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Michael Bünker

Von Heiner Boberski und Hermann Schlösser

Reflexionen

Michael Bünker, der designierte Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich, denkt über Grundfragen der Kirche und des Glaubens nach.


Wiener Zeitung:Es wird einem ja nicht in die Wiege gelegt, Bischof zu werden. Welche geistliche Laufbahn hat Sie in dieses Amt geführt?Michael Bünker: Also, die evangelische Tradition ist mir schon in die Wiege gelegt worden. Seit vier Generationen sind die Bünkers Pfarrer in Kärnten, die Situation der nicht so kleinen evangelischen Minderheit in Oberkärnten habe ich von Kindheit an mitbekommen. Was ich auch mitbekommen habe, ist eine gewisse Intellektualität, die für das evangelische Pfarrhaus typisch ist, in dem es immer viele Bücher gibt. Aber die Pfarrer waren in Kärnten auch diejenigen, die tarockieren konnten. Sie merken schon, dass ich nicht aus dem strengen Pietismus stamme, sondern aus dem liberalen Kulturprotestantismus. Man muss aber hinzufügen, dass dieses Milieu für nationales Gedankengut anfällig war. In den dreißiger Jahren hatte die evangelische Kirche in Österreich eine gewisse Affinität zum Nationalsozialismus. Das weiß ich aus meiner eigenen Familiengeschichte.

Was hat Sie dann von Kärnten weggeführt?

Nach der Schule bin ich zum Studium nach Wien gegangen, und habe es sehr genossen. Von meinen theologischen Lehrern möchte ich vor allem Wilhelm Dantine erwähnen, der als großer Dogmatiker auch international bekannt war. Außerdem hörte ich Kurt Lüthi, der uns mit dem Judentum, dem christlich-marxistischen Dialog und auch dem Feminismus vertraut gemacht hat. Ich kann mich noch gut an die Aufregung um Lüthis Buch "Gottes neue Eva" erinnern. Ich habe dann über ein Thema aus dem Neuen Testament promoviert. Die Exegese war immer meine Leidenschaft. Ich glaube, dass ein großer Vorteil des Protestantismus im wissenschaftlichen Umgang mit der Heiligen Schrift liegt. Er ist ein wesentliches Instrument, um die Gefahr des Fundamentalismus zu bannen. Ich würde mir wünschen, dass alle Religionen mit ihren heiligen Schriften auch kritisch umgehen.

Und wie wurde aus der Berufung ein Beruf?

Zuerst habe ich Religion unterrichtet, was mir von Anfang sehr viel Freude gemacht hat, dann war ich Vikar, später Pfarrer und schließlich bin ich zum Direktor der Religionspädagogischen Akademie in Wien berufen worden, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Der Religionsunterricht hat gerade in der Grundschule großen Reiz. Heute wissen ja viele Kinder nicht mehr, was ein Kreuz bedeutet oder was zu Weihnachten außer einem rotnasigen Rentier noch gefeiert wird. Es ist schon ein besonderes Geschenk, wenn man diesen Kindern das Evangelium nahe bringen kann.

Seit 1999 war ich als Oberkirchenrat vor allem für den Religionsunterricht und die Ökumene zuständig. Am 1. Jänner wechsle ich nun in mein neues Amt als Bischof. Dieses Amt wurde mir allerdings nicht in die Wiege gelegt, zumal es gar nicht selbstverständlich ist, dass es einen evangelischen Bischof überhaupt gibt.

Wieso das?

Wir haben dieses Amt erst seit 1940, die längste Zeit ihrer Geschichte ist die evangelische Kirche ohne Bischof ausgekommen, und das ist auch gut gegangen.

Wie möchten Sie dieses Amt nun ausfüllen?

Der Bischof hat gemeinsam mit der Synode dafür zu sorgen, dass die Kirche ihre Identität wahrt und erkennbar bleibt. Die evangelische Kirche ist in sich vielfältig, manchmal auch widersprüchlich. Aber eben deshalb ist es wichtig, dass es eine Instanz gibt, die versucht, die Gemeinsamkeit sicherzustellen. Übrigens kann der Bischof bei uns auch eine Bischöfin sein. In Deutschland gibt es mittlerweile drei Bischöfinnen in lutherischen Kirchen und eine in der methodistischen Kirche.

Ist der Eindruck richtig, dass die evangelische Kirche zurzeit darum bemüht ist, ihre Konturen zu schärfen und sich vom Katholizismus abzugrenzen?

Die Vielfalt der christlichen Kirchen sollte man nicht ablehnen. Die Trennung in verschiedene Konfessionen ist kein Skandal. Sie wird nur zum Problem, wenn daraus wechselseitige Ablehnung und Feindschaft erwachsen.

Was zwischen Katholiken und Protestanten oft der Fall gewesen ist.

Ja, es war lange das Normale. Deswegen ist es umso mehr zu bedauern, dass es Rom nicht möglich ist, die protestantischen Kirchen als solche anzuerkennen. Das ist eine Last, die aus der Geschichte kommt. Aber ich bin zuversichtlich, dass sie einmal überwunden werden kann.

Freilich spricht man allgemein davon, dass wir mit der sogenannten "Konsensökumene" in vielen Punkten nicht weiterkommen. Die Kirchen unterscheiden sich in der Frage, wie man das Sakrament des Abendmahls versteht, theologisch nicht voneinander. Aber dieser theologische Konsens hat keine praktischen Konsequenzen. Deshalb muss man überdenken, wie es mit der Ökumene weitergehen kann und soll.

Wie beurteilen Sie die neue Enzyklika von Papst Benedikt XVI.?

Die Enzyklika "Spe Salvi" ist eine beeindruckende Meditation zum Thema der christlichen Hoffnung. Sie steht auf hohem theologischen und intellektuellem Niveau, wie es für Papst Benedikt typisch ist. Die Berücksichtigung der biblischen Grundlagen ist für Evangelische erfreulich. Der Papst bemüht sich überzeugend, nachzuweisen, dass die rein materialistischen und marxistischen Fortschrittideologien Irrwege sind. Für die Ausgestaltung der christlichen Hoffnung nicht nur für den Einzelnen, sondern für die gesamte Schöpfung hätten sowohl katholische wie evangelische theologische Ansätze (Theologie der Hoffnung, Befreiungstheologie usw.) stärker berücksichtigt werden können. So bleibt die Enzyklika letztlich sehr auf das Individuum konzentriert. Aber insgesamt ist dies ein Text, der auch von Evangelischen mit großem Gewinn gelesen werden kann.

Was aber hat der Protestantismus, was der Katholizismus nicht hat?

Die Erklärung von Friedrich Schleiermacher aus dem 19. Jahrhundert leuchtet mir sehr ein. Er meinte, der Katholik komme durch die Kirche zu Jesus, während der Protestant durch Jesus zur Kirche komme. Das heißt, der Protestantismus steht für die Individualität und die Gewissensentscheidung des Einzelnen, während Katholizismus und Orthodoxie den Menschen sehr viel mehr als kirchliches Gemeinschaftswesen begreifen.

Heuer haben Sie an der Ökumenischen Versammlung in Hermannstadt/Sibiu teilgenommen. Waren Sie mit dem Verlauf dieser Veranstaltung zufrieden?

Das Treffen war eine Delegiertenversammlung und kein Treffen von Basisinitiativen - im Unterschied zu früheren Begegnungen. Das war ein deutlicher Mangel. Außerdem war die Konferenz sehr stark von Männern dominiert, die Frauen durften moderieren, aber kaum referieren.

Die Versammlung fand eben in einem orthodoxen Land statt.

Deshalb muss man über deren Verlauf auch nicht überrascht oder gar enttäuscht sein. So ist einfach die Realität. Alle wollten in einem orthodoxen Land der Orthodoxie begegnen, und es ist ja auch sehr glaubwürdig und beeindruckend gewesen, wie sich die Orthodoxie in Hermannstadt präsentiert hat. Insofern war die Begegnung für die europäische Ökumene ein Erfolg. Die Ergebnisse sind etwas hinter den Erwartungen zurückgeblieben, aber es wird ja eine vierte europäische ökumenische Versammlung geben, und dann kann das wieder anders sein.

Schauen wir noch in eine andere Richtung: Zurzeit artikuliert sich auch ein sehr prononcierter Atheismus, der international etwa von dem englischen Biologen Richard Dawkins oder dem französischen Philosophen Michel Onfray vertreten wird . . .

. . . "Der Fluch des Christentums" von Herbert Schnädelbach geht auch in diese Richtung . . .

. . . von diesen Kritikern wird der Glaube an Gott für die meisten Torheiten und Verbrechen der Menschheit verantwortlich gemacht. Wie begegnen Sie dieser Kritik?

Grundsätzlich ist die Frage, ob jemand glaubt oder nicht glaubt, nach evangelischem Verständnis etwas, das durch den Geist Gottes vermittelt wird. Durch eine Willensentscheidung kann man den Glauben weder annehmen noch ablehnen. Insofern gehört es zur religiösen Vielfalt, dass es auch Menschen gibt, die ohne Religion und Religiosität leben wollen. Und es gibt ja in der Tat so unerfreuliche Erscheinungen wie eine neue Kreuzzugsideologie oder den islamisch motivierten Terrorismus. Wenn das Religion ist, dann muss sie kritisiert werden! Andererseits denke ich, dass die Gefahr des Atheismus darin liegt, dass wir uns letztlich nur mehr im Materiellen und Diesseitigen vorfinden und damit eine zentrale Dimension des Menschseins und des gesellschaftlichen Lebens verlieren. Daraus können sich bedenkliche Entwicklungen ergeben.

Die evangelische Theologie hat sich im 20. Jahrhundert sehr darum bemüht, den Herausforderungen der säkularen Welt gerecht zu werden. In den letzten Jahren artikuliert sich nun ein neues Bedürfnis nach sinnlicher "Spiritualität". Ist der sehr intellektuelle Protestantismus imstande, diesem Bedürfnis zu entsprechen?

Es stimmt, dass der Protestantismus mehr als andere christliche Traditionen in der Gefahr steht, sich selbst zu säkularisieren. Man kann sich den Protestantismus ohne Bildung nicht wirklich vorstellen. Die Menschen müssen zumindest lesen können, weil sie sich ja selbst ein Bild von dem machen müssen, was in der Heiligen Schrift steht. Je gebildeter die Menschen aber sind, desto größer wird ihre Distanz zur Religion.

Andererseits ist es richtig, dass das Bedürfnis nach Erfahrung und Sinnlichkeit zunimmt. Vor allem junge Menschen wollen die Religion auch mit dem Körper erfahren, und nicht nur geistig-seelisch. Die spezifisch protestantische Frömmigkeit ist aber vor allem eine Lese-Frömmigkeit, die sich aus dem Wort speist, das wir uns nicht selber sagen, sondern aus der Schrift übernehmen. Das hat mit dem, was sich junge Leute heute unter Spiritualität vorstellen, nicht viel zu tun, ist aber eine sehr innige Form der Andacht - ich verwende absichtlich diese traditionellen Begriffe. Die Säulen der evangelischen Frömmigkeit sind die Schrift, das Lied, das Gebet und die Musik.

Aber die evangelische Kirche ist doch sehr inhomogen: Da gibt es einerseits Kreationisten, die einen strengen Glauben an den Schöpfungsbericht pflegen, andererseits sehr rational denkende Menschen, die davon nichts halten. Wie bringt das Ihre Kirche unter einen Hut?

Als Paul Zulehner 2001 die letzte Untersuchung über die Religiosität der Österreicher gemacht hat, sind die Evangelischen gesondert analysiert worden. Und da hat sich gezeigt, dass sie in ihren traditionellen Gebieten - Salzkammergut, Kärnten usw. - kirchlicher sind als die frömmsten Katholiken. Sie haben eine geringe Austrittsneigung und fühlen sich ihrer Gemeinde stark verbunden. In den Großstädten, speziell in Wien, sind sie dagegen unkirchlicher als die Katholiken. Die großstädtischen Protestanten erwarten von ihrer Kirche gesellschaftliches Engagement, während die traditionellen Mitglieder sich genau das Gegenteil erwarten. Diese beiden Pole gibt es auch in der katholischen Kirche, aber dort existiert auch eine starke ausgleichende Mitte, die bei uns fehlt.

Wäre es nicht die Aufgabe des Bischofs, diese Mitte zu besetzen?

Ja, aber dabei muss man schauen, dass man nicht im Niemandsland steht. Ich glaube, dass ein Zusammenhalt nur möglich ist, wenn alle zumindest darin einer Meinung sind, dass sie sich beständig auf die Heilige Schrift beziehen müssen. Die Diskussion um die Auslegung der Schrift gewinnt einen hohen Stellenwert. Der klassische Fall einer solchen Diskussion ist der Streit um die Kreationisten und Fundamentalisten, die ja aus dem amerikanischen Protestantismus kommen, und sich ganz bewusst gegen jede kritische Bibelauslegung gesperrt haben. Dagegen steht der Zweifel an der wörtlichen Auslegung - wie es in dem berühmten Gershwin-Song heißt: "It ain´t necessarily so". Es ist nicht notwendigerweise so, dass Jona drei Tage im Walfischbauch war. Diesem Zweifel entgeht niemand. Wir können den Wortlaut der Bibel nicht eins zu eins übernehmen, sondern nur interpretierend. Die erste Interpretation ist schon die Übersetzung aus dem Urtext. Das heißt, dem Christentum ist der auslegende, kritisch-interpretiertende Umgang mit der eigenen Heiligen Schrift in die Wiege gelegt. Damit ist zwar keine Vielfalt der Wahrheiten gegeben - wohl aber eine Vielfalt der Deutungen.

Wie stark kann und darf sich der Bischof der Evangelischen Kirche in aktuelle politische Debatten einmischen?

Der Glaube kann nicht nur im Herzen und im stillen Kämmerlein sein. Die Kirchen sind von ihrem Auftrag her berufen, zu politischen Problemen Stellung zu nehmen. Allerdings sollten sie sich nur zu grundsätzlichen Fragen äußern, nicht zu tagespolitischen. Die Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen fällt nicht immer leicht. Es ist etwa ein Grund für die Kirchen, ihre Stimme zu erheben, wenn bei der Abschiebung von illegal in Österreich lebenden Asylsuchenden Ehepaare getrennt und Familien auseinandergerissen werden. Die Politik hat es ja zunehmend mit sehr grundsätzlichen Fragen zu tun, weil es sehr tiefgreifende Veränderungen gibt: Fragen der Bioethik, Fragen des Hungers und der Armut in der Welt - das sind zentrale, wichtige Probleme, zu denen man vom christlichen Glauben her Stellung beziehen kann und muss.

Ganz besonders liegt mir die Frage am Herzen, wie gut oder wie schlecht es den Kindern in unserer Gesellschaft geht. Ich glaube, dass wir da auf eine sehr unerfreuliche Entwicklung zugehen. Dass etwa in Hamburg, der reichsten Stadt Deutschlands, 50.000 Kinder unter der Armutsgrenze leben, ist eigentlich ein Skandal. Und in Österreich ist es nicht viel besser. Das sind Entwicklungen, die auf jeden Fall die kritische Stimme der Kirchen provozieren müssen.

Zur Person

Michael Bünker, geboren 1954 in Leoben als Kind eines evangelischen Pfarrers, ist in Radenthein in Kärnten aufgewachsen. Von 1964 bis 1972 besuchte er das Gymnasium in Villach, anschließend studierte er evangelische Theologie in Wien. 1981 wurde er im Fach "Neues Testament" zum Dr. theol. promoviert; ab 1980 war er als Vikar in Wien-Döbling tätig, nach der Ordination als zweiter Pfarrer in Wien-Floridsdorf. 1991 wurde Bünker mit der Leitung der Evangelischen Religionspädagogischen Akademie (ERPA) betraut, und 1999 zum Oberkirchenrat gewählt. Seit 2003 lehrt er als Honorarprofessor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) bestellte ihn im Herbst 2006 zum Generalsekretär. Im Juni 2007 wurde er zum Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich gewählt. Er übernimmt das Amt von seinem Vorgänger, Herwig Sturm, und nimmt am 1. Jänner 2008 seine Arbeit auf.Bünker ist Autor zahlreicher theologischer und kirchenpolitischer Schriften. Seine neueste Buchpublikation: Verantwortung für das Leben. Eine evangelische Denkschrift zu Fragen der Biomedizin (zusammen mit Ulrich H. J. Körtner), P-V Verlag, Wien 2001.Michael Bünker ist verheiratet, hat zwei Kinder und ein Enkelkind.