Energischen Schritts geht eine alte Dame durch die Altstadt von Lübeck, die Stadt des Marzipans und der Buddenbrooks an der deutschen Ostseeküste. Die beiden Arme der Trave umschließen die Altstadt, die aus schmalen Ziegelhäusern besteht, mit akkurat gepflegten Gärtchen dahinter.

Die Frau macht Halt vor einem stattlichen Gebäudekomplex an einer Straßenkreuzung: Im Hochparterre des Wohnhauses für ältere Damen hat Irmgard Sinner ihre Wohnung - eine Frau mit besonders bewegter Vergangenheit.
Die ersten harten Nüsse ihres Lebens hat die 1928 geborene Frau schon in ihrer Jugend zu knacken. Die Familie zieht mit ihrem aus Ostpreußen stammenden Vater Werner Lueben, einem Militärjuristen, an seine Dienstorte mit: Breslau, Königsberg, Torgau. Zum Schluss ist er Generalstabsrichter am Reichskriegsgericht, zuständig auch für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Im Ersten Weltkrieg muss er in Yverdon einen schlimmen Feldzug mitgemacht haben. "Meine Mutter sagte, noch Jahre nach dem Krieg hat er nachts manchmal davon geträumt und hat aufgeschrien", erzählt Irmgard Sinner. "Von daher hatte wohl mein Vater die Überzeugung, dass Desertieren für ihn undenkbar war."
Pazifist vor Gericht
Einer, der erst gar nicht hingehen wollte, wo Krieg ist, war der oberösterreichische Landwirt Franz Jägerstätter. 1943 stehen einander zwei Prinzipien vor Gericht gegenüber: Durchhaltegebot und religiöse Überzeugung. Franz Jägerstätter ist ebenso wie sein Richter Werner Lueben mehrfacher Familienvater, Jägerstätter überzeugter Katholik, Lueben überzeugter Protestant. Dennoch fällt Lueben am 6. Juli 1943 das Todesurteil über ihn.
Im Jahr 2007 spricht die römisch-katholische Kirche Jägerstätter selig. Am 6. Juli 2013 wird vor dem ehemaligen Reichskriegsgericht in Berlin seines 70. Todestags gedacht. In diesem Haus wurden zwischen 1939 und 1945 etwa 1400 Todesurteile ausgesprochen. Das imposante Gebäude im wilhelminischen Stil in Berlin-Charlottenburg zeigt sich inzwischen deutlich verändert: Eine niederländische Investorengruppe hat das Haus zur Hülle für 100 teure Schlosslofts gemacht und vermarktet sie als "schöner mieten am Lietzensee". An jenem heißen Sommertag 2013 steht das Häuflein derer, die zur Gedenkzeremonie an der Straßenecke gekommen sind, in deutlichem Gegensatz zu den knalligen Sonnenschirmen auf den Balkonen der einstigen NS-Militärjustiz.
Als die Feier zu Ende ist, drängt sich eine kleine ältere Dame nach vorne, ein wenig nervös und unbeholfen, und spricht ein paar Sätze. Es ist Irmgard Sinner, die eigens dafür aus Lübeck angereist ist. Sie sagt, dass sie die Tochter jenes Richters ist, der Jägerstätter zum Tod verurteilt hat, und dass sie um Vergebung bitte.
Bis kurz davor hatte sie den Namen Jägerstätter gar nicht gekannt. Sie informiert sich, erfährt, dass Werner Lueben ein paar Monate nach dem Todesurteil über Jägerstätter einem weiteren über drei katholische Priester die Unterschrift verweigert hat. Für ihn war, in der Meinung seiner Tochter, der Punkt des "bis hierher und nicht weiter" erreicht.
Werner Lueben, kommt in der Nacht darauf in seiner Dienstwohnung ums Leben. Er war nie Mitglied der NSDAP gewesen und hatte ihr auch innerlich distanziert gegenüber gestanden. Erst wird offiziell von einem Bombenangriff gesprochen, obwohl es in dieser Nacht gar keinen Alarm gegeben hatte, später von Selbstmord durch Erschießen. Irmgard Sinner ist überzeugt, dass ihr Vater ermordet wurde: "Ich bin in dem Glauben groß geworden, dass mein Vater ein Staatsbegräbnis bekam. Also, die wollten etwas vertuschen."
Stets hatte der Vater vor seinen drei Kindern verborgen gehalten, dass es zu seinem Beruf gehörte, den Tod anderer Menschen anzuordnen. Pflichtgefühl, Gesetzestreue - so hieß die Panzerung des eigenen Gewissens. "Ich kann Ihnen nicht sagen, was im Kopf meines Vaters vorging", sagt die alte Frau. "Ich weiß nur, er ist ein Kind seiner Zeit - und es ist furchtbar, denn ich hatte ein sehr, sehr herzliches Verhältnis zu ihm, und ich liebte meinen Vater eben auch."
Konflikte
Der emotionale Konflikt begleitet Irmgard Sinner ihr Leben lang. Fast drei Stunden lang erzählt sie in ihrer Lübecker Wohnung: assoziativ, sich selbst unterbrechend, und doch das schlüssige Bild einer Frau darstellend, die von zwei Diktaturen geprägt wurde.
In der DDR lernt sie den drei Jahre älteren Goldschmied Gerhard Sinner kennen. Die beiden heiraten, bekommen zwei Töchter und eröffnen eine Goldschmiedewerkstatt in Rostock. Sabine, die ältere Tochter, lernt Goldschmied wie ihr Vater, Christine, die Jüngere, wird Krankenschwester. Die ganze Familie ist in der evangelischen Kirche in Rostock aktiv.
Drei Mal in der Woche öffnen sie das Geschäft, die Leute stehen Schlange. "Aber dann habe ich zu meinem Mann gesagt: Hör endlich auf, von irgendjemandem was anzukaufen." Das darf er nämlich als Privatperson nicht. Einen Vertrag mit dem Staat zu schließen, lehnt er aber ab.
Im Gefängnis
Im April 1979 wird Gerhard Sinner wegen Steuerhinterziehung aufgrund der Schwarzgeschäfte verhaftet, wenige Monate später auch seine Frau. Irmgard Sinner fürchtet, dass auch Tochter Sabine, die gerade erst Mutter geworden ist, inhaftiert worden sein könnte. Doch eine Zellengenossin weiß Rat. "Die hat aus dem Klo mit einem Zahnputzbecher das Wasser ausgeschöpft, und dann konnte sie durch das Klo telefonieren. Und da sagt sie: Keiner weiter verhaftet worden."