Als Sie und Ihre Freunde erstmals mit dem Konzept der "Contemplative Care", des "Besinnlichen Kümmerns" um Sterbende auftraten, war der Mainstream noch skeptisch gegenüber Ihrer Arbeit. Heute sind Sie ein internationaler Bestsellerautor und halten weltweit Vorträge in renommierten medizinischen Institutionen. Was hat sich an der Wahrnehmung der Sterbebegleitung seither geändert?

Wir sind als Gesellschaft offener geworden, was das Reden über den Tod angeht. Es gibt mehr Literatur übers Sterben, und anders als damals gelten Hospize heute überall auf der Welt als akzeptierte Verlängerung der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Dazu kommt, dass in manchen US-Bundesstaaten und in vielen Ländern der Welt Sterbehilfe heute legal ist. Aber die vorherrschende Meinung ist immer noch, dass der Akt des Sterbens allem voran ein medizinisches Ereignis ist, bei dem es da-rum geht, das Beste aus einer schlimmen Situation zu machen.

Doch aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es immer noch viel zu viele Menschen gibt, die mit einem Gefühl der Verzweiflung, der Schuld und der Angst sterben. Das ist es, wo wir ansetzen sollten - und zwar nicht erst, wenn wir im Sterben liegen, sondern während wir leben. Genau das versuche ich in meinem Buch "Die fünf Einladungen" zu vermitteln: Es geht darum, sich bewusst mit dem Tod hinzusetzen, eine Tasse Tee mit ihm zu trinken und sich von ihm zu einem erfüllteren Leben führen zu lassen.

Eine Ihrer fünf Einladungen lautet: "Heiße alles willkommen, wehre nichts ab." Sie selbst haben öffentlich gesagt, dass diese Weisheit "auch auf einem Autopickerl Platz hätte". Warum führt gerade diese Einladung offenbar zu Missinterpretationen?

Das Wort "willkommen" bedeutet in dem Zusammenhang, dass wir allem, was passiert, zuerst einmal vorurteilsfrei begegnen sollten. Das heißt aber nicht, dass wir es deshalb mögen oder damit einverstanden sein müssen. Akzeptanz bedeutet nicht Resignation, sie bedeutet die Öffnung und Auslotung neuer Möglichkeiten. Der große afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin hat einmal geschrieben: "Nicht alles, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, kann geändert werden. Aber nichts kann geändert werden, wenn wir uns nicht damit auseinandersetzen." Darum geht’s.

Eine weitere Einladung lautet, "mitten im Chaos einen Ort der Ruhe zu finden", was im modernen Leben fast unmöglich geworden ist. Und das nicht nur, weil der Chef erwartet, dass jede E-Mail binnen 24 Stunden beantwortet wird . . .

Wir haben einen Fetisch daraus gemacht, rund um die Uhr beschäftigt zu sein. Aber weil wir Aktivität mit Produktivität verwechseln, sind wir zu Agenten unserer eigenen Erschöpfung geworden. Im Rahmen meiner Seminare für Pflegekräfte frage ich immer: "Was ist daran richtig, erschöpft zu sein?" Zuerst bestreiten die Teilnehmer, dass es Vorteile gäbe. Aber nach einer gewissen Zeit geben sie ehrliche Antworten: "Wenn die Leute glauben, dass ich hart arbeite, bekomme ich mehr Anerkennung." "Überarbeitet zu sein gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden." Manche geben sogar zu, dass sie es mitunter genießen, den Eindruck der Erschöpfung zu vermitteln, weil sie dann von ihren Mitmenschen Mitleid bekommen, - was auch nur eine andere Form der Liebe ist.

Manchmal kommt unsere Erschöpfung weniger davon, zu viel zu tun, sondern daher, es nicht bewusst und mit ganzem Herzen zu tun. Unter Menschen, bei denen Krebs diagnostiziert wird, gibt es ein allgemein bekanntes Phänomen, das man "insgeheime Dankbarkeit" nennt: Nachdem der erste Schock über die Diagnose abgeklungen ist, äußern viele der Pa-tienten, mit denen ich gearbeitet habe, Erleichterung, etwa nach dem Motto: "Jetzt habe ich endlich einen Grund, zu all dem Nein sagen zu können, das ich nicht will." Aber müssen wir wirklich erst sterben, bevor wir Frieden finden können? Die Ruhe kommt, wenn wir weniger tun und das dafür bewusster. Und wenn wir es nicht zulassen, dass die Dringlichkeit der Dinge ihre wahre Wichtigkeit überschattet.