"Wiener Zeitung": Herr Bauer, Sie haben ein Buch über die "dunklen Jahre" Österreichs in der NS-Zeit geschrieben und kürzlich veröffentlicht. Was war Ihre Motivation, sich mit dieser doch sehr intensiv erforschten Zeit nochmals ausführlich zu beschäftigen?
Kurt Bauer: Motiviert hat mich zuerst einmal, dass ich Historiker bin und einfach gerne Geschichte erzähle. Man glaubt es nicht, aber es gibt - mit einer Ausnahme - keine wissenschaftliche Monographie der Nazi-Jahre in Österreich. Es liegen Darstellungen für einzelne Bundesländer vor, auch ausgezeichnete Arbeiten über bestimmte Regionen, aber für mich war es die große Herausforderung, die Geschichte der Jahre 1938 bis 1945 für ganz Österreich zu erzählen. Ich weiß aus Gesprächen, dass viele jüngere Österreicher nicht wirklich gut oder doch recht einseitig über diese Zeit informiert sind.

Kommen wir zur Vorgeschichte des "Anschlusses": Dabei betonen Sie, dass Sie das Dollfuß-Schuschnigg-Regime nicht als "austrofaschistisch" bezeichnen wollen, sondern den Ausdruck "Kanzlerdiktatur" präferieren. Warum?
Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass man diese Ära nicht als Faschismus im eigentlichen Sinn bezeichnen kann. Ich weiß, da gehen die Meinungen innerhalb der österreichischen Historikerschaft weit auseinander. Es ist fast zu einer Glaubensfrage geworden. Wir haben es - wenn man etwa die vom italienischen Faschismusforscher Emilio Gentile genannten Kriterien heranzieht - nicht mit einem "vollen" Faschismus zu tun, bestenfalls in einer gewissen Phase, nämlich 1934, mit einer Art Halbfaschismus, der später wieder rückgebaut wurde. Daher finde ich die von Helmut Wohnout geprägte Formel "Kanzlerdiktatur" bzw. "autoritäre Regierungsform" passend. Aber man sollte sich mit dieser doch sehr akademischen Diskussion, in der noch dazu die Fronten verhärtet sind, nicht allzu lange aufhalten.

Glauben Sie, dass ein Schulterschluss Schuschniggs mit der in die Illegalität gedrängten Arbeiterbewegung, also sowohl den Kommunisten wie den Sozialdemokraten, den "Anschluss" 1938 aufhalten oder verhindern hätte können?
Zuletzt hat er diesen Schulterschluss durchaus gesucht. Am
3. März gab es ein Treffen mit einem Arbeiterkomitee, geführt vom sozialdemokratischen Gewerkschafter Friedrich Hillegeist. Und am 7. März fand die berühmte Konferenz von sozialdemokratischen Vertrauensleuten im Floridsdorfer Arbeiterheim statt, übrigens einem der Schauplätze der Kämpfe vom Februar 1934. Schuschnigg hatte den Eindruck, dass die Arbeiter trotz allem Misstrauen im Falle einer Volksabstimmung mit "Ja" stimmen würden, also für Österreich und die Unabhängigkeit, deshalb hat er sich auch daran gewagt, eine solche Abstimmung zu verkünden. Es ist anzunehmen, dass diese Volksabstimmung, so wie Schuschnigg sie angelegt hatte - also unter demokratiepolitisch doch sehr zweifelhaften Umständen -, tatsächlich pro Österreich ausgegangen wäre. Ungefähr zwei Drittel hätten für Österreichs Unabhängigkeit gestimmt. In diese Richtungen jedenfalls gehen damalige plausible Schätzungen.
