Ab einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren für beide Beschuldigte kann die Familie laut Gesetz enteignet werden. Gerhard Sinner erhält sechs Jahre, seine Frau drei Jahre Freiheitsstrafe - und schon ist es möglich, die beiden zu enteignen. "Das Geschäft war weg und alles, was sie dort gefunden hatten. Und meinem Mann wurde der Beruf abgesprochen. Er durfte nie wieder Goldschmied sein."
Der Wille Gerhard Sinners wird während der Haft in Brandenburg gebrochen. Er ist labiler als seine Frau, die ihre Strafe im berühmten "Roten Ochsen" absitzen muss, einem wuchtigen Bau aus rotem Ziegel, mitten in Halle an der Saale, der Geburtsstadt ihrer Mutter. In jenem Gefängnis, wo einst jene drei katholischen Priester hingerichtet wurden, deren Todesurteil zu unterschreiben sich Werner Lueben geweigert hatte.
Irmgard Sinner beschließt für sich, robust zu bleiben, verlangt, hartnäckig einen Pastor, die Kirchenzeitung und eine Bibel: "Und dann bekam ich so eine alte Bibel, die hatte hauchdünnes Papier. Damit haben sich die Mädchen Zigaretten gedreht, das war nämlich noch besser als der Falz vom "Neuen Deutschland". Sie ist ihren Zellengenossinnen aber nicht böse, dass sie ihr Seiten aus der Bibel reißen und die Parteizeitung unangetastet lassen. 20 sind sie in der Zelle, aufgeteilt auf zehn Stockbetten, dazwischen ein Hocker, Toilette im Zimmer, kein privater Rückzugsraum - monatelang, jahrelang.
"Dann begann ich mit den Mädchen in der Weihnachtszeit Weihnachtslieder zu singen. Singen war verboten", erinnert sie sich. "Und dann haben wir gesungen: Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben. Das haben sie mit einer Inbrunst gesungen, weil das oft Mädchen waren, denen sie die Kinder schon weggenommen haben, weil sie irgendwie gewalttätig oder sonst was waren. Und dann war ich für sie wie eine Großmutter. Sie erzählten: Ja, meine Großmutter hat das auch immer gesungen."
Irmgard Sinner ist inzwischen selbst Großmutter geworden. Doch ihre Ehe funktioniert nicht mehr so wie vor der Haft. Ihr Mann wird in Rente geschickt, das Ehepaar stellt einen Ausreiseantrag. Das erzählen die Sinners einem engen Freund der Familie: Wolfgang Schnur, Rechtsanwalt, insbesondere für die evangelische Kirche. Zur Wendezeit wird er sich im "Demokratischen Aufbruch" engagieren.
Als 1990 seine Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi herauskommt, schlägt das hohe Wellen in Deutschland. Schnur verliert seine Anwaltszulassung. Mandanten-Verrat wird ihm vorgeworfen, die von ihm vertretenen Sinners werden als Beweis angeführt. Doch Irmgard Sinner geht es auch in diesem Fall um Vergebung. Das macht sie in öffentlichen Diskussionen deutlich.
Nach einer solchen kommt eine junge Frau auf sie zu und stellt sich als Tochter von Wolfgang Schnur vor. Sie habe nach der Wende die Verbindung zu ihrem Vater abgebrochen, sagt sie, und sei überrascht, dass Irmgard Sinner so versöhnlich über ihn gesprochen habe. Irmgard Sinner antwortet: "Ihr Vater wusste von mir mehr. Der hätte uns alle wieder ins Gefängnis bringen können. Wissen Sie, ich habe auch Winke von ihm bekommen, also das ist einfach so." Und dann kommt die Tochter wieder in Kontakt mit ihrem Vater.
Tod der Tochter
Dem Ehepaar Sinner wird 1986 die Ausreise in den Westen genehmigt. Es zieht in die Nähe von Lübeck, trennt sich aber bald - auch eine Spätfolge des Gefängnisaufenthalts. Gerhard Sinner stirbt 2002. "Mein Mann ist verbittert rausgekommen. Ich bin ja gleich aktiv geworden, Wohnungstausch, alles. Mein Mann saß nur zu Hause und war verbittert, dass er nicht rausgelassen wurde. Ich habe in der Kirche mitgearbeitet, habe eine Ausbildung als Tanzleiterin gemacht."
Und sie wartet auf die ältere Tochter. Denn Sabine, die Goldschmiedin, hatte auch schon lange vor, mit ihrer Familie die DDR zu verlassen. Als es am Nikolaustag 1988 so weit ist, kommen ihr zum Schluss doch Zweifel. Sie verlässt eine vertraute Umgebung im Wissen, von den DDR-Behörden nicht mehr wieder ins Land zurück gelassen zu werden.
"Als sie hier aus dem Zug stieg, merkte ich schon: Das ist nur noch die Hälfte ihrer selbst, ihre Seele ist in Rostock geblieben, bei ihren Freunden." Die junge Familie bekommt eine Wohnung in Hamburg, renoviert übers Wochenende. "Am 3. Mai 1989 sollte ich die Kinder nach Hamburg bringen, und die waren schon ganz high. Und da kommt frühmorgens mein Schwiegersohn an mit Freunden - meine Tochter ist vom 5. Stock gesprungen."
Das war ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Irmgard Sinner kann seit der Grenzöffnung das tun, was ihre Tochter so gerne gemacht hätte, auf das zu warten sie aber keine Kraft und keine Hoffnung mehr hatte: frei reisen. Sie engagiert sich in der Kirche, beim Seniorentanz. Ein bewegtes Leben liegt hinter ihr. Und die Aufarbeitung all dessen? "Hat lange gedauert. Die anderen sagen: Nun guck nach vorn. Ich guck ja ununterbrochen nach vorn. Ich hab ja meine Enkelkinder und alles. Aber das hinter Ihnen, ja, das muss aufgearbeitet werden."