"Wiener Zeitung": Herr Diehl, Haben Sie Marx gelesen, bevor Sie wussten, dass Sie ihn spielen würden?
August Diehl: Nein. Das heißt, doch, er war Thema in der Schule. Als großer Ökonom und materialistischer Denker, wir haben Aufsätze über ihn schreiben müssen, daran erinnere ich mich. Ich wusste aber sehr lange vorher von der Rolle, fast fünf Jahre vor Drehbeginn. In dieser Zeit habe ich mich viel mit seinem Werk beschäftigt, vor allem mit den frühen Schriften, mit dem "Kommunistischen Manifest".
Das "Kommunistische Manifest" ist überschaubar. Meine Ausgabe aus dem Dietz-Verlag, DDR, von 1968, in einem Antiquariat gefunden, hat nur 77 Seiten mit Holzschnitten . . .
Das ist ja toll, darf ich mal sehen. Das Manifest ist so wunderbar, auch weil es so kurz gefasst ist. Viel lesbarer als "Das Kapital". Marx und Engels wollten dem Proletariat mit dem Manifest eine theoretische Basis für die Revolution geben. "Das Kapital" habe ich angefangen, aber da unser Film nur in den frühen Jahren von Marx spielt, habe ich das nicht wirklich gelesen. Am allerwichtigsten waren für mich die Briefwechsel zwischen Karl, Jenny und Friedrich. Darin steht viel Persönliches, man erfährt, wie sie als Freunde miteinander verbunden waren. Der Person Marx kommt man in seinen Briefen näher als in seinen gedanklich sehr ausgetüftelten Werken. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, hat wahnsinnig viel geschrieben, Tag und Nacht. Und oft war kein Geld im Haus, immer gab es politische Repressionen, Ortswechsel auf Grund von Verbannung - das muss ein unglaublich schweres Leben gewesen sein.
Konnten Sie aus den Briefen auch herauslesen, woher Marx seine Kraft nahm? Allerdings sagen Sie als Karl Marx im Film einmal "Ich bin müde", da war er dreißig Jahre alt.
Die Energie bei solchen Denkern kommt aus dem Wissen, dass sie etwas zu sagen haben. Marx wusste das, er wusste auch, dass er die Welt verändern kann, das war sicher ein Motor. Dazu kam die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, vieles wurde auch geschrieben, um Einkünfte zu haben - und trotzdem wurde immer politisch gearbeitet. Das Geld aus dem Erbe Jennys war schnell aufgebraucht, schon im Exil in Paris, sie mussten sich ständig Geld leihen.
Jenny Marx, geborene von Westphalen, heiratete Marx gegen den Willen ihrer Familie.
Sie kam aus einer großbürgerlichen, fast aristokratischen Familie und hätte eine ganz andere Zukunft haben können, aber sie hat sich freiwillig mit diesem armen, denkenden Menschen verbunden. Die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit in Trier. Sie hat weit unter ihren Verhältnissen gelebt, ihn aber über alles geliebt. Vor allem Friedrich hat die Familie mit Geld unterstützt. Er kam aus reichen Verhältnissen, sein Vater war Fabrikant, aber er hat Karl Marx auch nicht endlos unterstützt. Mit dreißig Jahren war man in der damaligen Zeit nicht mehr jung, Marx hatte außerdem schon früh gesundheitliche Probleme..
Aus den Briefen von Jenny Marx spricht trotz aller Entbehrungen und Schmerzen über den Verlust von vier Kindern auch viel Wärme und Humor. Wie ist das bei Karl Marx?
Karl hatte einen sehr spitzen Humor, er war, glaube ich, auch groß im Lästern über andere Leute. Über Andere steht viel in den Briefen, er war bestimmt kein einfacher Zeitgenosse. Friedrich Engels Briefe sind wunderschön, vor allem die an seine Frau Mary Burns, er schreibt ganze Theaterstücke über sie und sich, Dialoge mit kleinen Regieanweisungen. Ich glaube, er war ein Frauenversteher, der Friedrich. Während Marx ein Familienmensch war, ein Patriarch, nicht so verführerisch wie Engels. Sie ergänzten sich dadurch sehr gut.
Karl Marx wird im Film mit einer Szene in der Redaktion der Deutsch-Französischen Blätter eingeführt, er schimpft und fordert, ein Auftritt ohne jede Di-plomatie.
Ja, fast arrogant und sehr überzeugt. So war er wahrscheinlich auch.
So, wie Sie ihn in den ersten Minuten spielen, hat man einen Vorgeschmack auf die Dogmatik späterer Kulturkommissare.
Ich weiß nicht. Karl Marx als Mensch hatte sicher etwas stark Autoritäres, aber ich finde, dass wir immer den Fehler machen, Marx näher am 20. Jahrhundert zu empfinden, an der Sowjet-
union, aber in Wirklichkeit war er der Französischen Revolution viel näher. Die hat ihn stark geprägt. Er ist ein Mensch des 19. Jahrhunderts, und das vergisst man oft, wenn man über Marx nachdenkt. Er hat im Nach-Echo der Französischen Revolution gearbeitet, nach den großen Napoleon-Feldzügen, war unter dem Code Napoléon aufgewachsen in Trier, als die gesamte Standesgesellschaft umgekrempelt wurde. Sein Vater ist vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, um unter preußischer Herrschaft als Anwalt arbeiten zu können. Es war eine Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Umwälzungen, aber wir denken nicht an das 19. Jahrhundert, nicht an Hegel, der die Voraussetzung für Marx Denken war, sondern an Lenin, an die DDR.
Und an die Studentenrevolte 1968, an die Marxismus-Leninismus-Lesegruppen. Auch der Regisseur des Films, Raoul Peck, erinnert sich an die "Kapital"- Vorlesungen, die er als Wirtschaftsstudent im Westberlin der sechziger Jahren an der FU hörte. Nach langem Schweigen erfährt Marx seit einigen Jahren eine Wiederentdeckung. Was macht Marx so aktuell?