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Die Übermutter

Von Martin Zinggl

Reflexionen

Robin Lim ist Hebamme aus Überzeugung. Seit Jahren hilft sie Müttern und Säuglingen in Indonesien.


Barfüßig huscht sie über den Fliesenboden, von Zimmer zu Zimmer. Robin Lim bewegt sich schnell, spricht schnell, handelt schnell. Wie jeden Tag tourt sie durch ihre Geburtsklinik auf der indonesischen Insel Bali. Heute etwas gemächlicher als sonst, weil ihr eine Gruppe Italiener folgt. Spender, die den Bau der "Bumi Sehat"-Klinik mitfinanziert und die weite Reise nach Indonesien angetreten haben, um sich von dem Ergebnis zu überzeugen. Zeitraubend, aber wichtig seien solche Besuche für sie, sagt Lim.

Eine Brise trägt den Duft von Orchideen, Ingwertee und Räucherstäbchen durch die offenen Gänge des zweistöckigen Gebäudes, das farbenfroh und hell ausgemalt wurde. Ein künstlich angelegter Bach und ein Brunnen vervollständigen den Eindruck, den Lim vermitteln möchte: Harmonie.

Sie führt die italienischen Besucher zu einer Hebamme, die eine Schwangere über Geburtsmöglichkeiten informiert. Daneben sitzt der werdende Vater, ein Moslem. Seine Frau ist Hindu. Das Paar lebt von der Hand in den Mund, die eigenen Familien unterstützen sie aufgrund des unterschiedlichen Glaubens nicht. Der Mann blickt verschreckt auf Fotos gebärender Frauen. Lim legt ihre Hand auf seine Schulter und flüstert ihm beruhigende Worte zu, bis er verlegen lächelt. Die Italiener strahlen, fotografieren Lim, bitten sie um Selfies und Autogramme.

Robin Lim versteht sich als Übermutter, die allen Schutzsuchenden helfen will – und muss. "Es steht in meiner Verantwortung", sagt die 61-jährige Amerikanerin mit philippinischen Wurzeln. Als Hebamme schenkt sie Leben und kämpft gegen den Tod – seit knapp zwei Jahrzehnten beweist sie, dass es möglich ist, die hohe Sterblichkeitsrate von Müttern und Säuglingen in Indone-sien zu senken.

Mit Erfolg, der sich allerdings auf Lims Kliniken beschränkt. Denn in Indonesien sterben 228 Mütter pro 100.000 Geburten sowie 25 Kinder pro 1000 Geburten. Im Vergleich dazu sind es in Österreich bei gleicher Anzahl von Geburten vier Mütter und drei Neugeborene. Aufgrund von Komplikationen in der Schwangerschaft oder während der Entbindung kommen weltweit rund eintausend Frauen um – täglich. "Junge, gesunde Menschen in der Blüte ihres Lebens, die das Natürlichste auf der Welt tun: ein Kind bekommen", seufzt Lim.

"Die Regierung versprach, dass niemand mehr bei der Geburt sterben darf", erzählt sie. "Seitdem setzen sich indonesische Hebammen nicht mehr gegen die Ärzte durch, die meinen, Kaiserschnitte seien der sicherere und einfachere Weg der Geburt, bei 16-jährigen Mädchen wie bei fünffachen Müttern. Dabei spucken Teenager ihre Babys aus wie Urin."

"Kinderkriegen ist zur Industrie geworden"

Offiziell beziffert die indonesische Regierung die Rate der Kaiserschnitte mit 15,3 Prozent, ideal nach der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. "Nach unseren Erhebungen sind es jedoch acht von zehn Frauen, die ihr Kind durch einen Kaiserschnitt zur Welt bringen", sagt Lim und berichtet von Legenden, die den indonesischen Frauen aufgebunden werden, etwa von platzenden Augäpfeln oder Erblindungen, wenn die Mütter zu hart pressen.

"Kinderkriegen ist zur Indus-trie geworden und kostet viel Geld, das die meisten Paare nicht haben. Wegen jeder Kleinigkeit werden Mütter im Spital behalten, nur um Profit zu machen. Ein bisschen Blut aus der Vagina bedeutet eine Woche Aufenthalt und bis zu zweihundert Dollar pro Tag." In Indonesien kostet eine gut behütete Geburt so viel wie ein Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Arbeiters.

Kommt das Kind also unter professionellen Standards zur Welt, steht eine arme Familie vor dem finanziellen Ruin. Günstigere Alternativen sind Krankenhäuser mit misslichen Zuständen und Hausgeburten. Auch Kaiserschnitte sind teuer, aber immerhin billiger als der Aufenthalt in einer Privatklinik, denn die Geburt verläuft schneller. "Als Hebammen wollen wir den natürlichen Prozess der Geburt beschützen und greifen nur zu technischen Mitteln, wenn es lebensbedrohlich wird", sagt Lim. Ihr Motto: Jede Mutter zählt.

Eine Italienerin fragt, ob Lim je daran gedacht hat, in Pension zu gehen. "Jeden Tag", antwortet sie, zieht die Ärmel ihres Shirts hoch. Blaue Flecken und Kratzspuren auf den Armen kommen zum Vorschein.
"Katzen?", fragt die Italienerin.

"Schlimmer", antwortet Lim, "gebärende Mütter, die kratzen, beißen und schlagen." Stolz zeigt sie die Wunden her. "Ich bin süchtig danach, von Hebammen, Müttern und Kindern umgeben zu sein."

Ein tragischer Zwischenfall machte aus Lim eine Hebamme und führte sie 1993 nach Indonesien. Zu Hause in den USA starb ihre Schwester während ihrer Schwangerschaft an einem Schlaganfall – und mit ihr das ungeborene Kind. Ausgerechnet in jenem Land, "das mehr Geld für Schwangerschaftstechnologien ausgibt als jeder andere Staat der Welt".

Lim suchte eine Auszeit und einen geeigneten Ort, um sich zu sammeln und ihrem Leben einen neuen Inhalt zu geben. Sie fand ihn auf Bali, wo sie mit ihrem Mann und den gemeinsamen sechs Kindern hinzog.

Dort wurde sie mit ihrem siebenten und damit vorletzten Kind schwanger und lernte die Kliniken kennen, in denen arme Indonesierinnen gebären müssen. "Wird eine Frau hier schwanger, erhöht sich im folgenden Jahr ihr Risiko zu sterben um das Dreihundertfache. Oftmals aufgrund von Blutungen nach der Geburt."

Wer Geld hat, kann dem vorbeugen und leistet sich einen guten medizinischen Service. Arme Familien haben dieses Privileg nicht. Auch werden den Müttern die Neugeborenen bei der Geburt weggenommen, bis sie ihre Spitalsrechnungen bezahlen.

Lim entschied sich für eine Hausgeburt und löste damit Interesse und einen Hilferuf unter den Schwangeren in der Nachbarschaft aus. Sie erlernte den Beruf einer Hebamme und gründete "Bumi Sehat" ("Gesunde Mutter Erde"), eine Stiftung, die kostenlose und sichere Geburtshilfe ermöglicht. Zunächst boten Lim und ihr Team aus fünf Hebammen Hausgeburten an, 2003 errichtete sie eine Klinik. Von Bali aus wuchs die Organisation, öffnete Zweigstellen in Aceh nach dem Tsunami, im erdbebenzerstörten Haiti sowie auf den Philippinen, nachdem Taifun Haiyan über den Inselstaat getobt war. Demnächst gibt es auch eine Zweigstelle in Indonesiens ärmster Provinz Westpapua. Mehr als 300.000 Patientinnen hat Lims Organisation bereits geholfen, rund 8000 Kinder entbunden.

Klinik in Bali

Für ihren Einsatz würdigte sie der amerikanische Fernsehsender CNN mit der Auszeichnung "Hero Of The Year". Von dem Preisgeld baute sie die "Bumi Sehat"-Klinik in Bali, die in Ubud, im kühlen Hochland, liegt. Ein ruhiger Vorort der Touristenmetropole, mit Einfamilienhäusern, Tempeln und einem Fußballplatz direkt vor der Klinik, auf dem Kinder aus der Nachbarschaft ihre Drachen steigen lassen. 69 Frauen arbeiten dort: Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Putzhilfen und freiwillige Mitarbeiterinnen. Mit Männern arbeitet Lim nicht – aus Prinzip.

Als Lim und die italienischen Spender die Wartehalle betreten, herrscht Freude und Chaos wie auf einem indonesischen Jahrmarkt. Die einzige Attraktion jedoch ist die Übermutter selbst. Wie von einem Magneten angezogen bewegen sich die Menschen auf sie zu. Kinder laufen, gefolgt von Vätern, die versuchen, ihre Kleinen einzufangen, Schwangere, die sich gerade noch dehnten und streckten, und Mütter, in ihren Armen den eigenen Säugling: rot und zerknautscht von der Geburt. Alle haben das gleiche Ziel, die Frau mit den schwarzbraunen Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichen. "Ibu", rufen sie, Indonesisch für "Mutter". "Ibu Robin!"

Zur Begrüßung umarmt Lim jeden, der ihr über den Weg läuft. Sie tätschelt Bäuche und Rücken, streichelt Kinderköpfe, fragt Mütter, wie es ihnen geht, und nimmt kleine Geschenke entgegen. Spricht sie, schweigen alle. Dazwischen lacht sie, sodass sich feine Falten um ihre Augen bilden.

Ständig wiederholt sie einen Satz, beendet damit jedes Gespräch, bevor sie Küsse an ihr Gegenüber verteilt – an Frauen und Männer genauso wie an Kinder, vor allem aber an Neugeborene. Ein Satz, der ihr so problemlos von den Lippen geht, wie Gläubigen das Amen im Gebet: "I love you." Ihre Religion heißt Nächstenliebe. Aber auch Lims Liebe hat Grenzen, etwa wohlhabenden Ausländern gegenüber.

"Europäer denken oft, dass sie bei uns eine Sonderbehandlung bekommen. Das ist Quatsch, wir behandeln alle Patienten gleich. Aber wir bitten alle, die Geld haben, um eine großzügige Spende, um die Armen zu subventionieren." Kürzlich lag eine Französin sechs Tage und Nächte in den Wehen. Nach der Entbindung verschwand das Paar, ohne eine Spende zu geben. Lim kontaktierte sie und bat höflich um einen Beitrag. Sie spendeten vierzig Dollar. Lim rollt mit den Augen und seufzt: "Es kostet uns über eintausend Dollar pro Tag pro Patientin. Ich muss dieses Geld auftreiben, Tag für Tag, damit wir hier kostenlosen Service anbieten können. Wenn sie das nicht verstehen, leben sie in spiritueller Armut."

Hausgeburt für Reiche

Braucht Lim Geld, um ihre Klinik zu erhalten, wendet sie sich an "Nervensägen", wie sie uns Reporter bezeichnet. Sie gibt Interviews, lässt sich fotografieren und redet in Talkshows. "Lange habe ich die Medien gemieden, aber wenn ich im Fernsehen auftrete, spenden die Menschen und wir können unsere Arbeit fortführen."

Oder sie macht Hausgeburten für reiche Leute in Bali und kassiert mehrere Tausend Dollar dafür. "Es ist doch einfacher, in der Klinik zu gebären. Aber ja, bei Hausgeburten können sie in der eigenen Badewanne eine Wassergeburt haben, das ist bei uns gesetzlich verboten. Dafür sollen sie zahlen."

Lims Smartphone, verpackt in einer pinkfarbenen Hülle, klingelt. "Wartet kurz", sagt sie und nimmt den Anruf entgegen. Eine aufgeregte Männerstimme. Besonnen, aber kurz angebunden, antwortet sie: "Schaffst du es, deine Frau herzubringen, oder sollen wir eine Ambulanz schicken?" Während sie spricht, schweifen ihre Blicke über den Boden und entdecken einen klebrigen Fleck, kaum größer als ein Kinderfuß. "Könnt ihr das in Ordnung bringen", sagt sie zu dem Personal in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet.

Ihre Erstgeborene Déjà, die zur Welt kam, als Lim selbst noch ein Teenager war, bezeichnete ihre Mutter einst als "Guerilla-Hebamme". Ein Spitzname, den Lim akzeptiert und der sie am besten beschreibt. Die Mutter als "Kriegerin".

In einer heißen Sommernacht weckte sie ein Notruf. Lim schlief nackt, schnappte sich ein Shirt ihres Mannes und eilte in die Klinik, um zwei Menschenleben zu retten. Erst als ihr jemand einen Sarong um die Hüften wickelte, merkte sie, dass sie unten herum unbekleidet war. Seitdem schläft sie im Nachthemd. Ein anderes Mal brachte Lim sechs Kinder innerhalb einer Stunde zur Welt. Alleine, dazu noch mit rudimentären Kenntnissen der Landessprache. "In dieser Nacht habe ich alles gelernt", sagt sie.

Es sind Erfolgsgeschichten wie diese, die sie an ihre Arbeit glauben lassen. Ihre Geschichten enden meist damit, dass die Babys – entgegen aller Erwartungen und Prognosen – gesund zur Welt kommen und zu wundervollen Wesen heranwachsen. Diesen Optimismus schöpft sie aus ihrem Vorbild, der philippinischen Großmutter. "Sie war eine traditionelle Heilerin und Hebamme. Ich wollte immer so werden wie sie."

Sanfter Start ins Leben

Geht es um Mütter und Kinder, schreckt Lim vor nichts zurück. Einmal feuerte sie eine Hebamme einer hohen Kaste, die eine bitterarme Patientin geohrfeigt hatte. Lim fischte in ihren Taschen nach Geld und sagte zu der Hebamme: "Da hast du dein Monatsgehalt. Ich will dich nie wieder sehen. Geh!"

Weiter zieht die Gruppe zu Bumi Sehats neuestem Bewohner: Baby Rey wurde erst vor wenigen Stunden geboren. Seine Mutter wiegt den Kleinen, eingehüllt in ein Tuch, in ihren Armen. "Jeder Mensch verdient eine sanfte Geburt ohne Traumata", sagt Lim.

Für die Übermutter ist das nicht nur die Philosophie ihres Lebenswerks, sondern der Schlüssel, um die Welt zu retten. Ein sanfter Start ins Leben schaffe die Basis für Liebe und Vertrauen. Geburten, wie sie momentan auf der Welt erfolgen, bezeichnet sie als Katastrophe. "Eine gesunde Gesellschaft baut auf liebende und vertrauenswürdige Indivi- duen. Wenn wir überleben und in Frieden leben wollen, brauchen wir mehr Menschen, die ohne Traumata geboren werden."

Neben den grellen Lichtern, lauten Geräuschen und Menschen in Schutzmasken im Kreißsaal ist eines dieser Traumata – und damit für Lim ein Verbrechen gegen die Menschheit – das frühe Durchtrennen der Nabelschnur.

Tägliches Mantra

"Bei uns bleibt das Neugeborene drei Stunden mit der Plazenta verbunden, während die Mutter stillt und enger Hautkontakt besteht. Erst dann kann man sicher sein, dass all das sauerstoff- und eisenreiche Blut an das Kind weitergegeben und damit das Risiko einer leichten Behinderung vermieden wird." Diese Verbundenheit zwischen Mutter und Kind predigt Lim als ihr tägliches Mantra.

"Ibu Robin?", wispert eine junge Indonesierin und streckt ihr ein Buch entgegen. Es ist eines von Lims ersten Werken, "Plazenta, das vergessene Chakra". Sofort wendet sie sich der Frau zu, um das Buch zu signieren. "I love you!"

Tausende Male bereits hat sie darüber gesprochen und Vorträge gehalten, auch wenn das der gängigen Meinung der Mediziner widerspricht, dass nach dem Abebben des pulsierenden Schlags der Nabelschnur kein Blut mehr zugeführt wird – in der Regel nach zwei bis vier Minuten. "In Bali glaubt man: Die Mutter ist der Baum, die Nabelschnur die Wurzel und das Baby die Frucht. Das durchtrennt man nicht, sondern wartet, bis es sich von alleine löst, sonst ist die Frucht unvollständig. Auch meine Nabelschnur wurde sofort durchtrennt, und ich bin mir sicher, dass ich nicht über die mentale Kapazität verfüge, die ich haben könnte."

Heißt das für sie, dass jeder Mensch traumatisiert ist, dessen Nabelschnur zu früh gekappt wurde?

"Sieh nur, wie schlecht die Welt ist", antwortet sie. "Meinst du, Donald Trump hatte eine angenehme Geburt?"

Martin Zinggl, geboren 1983 in Wien, ist Autor und Fotograf. Zuletzt von ihm erschienen: die "Lesereisen"-Bücher "Nepal" und "Lissabon" (beide im Picus Verlag).