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Bollwerk gegen die Tristesse

Von Martin Zinggl

Reflexionen
Immer im Einsatz - und das seit 15 Jahren: Tatiana Badan, die parteilose Bürgermeisterin.
© Zinggl

Selemet ist ein Dorf in Moldau: verlassen, verfallen, vergessen. Dass nicht alle Hoffnung schwindet, dafür sorgt eine resolute Frau - die Bürgermeisterin.


Schon früh am Morgen füllt sich Selemet mit dem blumig-süßen Duft der Akazien. Darunter mischt sich das Parfüm einer Frau, die in schwarzem Kostüm und auf Hackenschuhen über die holprige Dorfstraße stöckelt. Weinroter Pagenkopf, weinrote Lippen, weinrote Fingernägel, die gepflegte Arbeiterhände zieren, Oberarme wie die aller Frauen hier, die neben ihrer Hausarbeit auch Felder bestellen. Tatiana Badan ist eine starke Frau, in jeder Hinsicht. Stolz trägt sie die moldauischen Farben auf ihrer linken Brust, ein Anstecker in Flaggenform, auf dem "Primarul" geschrieben steht: "Bürgermeister".

Stolze Amtsträgerin . . .
© Zinggl

Weit und breit ist niemand zu sehen, nur ein paar Gänse überqueren schnatternd die Straße, ohne Angst, überfahren zu werden. Badan deutet zu ihrer Linken auf eine Ruine, die Fenster verriegelt, der Garten von mannshohem Unkraut überwuchert, an der Tür rostet ein Vorhängeschloss: "Hier lebte einmal eine vierköpfige Familie, heute hat sie sich über ganz Europa verstreut, nach Portugal, in die Ukraine, nach Russland."

Parteilose Optimistin

Ein paar Schritte weiter zeigt sie auf ein Haus, dessen bessere Zeiten offensichtlich länger zurückliegen: "Tragischer Fall", sagt sie. "Die Frau ging nach Italien, um zu putzen, und kehrte nie mehr heim. Seitdem trinkt sich ihr verlassener Mann zu Tode." Nicht weit davon: ein windschiefes Holzhaus. Verwitterte Fensterläden, gebrochene Zaunlatten, geborstene Scheiben. Davor ein Ziehbrunnen. Hundegebell. "Hier wohnen nur noch die Großeltern, ihre fünf Kinder leben längst im Ausland. Niemand kümmert sich um die Alten."

Sieben Kilometer könnte Tatiana Badan so weiter erzählen. So lang ist die Straße, die durch Selemet führt. Ein Viertel der 1600 Häuser steht leer. Auf den ersten Blick ein Ort, der für das Aussterben des Landes steht, auf den zweiten Blick aber ein Indiz dafür, dass noch nicht alles verloren ist.

Denn eine 53-jährige Bürgermeisterin versucht ihrem Dorf die Tristesse zu nehmen, indem sie es lebenswerter gestaltet und Heimatgefühle unter den Weggezogenen weckt, damit sie vielleicht eines Tages wieder zu Rückkehrern werden. Manch einer nennt sie Visionärin. "Optimistin", verbessert Badan und lächelt verlegen. Das Besondere an ihrer Position: Sie ist parteilos. Als unabhängige Politikerin umgeht sie damit zwar interne Querelen und bürokratischen Wahnsinn, erhält allerdings keine Rückendeckung, schon gar keine finanzielle, auch nicht vom Bezirk. Blauäugig fing sie an, Bittbriefe zu schreiben, an eine norwegische NGO, die schwedische Botschaft und eine amerikanische Hilfsorganisation. Als die ersten Spenden eintrudelten, investierte sie das Geld in Projekte, die Bildung, Infrastruktur und Wirtschaft in Selemet verbesserten. So macht sie das nun seit fünfzehn Jahren.

Aus einem Bauernhaus mit rissiger Fassade taucht der fünfjährige Eugen auf, daneben seine siebzigjährige Urgroßmutter Zinaida Coptu. Beide tragen ausgelatschte Sandalen und abgetragene Kleider: der Bursche einen schlabberigen Pullover, die Frau eine Kittelschürze mit Blümchenmuster, auf ihrem Kopf ein Wickeltuch. Nur ein Schneidezahn ist ihr geblieben, der immer wieder zum Vorschein kommt, wenn sie das immerselbe Wort wiederholt: "schlecht".

Gesundheit? Familie? Geld? Wetter?

Alles schlecht!

Zinaida Coptu wünscht sich Regen, damit die Ernte nicht verdorrt. Und dass ihre Enkelin, Eugens Mutter, die in Chisinau lebt, öfters zu Besuch kommt. Einmal pro Monat nimmt diese den Bus aus der eineinhalb Stunden entfernten Hauptstadt, um ihr Kind zu sehen. Immerhin schicken Coptus Kinder aus Italien jeden Euro, den sie entbehren können. Der kleine Eugen kennt seine Großeltern nur vom Bildschirm.

"In Moldau bleiben nur die ganz Jungen und die ganz Alten zurück", sagt sie. "Wir haben nichts. Können Sie uns nicht etwas geben?" Badan sucht nach tröstenden Worten: "Wir haben noch ein paar Kinderklamotten im Amt, Geld haben wir selbst keines."

Strategischer Plan

Ein paar Kilometer weiter, im Dorfzentrum und Kern von Badans Reich, zeigt sich eine Gegenwelt: Die Straße wird asphaltiert, die Zäune strahlen grün, die Häuser sind keine zehn Jahre alt. So auch das Rathaus, darin ihr Büro, die Kantine, der Kindergarten, das Heim für Waisen und Kinder aus schwierigen Familien, die Zahnarztpraxis, der Fitnessraum. Ein Komplex fünf moderner Gebäude, ausgestattet mit Computer, Kranken- und Kinderbetten, Spielzeug, Rollstühlen. Umgeben von einem Garten mit gepflegten Blumenbeeten, Rasen und bemalten Bordsteinen, einem Spielplatz und Lauben, die Schatten spenden.

"Während andere Dörfer sich auf Straßenbeleuchtung konzentriert haben, ging es uns um Bildungs- und Sozialeinrichtungen", erzählt sie. "Erst dann kommt die Infrastruktur und zum Schluss die wirtschaftliche Entwicklung." All das läuft nach einem strategischen Plan, den Badan mit Hilfe der Sponsoren erstellt hat - und an dem sie eisern festhält.

Schräg gegenüber des Rathauses, zwischen Busstation und Dorfkneipe, glänzt ein nagelneues Spiegelglas-Gebäude in der Sonne. Jahrelang hatte die Polizei Frauen von der Straße verscheucht, die Gurken und Tomaten aus ihren Gärten feilboten. Badan schrieb an die Hilfsorganisation USAid und ließ mit der Spende eine überdachte Markthalle bauen. Seitdem sind Polizei wie Frauen zufrieden. Aus Nachbardörfern erreichen die Bürgermeisterin Glückwunschbekundungen, in denen auch Neid mitschwingt.

Am nächsten Tag feiert Selemet den Tag, der an den Sieg über Nazi-Deutschland erinnert. Hunderte scharen sich am Hauptplatz um das Siegerdenkmal: Dorfpfarrer, Zahnarzt, drei Männer mit Gewehren, Dutzende alte Bewohner und 267 Schüler der Grundschule, die vor wenigen Jahren noch von sieben Mal so vielen Kindern besucht wurde. Die Bürgermeisterin schüttelt Hände, verteilt Küsschen, legt ihren Arm um trauernde Frauen, die ihre Männer und Söhne in Kriegen verloren haben. Nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern in Afghanistan und der von Moldau abtrünnigen Republik Transnistrien.

Nach der Feier lädt sie in die Dorfkantine ein, ein weiteres Projekt Marke Badan. Jeden Tag wird dort für alte Männer und Frauen gekocht, für Waisen und Kinder aus armen Familien. Vierzig Personen bietet der gekachelte Raum Platz, in dem sich der Geruch von Putzmitteln mit dem von Hühnersuppe und Krautstrudel vermischt.

Reden als Erfolgsrezept

Heute sitzt Badan beim Mittagessen dem Weisenrat des Dorfes gegenüber: dem Pfarrer, dem Zahnarzt und dreizehn weiteren Männern, die ihr Löcher in den Bauch fragen, manche davon mit lauter Stimme. "Wann wird die Straße endlich fertig?", "Warum haben manche Häuser noch immer keinen Gasanschluss?", "Wovon sollen wir nur leben?"

Badan verbirgt ihre Anspannung hinter treuherzig-warmen Augen, bevor sie zu ihrer Geheimwaffe greift. Sie holt tief Luft und - redet. In einem Schwall, geziert von einem Lächeln. Im Kern wiederholt sie die immergleiche Antwort, formuliert sie um wie eine altgewitzte Politikerin, lässt keine Zwischenfragen zu - so lange, bis die Männer still sind. Das ist ihr Erfolgsrezept. Schweigen die Anwesenden, weil sie Badans kluge Argumente überzeugen, weil sie von der Frau genervt sind oder weil ihnen der Kopf dröhnt?

Jedenfalls funktioniert die Methode - seit fünfzehn Jahren. Denn Badan spricht nicht nur, sie handelt auch, sucht nicht nach Ausreden, sondern nach Lösungen. Und: Niemand lässt sich auf Diskussionen mit dieser Frau ein, zumindest nicht, wenn er an dem Tag noch etwas vorhat. Gekürzt sagen ihre Antworten:

Mit dem nächsten Geld machen wir die Straße fertig.

Das eine Ende des Dorfes hat kein Wasser, dafür Gas, am anderen Ende ist es umgekehrt. Wir können nur schrittweise vorankommen, mehr Geld haben wir nicht.

Zuerst Bildung und Infrastruktur, danach kümmern wir uns um das Einkommen. Bis dahin erntet, was ihr könnt, und verkauft es in der Markthalle.

Die Bürgermeisterin verdient 180 Euro monatlich. Es sind die Dorfbewohner und die starke Verbundenheit zur Heimat, die sie motivieren. "Mit meinem Gehalt kann ich kein richtig modernes Leben führen. Aber ich bin freiwillig angetreten und wurde gewählt. Ich schulde es den Männern und Frauen von Selemet, zu bleiben und meine Arbeit zu tun."

Jedoch kann sie den Wegzug ins Ausland nicht verhindern. Zu groß ist die Verlockung, zu gering sind die Chancen in Moldau. Mit einer akribisch geführten Datenbank lädt sie die Abwanderer ein, ihre in der Diaspora lebenden Kinder in Sommerlager nach Selemet zu schicken. Dabei soll den Kindern vor allem eingetrichtert werden, wo ihre Wurzeln liegen.

Vierfache Wiederwahl

Badans Tochter studiert in Amerika, ihr Sohn arbeitet in Chisinau. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt sie in einem Haus, das sich das Paar mit einer zweiten Familie teilt. Der Hühnerstall im Garten steht leer. Dafür parkt dort ein Traktor, den Badans Mann regelmäßig für seine Arbeit auf dem Feld nutzt.

Am Ende eines langen Tages schaufelt sie in ihrer Küche Bratkartoffeln in eine Schüssel. Weg sind die Hackenschuhe, weg das Kostüm, weg die Bürgermeisterin, zumindest äußerlich. Innerlich wird sie ihr Amt nicht los. "Ich bin zu neunzig Prozent meiner Arbeit verpflichtet." Dass sie nicht alle Sorgen ihrer Mitbürger bewältigen kann, kostet viel Kraft - und vor allem Zeit. Die Ehe hat darunter gelitten, auch die Beziehung zu ihren Kindern. "Ich wäre gerne wieder mehr daheim", sagt sie, "aber es gibt niemanden, der den Job übernehmen will."

"Margaret Thatcher", ruft ihr Mann Valentin aus dem Wohnzimmer, nicht nur, um sie zu ärgern. Er leidet unter dem Amt seiner Frau. Dass Badans Beliebtheit in Selemet nicht leidet, beweist ihre vierfache Wiederwahl. Immer wieder gewann sie mit nahezu einhundert Prozent der Stimmen. 2011 trat sie als einzige Kandidatin an. Ihren größten Gegner und Kritiker hatte sie zu Hause. "Da kann nur etwas faul sein", ruft Ehemann Valentin von nebenan und lacht. "Besser wir laden zur nächsten Wahl eine unabhängige Beobachterkommission ein." Hinter der Spüle lächelt die Bürgermeisterin kurz.

Martin Zinggl, geboren 1983 in Wien, ist Autor und Fotograf. Zuletzt von ihm erschienen: die "Lesereisen"-Bücher "Nepal" und "Lissabon" (Picus Verlag).