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Odyssee zwischen Frunse und Wien

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen

David Bangiev, Österreicher kirgisischer Herkunft, ist Schuster von Beruf - und nach einem Umweg über Israel im 15. Bezirk heimisch geworden.


David Bangiev schleift Sohlen in der Wiener Vorstadt - und träumt von Samarkand.
© Rebhandl

Mein Schuster heißt David Bangiev und ordiniert in der Hütteldorferstraße in Wien, schwere Fälle nimmt er auch am Wochenende entgegen. David wurde im November 1961 nahe der kirgisischen Hauptstadt Frunse (die heute Bischkek heißt) geboren, als fünftes und letztes Kind einer jüdischen Familie. Die Bangievs hatten ein Haus und eine Gemeindewohnung vom Sowjet, Nikita Chruschtschow war ihr Anführer, es ging ihnen gut, sie waren zufrieden.

David besuchte den Ganztagskindergarten, dann die Ganztagsschule, die Sowjetunion war pädagogischer Vorreiter, was das betraf. In unserem Gespräch erinnert er sich an die Frauen, seine Erzieherinnen und Lehrerinnen, die ihm dieses und jenes beibrachten. "Manche waren schon sehr gut genährt!", lacht er. David ist ein lustiger Mensch. Geboren also in Kirgisistan, aber "meine Heimat", sagt er, "ist Wien". Was zwischen Frunse und Wien war, das nennt man eine Odyssee.

Sein Vater und die Mutter knüpften Teppiche und verkauften sie. Die Mutter buk obendrein Gebäck und verkaufte es. Der Vater war obendrein Schuster. Irgendwann hatte die Familie ein kleines Unternehmen mit Konditorei, Schusterei und Knüpferei mit 30 Mitarbeitern, sie alle waren fleißig, talentiert, und bald sogar ein bisschen wohlhabend und angesehen. Die Nachbarn waren gut zu ihnen, man schaute zu ihnen auf. Aber die Bangievs waren auch Juden, sogenannte Buchara-Juden aus Kirgisistan, benannt nach dem usbekischen Emirat Buchara, wo sich die in Zentralasien lebenden Juden konzentrierten.

Sehnsuchtsland Israel

Nach dem Babylonischen Exil waren die ersten von ihnen nach Persien ausgewandert, von wo aus sie sich in der Umgebung verteilten, sie gehören zur Gruppe der Mizrachim. Ab 1793 aber dominierten dort sefardische Bräuche und Sitten, und am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Usbekistan mit der Provinz Buchara von Russland erobert. Während der Sowjetzeit mussten sie Russisch sprechen. Was sie alle einte, war eine diffuse Sehnsucht nach Is- rael, dem Gelobten Land.

In den 1970er Jahren zogen Zionisten durch ihre Gegend und warben um Neubürger für ihren jungen Staat; als Kompensation für erlittenes Leid im "Großen Vaterländischen Krieg", wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen, war ihnen das erlaubt. Die Bangievs ließen sich locken, und 1972 erhielten sie die Erlaubnis, dorthin auszuwandern. Sie kamen nach Twerja, Tiberias, ein winziges Dorf, in dem sie eine Wohnung bekamen, aber dem Vater gefiel es dort nicht, es war zu weit weg von Tel Aviv. Ein Onkel wohnte bereits in Ashdod südlich von Tel Aviv, dort zogen sie hin. Sie schauten sich um, und waren - enttäuscht. Das sollte ihr neues Land sein? Ihre Heimat? Das Gelobte Land um ihren Berg Zion?

In Bangievs Werkstatt . . .
© Rebhandl

"Damals war dort nur Wüste", erzählt David, und seine Mundwinkel bewegen sich nach unten. Sie lebten seit sechs Monaten dort, als sie die Leute eines Morgens aufgeregt "MilChama!" schreien hörten, es war der 6. Oktober 1973, höchster jüdischer Feiertag, Jom Kippur. "MilChama!" ist hebräisch und heißt "Krieg!"

"Wir hatten Angst", sagt David, und die Enttäuschung über Israel wuchs mit jedem Tag. Bald sagte der Vater: "Ich bin nicht hierhergekommen, damit meine Kinder Zielscheibe für diesen Krieg werden!"

Der Vater: Davids Held. Seit 21 Jahren liegt er in Israel begraben, nahe Petach Tikva, die Mutter seit 18 Jahren. Einst machte der Vater sich um ein Jahr jünger, damit er im "Großen Vaterländischen Krieg" gegen Hitler kämpfen durfte. "Er hatte es sich so vorgestellt", erzählt David: "Ein bis zwei Wochen ein bisschen Spaß mit den Deutschen haben, dann wieder normales Leben." Er blieb fünf Jahre im Krieg, davon ein Jahr in Stalingrad, wo er mehrfach verwundet wurde. Er kam hochdekoriert zurück, seine Jacke war voll mit "Metallen", wie David die Orden nennt: "Held der Sowjetrepubliken".

Als nach den Bangievs endlich auch das Gepäck nach Israel kam, die Möbel, die Kleider, der Hausrat, schlicht alles, was sie besaßen - außer die Häuser -, da haben sie alles sofort verkauft und wollten zurück, ihr neuer Sehnsuchtsort hieß Samarkand, Teilrepublik Usbekistan. Wenn David von dieser Stadt und ihrer Umgebung spricht, dann glänzen seine Augen wie das Türkis auf der Kuppel der dortigen, weltberühmten Bibi Chanom Moschee: "Die Tomaten dort, und die Melonen! Solche Tomaten! Solche Melonen!"

Aber sie bekamen keine Einreisegenehmigung, mussten einen Umweg nehmen und reisten nach Wien. Im dortigen Konsulat der Sowjetunion stellten sie die Anträge auf Wiedereinreise, und man sagte ihnen: "Wir werden das behandeln." Dann warteten sie. Sie warteten vier Jahre.

Am Beginn dieser vier Jahre bezogen sie eine Wohnung in der Kleinen Pfarrgasse, Ecke Matz- gasse, im 2. Wiener Gemeindebezirk, die Vermieterin war eine gewisse Frau Bikini. "Bikini?", frage ich. "Ja", sagt David und lacht. "Ein blonde, schöne Frau. Sie hat immer Zigarre geraucht, aber sie war gierig." Er sagt, sie hätte 40 Zinshäuser gehabt und mindestens zwei Pensionen. "Die ist sich so gut vorgekommen!" Sein Vater kannte sich nicht aus mit den ortsüblichen Mietpreisen, die damals am Boden lagen, sie bezahlten trotzdem 2000 Schilling für die Untermiete. "Das war viel zu viel!"

Nach einem halben Jahr zogen sie in den 5. Bezirk, in die Einsiedlergasse. Die Mutter begann "bei einem Jugo in seinem Restaurant zu arbeiten. Der hat sie ausgenommen, bist du deppert!"

In der Warteschleife

Der Papa fand Arbeit in einer Fa-brik, wo sie Damenkosmetikartikel herstellten. "Kleine Scheren und solche Sachen". Die Kinder lernten Deutsch, aber nicht so richtig, denn die Bangievs wollten ja nicht bleiben, die Familie befand sich in der Warteschleife.

Davids Schule lag in der Arbeitergasse, erinnert er sich, "ein Tröpferlbad ist dort in der Nähe". War er ein guter Schüler? "Du meine Güte! Ich war nicht weiß Gott was für die Schule! Mein Bruder und ich, wir wollten Geld verdienen, damit wir nicht immer zum Papa gehen müssen wegen einem Schilling oder fünf."

Also gingen sie in den Prater, wiesen Autos auf Parkplätze ein, oder stellten beim Herrn Krobelkov in der Dosenbude die Dosen auf. Sein zehn Jahre älterer Bruder begann bei L. Vondrus Orthopädie in der Westbahnstraße eine Schusterlehre, machte die Meisterprüfung und eröffnete einen Schuhservice in der Operngasse.

David tat es ihm gleich, kam aber zum Meister, zum Schuhmeister: Georg Materna - handgefertigte Schuhe in exklusiver Optik, Design und Ausführung, Mahlerstraße 5 im ersten Bezirk. "Sogar Kreisky war Kunde", erzählt David begeistert. "Einmal saß er einen ganzen Vormittag lang bei uns und hat sich mit uns unterhalten." Dabei erzählte der Kanzler, dass er 1936 von seinem Vater die ersten Maßschuhe geschenkt bekommen hätte. "Mit denen wollte er sogar schlafen gehen, so angenehm waren sie zu tragen!", schwärmt David. Peter Alexander war auch Kunde, "aber arrogant und unsympathisch". Dazu Androsch, Taus, Falco, Schwarzenberg; "Barone, Grafen, alle kamen zu uns!" Und hatten ihren Leisten bei ihnen.

Sechs- bis siebentausend Schilling kostete das Paar Maßschuhe, Meister Materna war so etwas wie der Weltmeister im Oberschuh-Erzeugen: Das Leder (Schweizer Kalbsleder, Schlangenleder, Krokodilleder) auswählen, das Leder zuschneiden - absolute Millimeterarbeit! Aber eben nicht nur: "Man braucht auch Gefühl!"

Neben ihrem lag das Geschäft einer Dame, die "Exklusive Büstenhalter und Negligees" herstellte und gerne herüber kam zu den Schustern mit ihren Entwürfen. Wieder glänzen Davids Augen. In der Mahlerstraße herrschte damals ein Wettbewerb des exklusiven Handwerks, und die für das Handwerken nötige Energie holte man sich beim Delikatessenladen Mörth gegenüber: "Die hatten einen Beinschinken - frage nicht!" David war Zweiter Lehrbub und für dem Jauseneinkauf zuständig.

Wäre er bei Materna geblieben, hätte er den Laden vielleicht sogar übernommen, denn der Meister hatte sich Zeit genommen für ihn, investierte in seine Zukunft. "Komm schon!", hat er zu David gesagt: "Du kannst um halb Vier nach Hause gehen, oder du bleibst länger da und lernst es richtig!"

Bemühen um Aufstieg

David lernte so gut, dass er als Gesellenstück einen rahmengenähten Maßschuh ablieferte, der als Meisterstück getaugt hätte. 1980 machte er mit Auszeichnung den Lehrabschluss am Wifi. Dann kam das Angebot, Gefängnisinsassen auszubilden, aber David lehnte ab. Er war vorerst fertig mit Schuhen. Die Familie hatte einen Obst- und Gemüsestand am Naschmarkt gekauft, Vater, Mutter und zwei Brüder arbeiteten dort. "Wir haben fünf Jahre nicht schlecht verdient", sagt David. Das Bemühen um sozialen Aufstieg liegt in der Familie. "Wir sind noch nie dem Staat zur Last gefallen."

Mit 21 heiratet David zum ersten Mal, seine Frau war sehr jung, und mit 18 zweifache Mutter, sie wohnten in der Ferdinandstraße im 2. Bezirk. 1985 steigt David im Schuhservicegeschäft seines Bruders in der Hütteldorferstraße nahe der Stadthalle ein, und nachdem der Bruder dort aufhörte, betrieb er das Geschäft alleine weiter. Seit 29 Jahren repariert er Schuhe, nun ein paar Häuser weiter stadtauswärts, die Mieten ziehen auch in dieser Gegend an.

In der Hütteldorferstraße war einmal ein Straßenstrich, daher war das eine gute Gegend für Schuster: High Heels, Stiefel, kaputte Absätze. Die Zuhälter waren "Sirs", versichert David. Musste der kaputte Stiefel der Dame am Abend fertig sein, gab’s gutes Trinkgeld. "Wenn dir einer von denen die Hand gegeben hat, dann hat alles gepasst." Gentlemen allesamt, old school. Und alle natürlich mit Maßschuhen unterwegs. Zu Ostern steckte immer ein Kuvert mit 500 Schilling in der Türe, von jemandem, der mit seinen Diensten höchst zufrieden war.

Die Huren waren also seine besten Kunden. Bis die Laufhäuser in Wien Pflicht wurden und somit auch dem Schuhgeschäft schadeten. Nennt man so etwas Umwegunrentabilität? "Es gibt schon noch eine Schicht von Kunden, die auf ihre Schuhe schaut", sagt David, der Meister, der bei Materna gelernt hat. Aber sie wird dünner. Heute sind Jogginghosen und Turnschuhe selbst im noblen ersten Bezirk üblich, im 15. auf der Hütteldorferstraße erst recht.

Er greift nach einem Schuh und schleift die Sohle. Seit 36 Jahre ist er Österreicher, und er liebt dieses Land. Von Samarkand träumt er weiterhin. Gerade kam er aus Tel Aviv zurück, wo er seine Eltern besucht hat, auf dem Friedhof nahe Petach Tikva im Gelobten Land.