weiter gezüchtet werden; dafür müssen keine Embryonen zerstört werden.

Warum gibt es für embryonale Stammzellen keine einheitliche internationale Regelung?

Die Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen wird ethisch sehr kontrovers diskutiert. Von allen Religionen hat sich vor allem die katholische Kirche dagegen geäußert, denn in der katholischen Theologie wird angenommen, dass das menschliche Leben mit seinen Rechten bereits mit der Befruchtung beginnt.

So ist in einigen sehr katholischen Ländern die Arbeit mit Stammzellen nahezu verboten. Andere Länder sind liberaler, das hängt mit der Definition des Lebensbeginns in den unterschiedlichen Religionen zusammen. So beginnt etwa im jüdischen Glauben das Leben mit der Einnistung in der Gebärmutter - und daher ist alles, was davor liegt, unpro-blematisch. Wenn man sich intellektuell mit Ethik auseinandersetzt, ist das durchaus eine Herausforderung, denn wenn schon tiefgekühlte embryonale Stammzellen vorhanden sind, ist es für mich schwer verständlich, warum es besser ist, diese wegzuwerfen, als sie der Forschung zur Verfügung zu stellen. Allerdings bin ich mir sicher, dass in dem Moment, in dem man z.B. Morbus Parkinson durch eine Stammzelltherapie heilen kann, viele Verbote aufgehoben werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeinen Patienten gibt, der dann sagt: "Na gut, in meinem Land ist diese Therapie verboten, dann behalte ich eben meinen Parkinson und sterbe daran". In Österreich ist die diesbezügliche Gesetzgebung sehr pragmatisch und praktikabel, hier gäbe es mit diesen Therapien keine Probleme.

Seit einigen Jahren erweitern induzierte pluripotente Stammzellen (iPS) das Repertoire der Forschung. Was ist das genau?

Der wirkliche Durchbruch in der Stammzellforschung gelang durch die Arbeiten von Shinya Yamanaka, der dafür auch 2012 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Er entdeckte, dass man aus der Haut- oder Blutprobe jedes Menschen dessen embryonale Stammzellen (die dann iPS genannt werden, Anm.) wieder herstellen kann. Das geschieht, indem vier Gene künstlich wieder eingeschaltet werden, damit wird die Zelle zurückprogrammiert. Induzierte pluripotente Stammzellen sind eine große Hoffnung für die Medizin, weil man für jeden Patienten auf seine eigenen Zellen zurückgreifen könnte, aber es wäre eine Illusion zu glauben, dass wir die embryonalen Stammzellen dann nicht mehr brauchen. Wir brauchen Kontrollen, um beide Zelltypen vergleichen zu können: Beide haben ihre Vor- und Nachteile, in manchen Experimenten funktionieren die einen und in anderen Versuchen die anderen besser. Es gibt hier ganz unterschiedliche Philosophien. Die Experimente über die Makula-Degeneration in Japan finden mit iPS-Zellen statt. In New York beginnen jetzt klinische Studien zur Parkinson-Erkrankung, die mit embryonalen Stammzellen durchgeführt werden, einfach weil es da bestimmte Zelllinien gibt, die gut funktionieren. Dieser ganze Forschungsbereich ist noch sehr experimentell.

Was ist der Kern Ihrer Forschungsarbeit?

Wir beschäftigen uns mit neuronalen Stammzellen, also Stammzellen, die neue Nervenzellen bilden können. Uns ist es gelungen, diese Stammzellen so zu stimulieren, dass sie ein dreidimensionales, strukturiertes Gewebe - wir bezeichnen dieses als cerebrales Organoid - bilden. Diese Orga- noide entwickeln sich in einer Nährlösung und werden maximal vier Millimeter groß; darüber hinaus bedürfte es einwachsender Blutgefäße, um eine Versorgung zu gewährleisten. Anhand dieser Organoide kann man die ersten drei Monate der Gehirnentwicklung eines menschlichen Embryos nachvollziehen, samt reeller Größenzunahme und den verschiedenen Zellwanderungen.

Gleichzeitig kann man damit Modelle für verschiedene Krankheiten entwickeln. Die erste Erkrankung, mit der wir uns beschäftigt haben, ist die Primäre Mikrozephalie (eine genetisch bedingte Erkrankung mit vermindertem Kopfumfang und unterschiedlich ausgeprägten intellektuellen Defiziten, Anm.). Dazu haben wir aus der Hautprobe eines solchen Patienten induzierte pluripotente Stammzellen hergestellt und aus diesen ein Organoid wachsen lassen. Durch das Organoid konnten wir zeigen, welche Entwicklungsschritte fehlen, damit das Gehirn seine normale Größe erreicht. Sozusagen zur Kontrolle haben wir in einem neuen Organoid die genetische Mutation des Patienten repariert, damit war das Größenwachstum nahezu normal.

In der Zwischenzeit sind unsere Modelle für die Erforschung zahlreicher neurologischer Erkrankungen im Einsatz, unter anderem wurden sie auch verwendet, um den Zusammenhang zwischen einer Zika-Virus-Infektion und der Mikrozephalie des noch ungeborenen Kindes zu belegen.

Empfinden Sie es als schwierig, Ihre Forschung in der Öffentlichkeit zu erklären?

Nein, gar nicht, bei Menschen, die zuhören, finde ich es extrem einfach. Ich kann meine Forschungsarbeiten auch auf dem Fußballplatz erklären, das habe ich trainiert. Ich stamme selbst aus einer Arbeiterfamilie und möchte auch meinen Eltern erzählen können, was ich tue. Ich kann aber keinen Menschen, der voller Vorurteile ist und die Stammzellforschung von Haus aus vehement ablehnt, von den positiven Effekten überzeugen. Wir leben leider in einer Zeit, in der es sehr viele Verschwörungstheorien und sehr viele Ängste vor der Zukunft gibt.

Die Menschen sehen, dass die Wissenschaft Dinge tut, die sie nicht mehr verstehen und die sie verunsichern. Gerade in Österreich und Deutschland gibt es Befürchtungen, dass man irgendwann Menschen züchten kann. Diese Ängste muss man ernst- nehmen, obwohl sie samt und sonders unrealistisch sind. Sie glauben ja gar nicht, wie viel wir diskutiert haben, bevor wir mit unseren Ergebnissen und der Tatsache, dass wir Gehirngewebe hergestellt haben, an die Öffentlichkeit gegangen sind! Zuerst habe ich guten Freunden davon erzählt, die haben gesagt: "Lass diesen Schmarrn, die bringen dich um!" Heute bin ich ehrlich stolz darauf, wie wir damit umgegangen sind.

Sie halten sehr viele Vorträge, um über die Stammzellforschung aufzuklären . . .

. . . Mir ist es ein großes Anliegen, unsere Arbeit der Öffentlichkeit nahezubringen, wir werden vom Staat finanziert - und es ist auch unsere Verpflichtung, den Leuten zu erklären, was wir tun. Das macht Spaß, und in der Zwischenzeit haben sehr viele Wissenschafter erkannt, wie wichtig es ist. Allerdings gibt es dabei zwei poten-tielle Probleme: Erstens darf man keine Dinge anpreisen, die noch nicht der Fall sind. Man muss sehr vorsichtig formulieren - das mögen Zeitungen nicht. Zweitens ist die Arbeit, die wir machen, unendlich komplex, man braucht eine unheimlich breite Ausbildung - und selbst dann kann man nur im Team arbeiten, weil kein Einzelner das nötige Wissen hat, um alles zu überblicken. Ich kann die Wissenschaft für die Zuhörer zwar vereinfachen, aber sie bleibt kompliziert - und der Zuhörer muss mir glauben, weil er nicht in der Lage ist, die einzelnen Fakten zu überprüfen. Da stehe ich als Wissenschafter in der Verantwortung, den Leuten nichts vorzumachen, weil sie sonst das Vertrauen verlieren.

Jürgen Knoblich spricht am Dienstag, den 22. November, in einer Diskussionsveranstaltung über "Stammzellenforschung - Dürfen wir alles, was wir können?" Neben Knoblich wird die Philosophin Herlinde Pauer-Studer am Podium sitzen. Der Abend wird veranstaltet von der "Wiener Zeitung" und der Diakonie Österreich und moderiert von "Wiener Zeitung"-Redakteurin Eva Stanzl.

Wann: 22.11., 19.00 Uhr.

Wo: Albert-Schweizer-Haus, Schwarzspanierstraße 13, 1090 Wien.

Eintritt frei, Anmeldung erforderlich! Unter online:

www.wienerzeitung.at/futureethics oder Email:

events@wienerzeitung.at, oder Telefon: 20699 -404.

Jürgen Knoblich wurde 1963 in Memmingen (D) geboren und hat in Tübingen und London Biochemie und Molekularbiologie studiert. Nach mehreren Auslandsaufenthalten führte ihn sein Weg an das Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien, dessen stellvertretender wissenschaftlicher Direktor er heute ist. Knoblich ist einer der international renommiertesten Stammzellforscher. Er erhielt für seine Arbeiten den Wittgenstein- und den Erwin-Schrödinger-Preis und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften. 2013 erzielte seine Forschergruppe weltweites Aufsehen: Es war ihr gelungen, aus neuronalen Stammzellen erbsengroße dreidimensionale Strukturen (= Organoide) zu züchten, anhand deren die ersten drei Monate der embryonalen Hirnentwicklung des Menschen und mögliche Fehlentwicklungen nachvollzogen werden können. (Bisher hatte man sich hauptsächlich an Mäusemodellen orientiert, allerdings verläuft die Hirnentwicklung bei Mensch und Maus in einigen Arealen völlig unterschiedlich.) Das Medienecho war enorm, mehr als 1000 Artikel erschienen über diese Arbeit, neben hochrangingen Publikationen wurde sie von "Science" zu den zehn wichtigsten Forschungsergebnissen des Jahres erklärt. Schnell hatte sich in einigen Boulevard-Medien ein griffiger Name für die CNS-Organoide etabliert: "Mini-Hirne aus der Retorte". Die Konnotation zu Frankensteins Experimenten war nicht mehr weit und führte trotz gründlicher Vor- und Aufbereitung des Themas zu verstörenden Reaktionen in sozialen Netzwerken, was die Kluft zwischen dem schnellen wissenschaftlichen Fortschritt und dem hinterherhinkenden gesellschaftlichen Diskurs auf breiter Ebene aufzeigt.

Ingeborg Hirsch, geboren 1966, ist Biologin und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Wien.