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"Es ist schwer, ihre Blicke zu vergessen"

Von Christof Mackinger

Reflexionen
"Etwas zu sehen ist der erste Schritt . . .": Jo-Anne McArthur mit "Fanny".
© Farm Sanctuary

Die kanadische Fotografin Jo-Anne McArthur über den Einsatz von Bildern im Tierschutz, ihre Ansichten über Zoos - und warum sie Gnadenhöfe für Tiere bevorzugt.


"Wiener Zeitung": Warum rückt man als Fotojournalistin Tiere in den Fokus?

Jo-Anne McArthur: Nachdem ich lange Menschenrechts- und Reisegeschichten fotografiert habe, bin ich über das gestolpert, was ich die "unsichtbaren Tiere" nennen würde. Tiere, die trotz ihrer Masse in den Medien völlig unterrepräsentiert sind: Alle sehen gerne Bilder von süßen Haustieren, aber kaum jemand interessiert sich für die Schicksale von Schweinen in Kastenständen, Hühner in Käfigen oder für die anderen schrecklichen Dinge, die mit Tieren gemacht werden. Und als ich diese "unsichtbaren Tiere" einmal entdeckt hatte, wurde mir klar, dass es unendlich viele von ihnen zu fotografieren gibt; dass sie überall sind. Viele Fotografen nutzen ihre Kamera dazu, um Kunst zu machen oder ihre Neugierde zu befriedigen. Für mich ist sie eher ein Mittel, um die Welt zu verändern.

Können Bilder tatsächlich die Welt verändern?

Über die letzten 20 Jahre habe ich sehr viele Veränderungen beob-achtet, die durch Bilder angestoßen wurden. Meine Bilder wurden schon in so vielen Kampagnen von Tierschutzorganisationen benutzt, wie etwa in der Kampagne zum Vancouver Aquarium. Erst kürzlich wurde dort beschlossen, in Zukunft keine Wale und Delfine mehr zu halten. Es mag abgedroschen klingen, aber der Spruch "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte" stimmt einfach. Bilder können Emotionen extrem gut transportieren - und sie sind auch leichter vermittelbar als Texte. Dabei sind sie natürlich immer nur eine Möglichkeit von vielen, um einen Wandel herbeizuführen.

Im Unterschied zu den Sozialen Medien, wo heutzutage alles ex-trem schnell passiert, haben Fotos eine gewisse Beständigkeit. Fotos kann man in Büchern drucken, spätestens dann sind sie Dokumente der Zeitgeschichte.

In Ihrem aktuellen Buch, "Captive", geht es um Zoos und Aquarien. Warum?

Das Dasein von Tieren in Zoos und Aquarien ist in der Öffentlichkeit kaum Thema. Als Individuen sind die Tiere dort eigentlich unsichtbar, vielmehr werden sie als Repräsentanten ihrer Spezies ausgestellt - und sind damit völlig austauschbar. Dazu kommt, dass Zoos und Aquarien in der Regel Orte des Kommerzes sind. Die Tiere fungieren als Ausstellungsstücke, und ihr Wohl steht dabei nicht an vorderster Stelle - sonst wären sie ja auch nicht eingesperrt. Dasselbe gilt für Aqua-rien: Sie können unmöglich ein Ort sein, an dem sich Meerestiere wohlfühlen. Viele von ihnen, wie etwa Orcas, werden sogar in Freiheit gefangen. Zoos brüsten sich oft mit Auswilderungsprojekten. Ich würde aber gerne diese ganzen Zucht- und Wiederansiedelungsprojekte sehen, die es überall geben soll und die all das rechtfertigen; erfolgreiche gibt es jedenfalls sehr selten.

Müssen nicht Kinder reale Tiere sehen können, um ein Gefühl für Natur- und Tierschutz zu entwickeln?

Nachdem ich Monat um Monat Zoos besuche, muss ich sagen, dass Tiere dort einfach nur zur Schau gestellt werden, sie werden im wahrsten Sinne des Wortes objektiviert. Was man dort lernen kann, ist, dass Tiere für den menschlichen Nutzen da sind, für unsere Unterhaltung und unseren Spaß.

Stellen Sie sich einmal eine Minute etwa ein Gehege eines Gibbons vor - und schauen Sie ihm zu, wie er sich von Seil zu Seil hangelt, wie er klettert. Das ist wirklich beeindruckend! Aber wenn Sie ihm fünf Minuten zusehen, wird es bedrückend, und 20 Minuten sind einfach nur herzzerreißend. Die routinierten Bewegungen des Gibbons sind genauso wie jene von Elefanten oder anderen Tiere im Zoo - nämlich immer genau dieselben. Sie bewegen sich völlig sinnentleert und repetitiv. Jede Bewegung wirkt, als wüssten die Muskeln genau, was zu tun ist. Das hat nichts mit Entscheidungen zu tun, es ist einfach ein fixer Ablauf, Resultat des Eingesperrtseins. Ich bin der Meinung, dass Zoos die falschen Impulse in der Erziehung geben, wenn es um Mitgefühl, Respekt und Tierschutz geht.

Sie versuchen, "unsichtbare Tiere" sichtbar zu machen. Kann man mit einer Kamera alles sichtbar machen?

Das ist eine gute Frage. Im Zoo sehen wir einen Gorilla oder eine Giraffe. Was wir aber nicht sehen, ist, wie die Tiere aus ihrem Familienzusammenhang herausgerissen und wie sie zwischen Zoos gehandelt werden, oder wie manche dieser Tiere beim Transport sterben. Alles abseits des unmittelbar Sichtbaren fehlt auch in meinen Büchern, dabei gehört das eigentlich zum Geschäftsmodell Zoo dazu.

Was wäre Ihrer Meinung nach eine sinnvolle Perspektive für Zoos?

Zoos könnten sich ja auch verändern: Wenn verstorbene Tiere nicht automatisch durch neue ersetzt werden, wenn Zoos aufhören würden, Tiere zu züchten und zu handeln, wenn sie mehr Platz zur Verfügung stellen oder Tiere auch retten würden, dann wäre das etwas völlig anderes. Das wäre dann aber kein klassischer Zoo mehr, sondern ein Gnadenhof. Gnadenhöfe sind tatsächlich für Tiere da, während Zoos für Menschen betrieben werden.

Auf Ihren Bildern sieht man auch immer wieder Menschen, die Zoos besuchen. Warum?

In unserem Projekt "WeAnimals" geht es natürlich um Tiere, aber eben auch um uns Menschen, um unsere Interaktionen mit den Tieren. Warum gehen wir in den Zoo? Weil wir uns so sehr um die Umwelt sorgen? Die Entscheidung, in Zoos zu gehen, hat oft mit anderen Fragen zu tun, wie etwa "Was machen wir am Wochenende mit den Kindern?" oder "Wo treffen wir uns für ein Date?" Es geht also sehr viel auch um uns selbst.

Gab es Schicksale oder Begegnungen in Ihrer Arbeit, die Sie nicht vergessen können?

Oh ja, davon gab es viele! Ich habe einmal einen Bären fotografiert, der von einer Tierschutzorganisation aus einer Gallenbär-Farm in Kambodscha gerettet wurde. Dort wird den Bären für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) täglich Gallensaft abgezapft, ihnen wird dafür ein Katheter gelegt. Der Bär musste vier Jahre lang in einem winzigen Käfig leben. Irgendwann wurden ihm sogar die Pfoten abgeschnitten, für Bärenpfotensuppe. Das hat er alles überlebt - und heute befindet er sich auf einem Gnadenhof. Interessanterweise bleibt er fast immer im Innenbereich der Anlage, wo er lieber seine Zeit bei den Menschen verbringt als mit den anderen Bären draußen. Ich habe ihn dort getroffen und werde ihn einfach nie vergessen, weil er so ein einzigartiger Charakter ist.

Aber auch die vielen Schweine, die ich immer in Massentierhaltungen sehe, kann ich schwer vergessen. Das sind so unglaublich kluge Tiere. Es ist wirklich schwer, ihre Blicke zu vergessen.

Sie fotografieren auch in landwirtschaftlichen Betrieben?

Es gibt Millionen von Tieren in unglaublich beengten Zuständen. Die Betreiber sind bemüht, dass diese schmutzigen Orte voller Tierquälerei nicht gezeigt werden. Wenn sie bildlich dargestellt werden, dann meist falsch, wie Hühner und Kühe auf grünen Wiesen. Das hat rein gar nichts mit der Lebensrealität dieser Tiere zu tun. Ich gehe an diese Orte, um sie sichtbar zu machen. Etwas zu sehen ist der erste Schritt. Im besten Fall folgt dann das Mitgefühl, das eine Veränderung hervorbringt.

Ihre Arbeit ist emotional belastend. Wie gehen Sie damit um?

Ich mache meine Arbeit, um etwas zu verändern. Wenn man Unrecht, egal welcher Art, beobachtet, kann man besser damit umgehen, wenn man sich handlungsmächtig fühlt, anstatt in Schockstarre oder Depression zu verfallen. Obwohl das eigentlich eine ganz natürliche Reaktion wäre. Man muss natürlich irgendwie auch optimistisch bleiben, sonst ist man nicht fähig, diese Arbeit zu machen.

Aktuell arbeiten Sie am "Unbound Project". Worum geht es dabei?

Interessanterweise sind es überwiegend Frauen, die sich für Tierschutz und Tierrechte engagieren, 60 bis 80 Prozent. In den NGOs machen sie die Basisarbeit, während meist Männer in den repräsentativen Positionen sitzen. All diese Frauen arbeiten unermüdlich für Tierrechte als Juristinnen, Journalistinnen oder Tierärztinnen. In jedem Fall haben sie in dieser Welt schon viel für Tiere bewegt. Und genau diese Frauen will ich mit dem "Unbound Project" sichtbar machen - und ihre Arbeit würdigen.

Wen begleiten Sie da?

Eine der Frauen ist die ugandische Tierärztin Gladys Kalema-Zikusoka. Sie arbeitet im Süden Ugandas und ist spezialisiert auf dort lebende Gorillas. Sie hat mir vermittelt, dass es den Menschen vor Ort gut gehen muss, damit man die Gorillas schützen kann. Krankheiten übertragen sich nicht nur von Tieren auf Menschen, sondern auch umgekehrt. Daher brauchen zuerst die lokalen Einwohner sauberes Trinkwasser und gesundheitliche Versorgung, damit auch die Gorillas gesund leben können. Gladys Kalema-Zikusoka denkt in ihrer Arbeit alle Bereiche zusammen: das Soziale, den Umweltschutz und die Tierrechte - und sieht, dass diese nicht getrennt voneinander verhandelt werden können.

Jo-Anne McArthur ist Begründerin von "WeAnimals", einem Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Verhältnis der Menschen zu Tieren sichtbar zu machen. Die in Toronto/Kanada lebende Fotografin arbeitete u.a. für "National Geographic" oder das "Elle"-Modemagazin. Heute dokumentiert sie vor allem Tiere in Gefangenschaft und wurde dafür 2017 mit dem Publikumspreis des "Wildlife Photographer of the Year" ausgezeichnet, dem renommiertesten Naturfotowettbewerb der Welt.

Christof Mackinger ist Politikwissenschafter und freier Journalist in Wien.